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Ausgabe:

1884 Nr. 1

Spalte:

5-10

Autor/Hrsg.:

Nitzsch, Karl Wilhelm

Titel/Untertitel:

Geschichte des deutschen Volkes bis zum Augsburger Religionsfrieden. 1. Bd.: Geschichte des deutschen Volkes bis zum Ausgang der Ottonen 1884

Rezensent:

Mueller, Karl

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Theologifche Literaturzeitung. 1884. Nr. 1

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Athem gebracht wird. Mag es pedantifch erfcheinen,
fich über eine folche Aeufserlichkeit zu ereifern: gerade,
weil es eine folche ift und zwar eine leicht abzuftellende,
ift nicht abzufehen, warum ein Schriftfteller feinem Näch-
ften ohne Noth das Leben fauer machen follte.

Tübingen. E. Kautzfeh.

Nitzsch, Karl Wilh., Geschichte des deutschen Volkes bis
zum Augsburger Religionsfrieden. Nach deffen hinter-
laffenen Papieren und Vorlefungen hrsg. von Dr.
Georg Matthäi. (In 3 Bdn.) 1. Bd. A. u. d. T.:
Gefchichte des deutfehen Volkes bis zum Ausgang der
Ottonen. Leipzig, Duncker & Humblot, 1883. (XVIII,
372 S. gr. 8.) M. 7. 20.

Ich glaube mich kaum zu irren, wenn ich annehme,
dafs der Mehrzahl unferer Theologen die Arbeiten des
verewigten Karl Wilhelm Nitzfeh nur fehr fpärlich bekannt
geworden find. Begreiflicherweife, denn fie gehörten
, foweit fie das Mittelalter betrafen, wenigftens
ihrem Titel nach durchaus einem Gebiete an , von welchem
fich der Theologe meiftens dispenfirt weifs, dem
Gebiet der Rechts- und Wirthfchaftsgefchichte, und bewegten
fich auch hier theilweife in einem eng umgrenzten
localen Rahmen. Sie luden zudem grofsentheils durch
ihre Form nicht allzufehr zum Studium ein. Freilich
fand fich fchon in dem erften grofsen, auf die Gefchichte
des Mittelalters bezüglichen Werke diefes univerfalen
Hiftorikers, in der Schrift über Minifterialität und Bürgerthum
, eine Fülle von Forfchungen und Gefichtspunkten,
welche die Entftehungsgefchichte der mittelalterlichen
Gefellfchaft in ihrem engen Zufammenhang mit der Kirche
aufs originellfte beleuchteten. Allein das Buch hat fich
ja doch nur allmählich, ja faft erft im Verlauf von Jahrzehnten
Bahn gebrochen, und die übrigen Schriften und
Auffätze waren in der That meift einem Gebiete ent- I
nommen, das für Theologie und Kirchengefchichte kaum
in Betracht kam. Wer aber die eigenthümliche Art
Nitzfch's zu arbeiten, Refultate zu Richen und zu finden,
die allgemeinen unbewufsten und die individuellen frei j
fchöpferifchen Factoren der Entwicklung zu fcheiden
und in ihrer Wechfelwirkung gegen einander zu halten,
einmal kennen gelernt hatte, der mufste die Ueberzeug-
ung hegen, dafs diefe Art auch für kirchengefchichtliche
Forfchung von höchftem Intereffe fein müffe, dem drängte
fich der Wunfeh auf, ein umfaffendes Urtheil, eine all-
feitige Darlegung diefes Hiftorikers vor allen Dingen
über diejenigen Zeiten der mittelalterlichen Kirchengefchichte
Deutfchlands zu hören, da fich die eigenthümliche
Verbindung von Kirche und Gefellfchaft bildete,
da dann ferner die beiden Spitzen der mittelalterlichen
Welt, Kaiferthum und Papftthum, in Conflict gerathen
und in weltbewegendem Kampfe die Völker im Inneren
wie im Aeufseren fpalten.

Nitzfeh felbft war es nicht vergönnt, Hand an eine
umfaffende Darftellung der deutfehen Gefchichte, wie
er es gewünfeht, zu legen. Aber wie einer feiner Schüler,
Richard Rofenmund, dem verdorbenen Lehrer und
deffen gedämmten Schaffen und Wirken ein liebevolles
Denkmal gefetzt hat Tffeufsifche Jahrbücher, Bd. 48, Nr.
4 u. 5 und Bd. 49, Nr. 3 u. 4), fo hat jetzt ein anderer, Georg
Matthäi, fich der Aufgabe unterzogen, eine Gefchichte
des deutfehen Volkes aus Nitzfch's hinterlaffenen Papieren
und Vorlefungen zufammenzudellen. Er hat dazu die
einzelnen Blätter und Zettel benutzt, welche Nitzfeh
feinen Vorlefungen zu Grund zu legen pflegte, hat diefes
Gerippe dann ausgefüllt mit den Nachfchriften, welche
Zuhörer verfchiedener Jahre zur Verfügung dellten, fo-
wie mit den relativ wenigen zufammenhängenden Dar-
dellungen, die fich im Nachlafs des Verdorbenen vorfanden
. Die Arbeit der Redaction war alfo keine leichte.
Aber man kann dem Herausgeber die Anerkennung

