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Ausgabe:

1884 Nr. 10

Spalte:

247-250

Autor/Hrsg.:

Bergmann, Julius

Titel/Untertitel:

Ueber das Richtige 1884

Rezensent:

Herrmann, Wilhelm

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247

Theologifche Literaturzeitung. 1884. Nr. 10.

248

Bergmann, Prof. Dr. Jul., lieber das Richtige. Eine Er- ]
örterung der ethifchen Grundfragen. Berlin, Mittler j
& Sohn, 1884. (VI, 178 S. gr. 8.) M. 3. ob.

In diefer fcharffinnigen Unterfuchung der ethifchen !
Elementarbegriffe hellt der Verf. zunächft feft, dafs
wir unter Richtigkeit des Handelns ftets die Ueberein-
ftimmung desfelben mit dem Wollen verliehen, welches j
feine unmittelbare Urfache ift. Das Wollen im engeren I
Sinne wird dabei von dem blofsen Begehren durch die
Beftimmung unterfchieden, dafs es unfehlbar in That
übergehe, fobald die äufseren Bedingungen für das Eintreten
der That es geftatten. Unfere Beurtheilung bleibt
nun nicht bei der Handlung flehen, fondern erftreckt behauch
auf diefes Wollen felbft. Wir nennen dasfelbe richtig [
oder unrichtig, indem wir es mit einer aus einem be-
ftimmten Begehren entfpringenden Forderung vergleichen.
Aber auch diefes Begehren können wir wiederum nach
feiner Legitimation fragen, indem wir es als Product
eines Wollens anfehen und alsdann fein Verhältnifs zu
einem umfaffenderen Begehren in Betracht ziehen. Schliefs-
lich jedoch werden wir auf folche Weife zu einem Begehren
gelangen, welches kein weiteres Zurückgreifen zur
Feftflellung feines Werthes geblattet. Mit der Exiflenz i
des wollenden Individuums ift nämlich ein folches fouve-
ränes oder abfolutes Begehren gegeben, welches nicht I
nur mit einem beftimmten Zuftande desfelben verbunden
ift, fondern welches ihm deshalb eignet, weil es über- j
haupt als ein in eigenthümlicher Weife wollendes Sub-
ject exiftirt. Ohne die Annahme eines folchen abfoluten 1
Begehrens und eines ihm entfprechenden reinen Willensinhaltes
würde ein in feinen verfchiedenen Begehrungen
mit bch identifches Individuum überhaupt nicht gedacht
werden können. Offenbar ift dann dies abfolute Begehren
der Quell, aus welchem alle Forderungen, welche
wirklich an das Individuum ergehen, entfpringen; und ,
ebenfo ift es die Norm, nach welcher über die Richtig- |
keit des Wollens und der Handlungen fchliefslich ent-
fchieden wird. Dies, gilt nun nach des Verf.'s Anficht
auch in Bezug auf die bttlichen Forderungen. Woher !
man be auch immer ableiten mag, auf jeden Fall werden |
be erft dadurch wirkfame Gebote, dafs der Wille be, als i
in feinen eigenen Zielen begründet, bch aneignet. Da
wir von ihnen nicht loskommen, ohne uns felbft aufzugeben
, fo gehören be zu den Forderungen, welche aus
jenem abfoluten das lebendige Wefen felbft conftituiren- i
den Begehren direct hervorgehen. Diefen Urfprung haben
nun aber auch andere Forderungen, welche wir nicht
bttlich nennen. Auch die natürlichen Zwecke des Men-
fchen, foweit be unveränderlich find, beruhen auf jenem
Begehren und begründen die unbedingte Richtigkeit
ihnen entfprechender Handlungen. Das befondere j
Merkmal der bttlichen Forderung ergiebt bch daraus,
dafs be jedesmal den Vorrang vor jeder anderen bean-
fprucht: es ift ihre unendliche Wichtigkeit. Nur wenn I
wir unter den von unferer eigenen Exiflenz unabtrenn- I
baren Begehrungen folche hervorzuheben wiffen, welche
das Recht haben, vor allen anderen befriedigt zu werden, I
find wir auch im Stande, ein bttliches Leben von dem j
natürlichen zu unterfcheiden. Stellen wir uns nun auf j
den Standpunkt der bttlichen Reflexion, auf welchen
fchliefslich jeder, der ehrlich Rede und Antwort geben
will, gebracht werden kann, und vollziehen jene Unter- |
fcheidung, fo entfleht natürlich die Frage, worauf der |
unbedingte Vorzug einer beftimmten Gruppe von Be- j
gehrungen, die eigenthümliche Verbindlichkeit der bttlichen
Forderung beruhe. Vorzüglich ift dem Verf. der
Nachweis gelungen, dafs eine eudämoniftifche Ethik
fchlechterdings nicht im Stande ift, die Differenz zwifchen
einem bttlichen und einem nicht bttlichen Wollen zu bxi-
ren. Die Luft oder die Befriedigung des eigenen Begehrens
ift der natürliche Zweck jedes Wollens. Ein
folcher Zweck kann alfo offenbar nicht das Unterfchei-

