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Ausgabe:

1884 Nr. 9

Spalte:

221-224

Autor/Hrsg.:

Deutsch, S. M.

Titel/Untertitel:

Peter Abälard, ein kritischer Theologe 1884

Rezensent:

Nitzsch, Friedrich August Berthold

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Theologifche Literaturzeitung. 1884. Nr. 9.

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mitgetheilt hat, findet fich ein jetzt 54 Hexameter umfallendes
Gedicht, deffen Anfang leider fehlt. Dasfelbe
bezieht fich unzweifelhaft auf einen römifchen Papft;
aber der Name desfelben ifl nicht genannt. De Roffi
hat diefes Gedicht zum Gegenfland eingehendfler Studien
gemacht und ift nach wiederholter Prüfung und nach
Erwägung fehr verfchiedener Möglichkeiten zu dem Er-
gebnifse gelangt, dafs das Gedicht aus dem 4. Jahrhundert
herrührt und fich nur auf den Papft Liberius beziehen
kann. Die Beweisführung ift m. E. eine gelungene;
aber für die berühmte Liberiusfrage fcheint mir das
Gedicht nichts auszutragen fanders de Roffi 47 sa-t
auch ,der Katholik1 1884 Januar S. 1—17); denn dafs
Liberius im 4. Jahrhundert als rechtgläubiger Papft gefeiert
worden ilt, will wenig befagen. Die betreffenden
Verfe lauten:

25 Electus fidei plcnus summusque sacerdos
Qui nivea mente imniaculatus papa scdercs
Qui hatte apostolicam doctrinam saneto doceres
Innocuam plcbem caelesti lege Magister.
Quis te {cod.: qui spe) tractante sua non peccata reflebat ?
30 In synodo cunetis superatis victor iniquis

Sacrilcgis Nicaena fides electa triumphat. etc. etc.
Die Orthodoxie des Liberius ift hier und im folgenden
emphatifch bezeugt; aber was will das gegenüber
den ausdrücklichen Gegenzeugnifsen des Hilarius, Athana-
fius und Hieronymus befagen? Dafs Liberius die 3. fir-
mifche Formel unterfchrieben hat, ift nicht zu leugnen.
Andererfeits wird man aber zugeftehen müffen, dafs nicht
jeder Bifchof verpflichtet war, fich auf den unbiblifchen
Wortlaut des Nicänums zu verfteifen und jede Formel,
die einen gewiffen Spielraum gewährte, zu verwerfen.
Liberius brauchte feine dogmatifche Ueberzeugung nicht
zu ändern, als er die 3. firmifche Formel unterfchrieb; er
brauchte nur feine Taktik zu ändern. Was für einen
Athanafius, einen Lucifer, einen Hilarius eine Verleugnung
war, brauchte es für einen Liberius nicht nothwendig zu
fein. Doch diefe ganze Frage ift für den proteftantifchen
Kirchenhiftoriker eine recht untergeordnete. Für den
Katholiken ilt fie namentlich feit dem Vaticanum freilich
wichtig genug. Um fo erfreulicher ift es zu fehen, wie
umfichtig und vorfichtig de Roffi in feiner Abhandlung
verfahren ift. Die $S I—VI find ein Mufter einer kriti-
fchen Unterfuchung. In der Vorrede und in der Schlufs-
bemerkung tritt es noch für jeden Lefer deutlich hervor,
wie lange de Roffi mit feinem Urtheil, dafs das Gedicht
fich auf Liberius beziehe, bei fich felber gezögert hat,
eben weil ihm diefes Urtheil ein fo weittragendes und
willkommenes fchien.

De Roffi hat im Cömeterium der Priscilla an der
Via Salaria, in welchem Liberius beigefetzt worden ift,
in jüngfter Zeit Nachgrabungen anftellen laffen, um vielleicht
ficheren Auffchlufs über den im Gedicht befunge-
nen Papft, etwa die Urfchrift des Gedichtes felbft — denn
es war wohl im Cömeterium eingemeifselt, wie die Dama-
fusinfehriften (der Cod. Corb. enthält als Itincrarium faft
durchweg Abfchriften von Infchriften) — zu erlangen.
Allein bisher find diefe Nachforfchungen ohne Erfolg
gewefen. —

Beiläufig fei noch bemerkt, dafs nach v. 5—24 Liberius
fchon als ,parvulus' Lector (f. Julian Apoft.),
dann Diakon und dann fofort Bifchof geworden ift. Alfo
wieder ein Beifpiel, dafs in Rom der (Archi-)Diakon in
der Regel der Nachfolger des Bifchofs gewefen ift.

Giefsen. Adolf Harnack.