nicht vertagen, dafs er feine Aufgabe in fehr gefchickter
Weife erfüllt habe. Kaum irgendwo erhält man den
Eindruck, dafs man es mit einem opus posthumum zu
thun habe, deffen Redaction noch foviel Arbeit erforderte.
Es erfcheint als Werk aus einem Gufs, ganz in dem
Geid gefchrieben, den man aus den von Nitzfeh felbd
veröffentlichten Arbeiten dardellenden Charakters kennt.
Nur den einen Wunfeh möchte man bei der Art, in
welcher fich das von Nitzfeh hinterlaffene Material vorfand
, äufsern, dafs man des Nähern unterrichtet worden
wäre über die Zeit, aus welcher feine eigenen Aufzeichnungen
oder die Nachfchriften der Schüler dämmen.
Gerade bei der Art, wie Nitzfch's Arbeiten entdanden,
bei feinem unabläffigen jahrelangen Ringen mit den
Quellen, ihrer Erklärung und Verarbeitung, wie mit der
Ausdrucksweife, bei feinem deten Fortfehreiten zu klarerer
und tieferer Faffung wäre es von Intereffe gewefen zu
fehen, welche verfchiedenen Schichten und wie diefelben
hier über einander und durch einander lagern.

Der erde Band, der bis jetzt allein vorliegt*), umfafst
die Anfänge deutfeher Gefchichte bis zum Ausgang der
Ottonen. Er beginnt mit einer Einleitung, welche in
hohem Grade charakteridifch für Nitzfch's Gefammtauf-
faffung de* Gefchichte überhaupt und befonders der
mittelalterlichen Quellen, aus des Verdorbenen eigener
Feder dämmt. Sie berührt fich freilich mit dem, was
fchon aus feinen früheren Arbeiten bekannt war; aber
fie durfte hier unter keinen Umdänden fehlen. Sie eröffnet
zugleich einen vollen Blick in die eigenthümliche
Stellung des Verfaffers unter den übrigen Hauptrichtungen
der heutigen Gefchichtsfchreibung.

Nitzfeh ficht in den beiden Hauptwerken über die
frühere Hälfte des deutfehen Mittelalters, in Waitz's
Deutfeher Verfaffungsgefchichte und G i e f e brech t's
Deutfeher Kaiferzeit die charakteridifchen Typen zweier
gegenwärtig herrfchenden Richtungen in der Gefchichtsfchreibung
: die eine hat es zu thun mit der Schilderung
der Zudände, die andere mit der Dardellung der einzelnen
Regierungen. Während man — das id feine Meinung
— aus der erderen die Anfchauung gewinnen könnte,
dafs man es in der Gefchichte lediglich mit einer unbewufsten
und in der Art von Naturvorgängen fich vollziehenden
Entwicklung zu thun habe, dafs von einer be-
wufsten Politik, von feden Verwaltungsgrundfätzen und
-Zielen bei allen jenen Herrfchergefchlechtern kaum
irgendwo die Rede fein könne, bringt die andere eine
Heroengedalt nach der andern, eine ununterbrochene
Dardellung perfönlicher Reibungen und Conflicte
und daneben die enthufiadifchen Schilderungen wunderbarer
unbedrittener Machtentfaltung. Dem gegenüber
id es Nitzfch's Bcdrcben, beide Factoren des gefchicht-
lichen Werdens in ihrer deten Wechfelwirkung zu erkennen
und zur Geltung zu bringen, den breiten
Strom unbewufster Kräfte und Leidenfchaften,' und daneben
die darke Hand frei und bewufst fchaffender Per-
fönlichkeiten, welche diefen Strom theils ausnützen, theils
weiter oder nach anderen, ihren und der Nation Zwecken
dienlichen, Richtungen zu lenken verdehen. Diefes Programm
id ja an fich keineswegs neu. Allein meines
Wiffens hat noch Niemand, vollends auf einem fo um-
faffenden Gebiet, wie hier, eine fo confequente Durchführung
unternommen. Und was Nitzfeh noch weiter
von anderen Verfuchen der Art unterfcheidet, das
id einmal der Gedanke, die Ziele der einzelnen Herrfcher
und ihrer hervorragendden Diener eben aus den allgemeinen
Verhältnifsen des nationalen Lebens und dem
Gang, den diefelben unter ihren Händen nehmen, zu
bedimmen, und fodann das Bemühen, diefen allgemeinen
Verhältnifsen vor allem nach der wirthfehaftlichen Seite
auf den Grund zu kommen, diefen im Culturlcben ohne-

*) Der zweite Band Ift inzwifchen gleichfalls zur Ausgabe gelangt.