dungsmerkmal eines beftimmten Wollens abgeben, dem
wir ein befonderes Recht im Vergleich mit allem anderen
beilegen. Sobald aber der Eudämonismus, wie es
der unwillkürliche Zwang bttlicher Rückbchten zu bewirken
pflegt, bch zu dem Satze drängen läfst, es fei
dem richtigen Begehren um eine beftimmte Art der
Glückfeligkeit zu thun (die der Vernunft entfprechende),
während ihm jede andere, deren das betreffende Subject
wohl fähig wäre, gleichgültig fei, fo zerftört er feine
eigene Grundlage. Denn er würde damit einen Beftand-
theil der Glückfeligkeit annehmen, der, ohne die anderen
in der Erzeugung des Luftquantums zu übertreffen,
doch werthvoller fein follte. Werthvoll fcheint mir auch
die Bemerkung zu fein, die eudämoniftifchen Theorien
irrten mit der Annahme, die Ziele des Wollens ent-
fprüngen fämmtlich aus dem Verlangen nach Luft. Denn
es ift richtig, wenn der Verf. dagegen fagt, auf ein ge-
wiffes Endziel gerichtet zu fein, fei für das Wollen die
Bedingung dafür, dafs es bch felbft als befriedigtes zum
Gegenftande haben, oder nach Luft verlangen könne. Dem
menfehlichen Willen mufs ein Inhalt eignen, der nicht erft
durch das Verlangen nach Luftbefriedigung hervorgebracht
wird, fondern demfelben feiner Natur nach zukommt
. Das Fehlen diefer Einbcht ift nun nach dem Verf.
der Grundmangel auch der Kantifchen Ethik. Kant be-
ftreite den Eudämonismus in der Ethik und befolge daneben
felbft die eudämoniftifche Pfychologie. Wenn man
aber einmal den falfchen Satz zugebe, dafs das Wollen
eines Zweckes nothwendig durch das Verlangen nach
eigener Luft motivirt, alfo egoiftifch fei, fo fei man auch
gezwungen, ,für die Ethik des wirklichen Handelns, welches
nach Zwecken vor bch gehe, den Eudämonismus
zu aeeeptiren. Kant bemühe bch umfonft, diefer Con-
fequenz zu entgehen, indem er als Inhalt der bttlichen
Forderung die blofse Form der Gefetzmäfsigkeit angebe
und die Behauptung hinzufüge, dafs die Vernunft diefes
Sittengefetz nicht durch ein Begehren, einen Trieb gebe,
wovon überhaupt nichts in ihr vorhanden fei. Der Verf.
bellt dem entgegen, dafs eine des Begehrens unfähige
Vernunft unmöglich etwas fordern könne und dafs, wenn
man auch diefen Einwand wolle fallen laffen, die Vernunft
doch nicht durch die Vorftellung der blofsen Form des
Gefetzes ein wirkliches Gefetz geben könne, fondern, um
ein folches zu geben, einen Zweck oder ein Syftem von
Zwecken aufftellen müffe. Wenn Kant fchliefslich erkläre,
das unverletzte Gefühl der Achtung, als das unbedingt
Werthvolle, fei der Zweck oder der Beftimmungsgrund
des bttlichen Wollens, fo müffe er nach feiner Pfychologie
das bttliche Wollen davon abhängig machen, das
das Bewufstfein, Achtung vor dem Gefetze gehegt zu
haben, als ein Angenehmes vorgeftellt werde. Ich leugne
nun durchaus nicht, dafs der Verf. hiermit wirklich vorhandene
Schwierigkeiten berührt. Ich beftreite aber, dafs
diefelben lediglich der Kantifchen Ivthik anhaften. Sie
bedrängen jede bttliche Ueberzeugung, fobald diefelbe
der vom Verf. befolgten Betrachtungsweifc unterzogen
wird. Der Verf. macht einmal die fehr richtige Bemerkung,
in der eudämoniftifchen Ethik herrfche die Neigung, die
Frage nach der Verbindlichkeit der Regeln in die ganz
andere Frage nach der Möglichkeit, dafs diefe Regeln
zu wirklichen Mächten ' werden, hinüberzufpiclen. Er
felbft fcheint mir aber, indem er Kant gegenüber
Stellung nimmt, in dasfelbe Verfahren zu gerathen.
Seine Einwürfe laffen bch in den Gedanken zufammen-
faffen, es fei nicht möglich, dafs ein Gefetz, welches
nichts weiter als das Allgemeingültige oder Noth-
wendige verlangt, eine Macht über den Willen werde,
welcher erfahrungsmäfsig für das Befondere intereffirt
fei. Damit Sittlichkeit zu Stande komme, müffe daher
die allgemeingültige Forderung des Gefetzes einen beftimmten
Inhalt tiaben, dem ein natürlicher Trieb des
vernünftigen Subjects entgegenkomme. Die Frage nach
der Verbindlichkeit des bttlichen Gefetzes kann und