Deutsch, Gymn.-Prof. Lic. S. M., Peter Abälard, ein

kritifcher Theologe des 12. Jahrhunderts. Leipzig,

Hirzel, 1883. (X, 482 S. gr. 8.) M. 7.-

Den Verf. hat, wie er im Vorwort fagt, zunächft die
Befchäftigung mit Bernhard von Clairvaux auf das Ver-
hältnifs desfelben zu Abälard und die Kataftrophe des

| letzteren geführt, deren äufseren Hergang er in der
' Schrift ,die Synode zu Sens 1141 und die Verurtheilung
i Abälards', Berl. 1880 (f. des Ref. Anzeige in dief. Zeitg.
1881, Nr. 10), genauer feftzuftellen gefucht hat. Von
einer Würdigung der gegen denfelben erhobenen Anklagen
hat er in der genannten Schrift abgefehen, da er
erkannte, dafs fie, wenn fie nicht oberflächlich ausfallen
folltc, zu einer Darfteilung der ganzen Theologie diefes
Mannes werden müfste. Eine folche giebt er nun hier,
und das von ihm Geleiftete ift eine fehr anerkennens-
werthe Ausfüllung vorhanden gewefener Lücken. Zwar
kann man nicht fügen, dafs Ab. feither in der neueren
theologifchen und philofophifchen Literatur vernachläffigt
worden fei; noch vor wenigen Jahren hat ihn Vacandard
wieder zum Gegenfland einer Monographie gemacht
(P. Abelard et sa lutte avec St. Bernard, sa doctrine, sa
mctlwde, Par. 1881); aber weder diefe, noch was fonft in
den letzten Jahrzehnten über ihn gefchrieben ift, hat zu
einem auch nur im Wefentlichen einhelligen Gefammt-
urtheil über feine Theologie geführt, und überdies fehlt
es nicht an zahlreichen unerledigten Specialfragen, welche
fein Leben, die Chronologie, das gegenfeitige Verhältnifs
| und den Text feiner Schriften, endlich feine Beantwortung
der theologifchenPrincipienfragenfowie feineFaffung
einzelner Hauptdogmen betreffen. Wir befitzen ja erfl
feit 1859 in der Gefammtausgabe Victor Coufin's eine
einigermafsen genügende Grundlage für das Studium
Abälards; felbft die umfaffendc Monographie Ch. de
R emufat's {Abelard, Par. 1845) ift in dogmengefchicht-
licher Hinficht ungenügend, und die verdienftlichen Abhandlungen
Goldhorn's und Bittcher's haben zwar zur
Löfung der biographifchen undbibliographifchenProbleme
Erhebliches beigetragen, aber noch keinen Abfchlufs gebracht
. Was endlich das Totalurtheil über Abälard's
Theologie anlangt, fo ift dasfelbe gerade in neuefter Zeit
bei H. Reuter (vgl. deffen Gefch. der rel. Aufklär. i. M.
A., L Bd., 1875) zwar entfehieden genug ausgefallen,
aber nicht fo, dafs alle Urtheilsfähigen ihm beitreten
mochten.

Deutfch's Hauptabficht war nun die Feltftellung
des Charakters diefer Theologie mit Berückfich-
tigung ihres Verhältnifses zu der der Zeitge-
noffen Abälard's und der Gefchichte der Theologie
überhaupt, befonders der Nachweis, dafs wir es
hier nicht, wie Reuter zu zeigen fuchte, mit einem in
der Hauptfache negativen, fondern mit einem zwar entfehieden
kritifchen, im innerften Grunde aber doch pofi-
tiven Theologen zu thun haben, und feine diefen Punkt
betreffenden Ergebnifse find weder unintereffant noch
unmotivirt. Ref. bekennt jedoch, dafs er weit mehr, als
in dem Verfuche, genau die allgemeine Zone zu be-
ftimmen, welcher die Aufklärungstheologie Abälard's zu-
zuweifen fei, in den neuen Detailunterfuchungen
felbft, welche Verf. in durchaus felbltfländi ger und fehr
gründlicher Weife angefleht hat und die ihn zu manchen
neuen Refultaten geführt haben, das eigentlich Werthvolle
feiner Leiftung erblickt. An vielen Stellen hat
derfelbe auf dem Wege einleuchtender Conjecturen den
überlieferten Text verbeffert und zwar auf dem Gründe
einer genauen Beobachtung fowohl des fonftigen abälar-
difchen Sprachgebrauchs, als auch des jedesmaligen Zu-
fammenhangs, und der philologifchen Akribie entfpricht
der dialektifch-dogmatifche Scharffinn des Verf.'s. Auch
feine Vergleichung abälardifcher Sätze mit den ent-
fprechenden Doctrinen fpäterer und früherer Theologen
und Philofophen verdient Lob und erfordert nur an einzelnen
Stellen Ergänzungen. So hätten z. B. bei der
Besprechung der Anficht 'Abälard's und Anderer über
die göttliche Vorherbeftimmung und die gefchöpfliche
Freiheit (S. 228 f.) die im ganzen Mittelalter fehr beachteten
betreffenden Erörterungen des Boethius, De conso/at.
philos. V, prosa 3—6, nicht unberückfichtigt bleiben follen
(vgl. F. Nitzfeh, Das Syftem des Boethius, S 75 f)