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Ausgabe: | 1884 Nr. 8 |
Spalte: | 203-205 |
Autor/Hrsg.: | Wirth, Zwingli |
Titel/Untertitel: | Alte Wahrheit für die neue Zeit 1884 |
Rezensent: | Meyer, Ernst Julius |
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203 Theologifche Literaturzeitung. 1884. Nr. 8. 204
das Factum fleht, welches für Gott das Vergeben möglich
gemacht hat, fondern den göttlichen Act der Vergebung
felbft, der das Mifstrauen des Sünders überwindet.
Ks ift werthvoll, fich klar zu machen, dafs dies fich
allerdings in der chrifllichen Gemeinde zu allgemeiner
Anerkennung bringen läfst. Denn alle die oft fo fchwie-
rigen Züge der überlieferten Verföhnungslehren find,
wenn fie etwas Anderes ausdrücken als dies, im Vergleiche
damit entbehrliche Arabesken. — Der Verf. betont
Ritfehl gegenüber mit grofsem Nachdruck, dafs er fich
in dem unmittelbaren Verkehr der Seele mit Gott durch
keine Anklage auf Myfticismus ftören laffe. Ich möchte
den Verf. auf eine Unterfcheidung aufmerkfam machen,
welche ihm bisher entgangen zu fein fcheint. Entweder
meint man den unmittelbaren Verkehr der Seele mit
Gott in Gefühlserregungen zu erleben, deren eigenthüm-
licher Charakter keine andere Deutung zulaffe. Das ift
myftifch, aber nicht chriftlich. Oder man ftellt fich die
Wirklichkeit eines folchen Verkehrs mit Gott durch ein
religiöfes Urtheil über die Erfahrungen feft, welche man
an der Offenbarung felbft und an den durch fie erhellten
inneren und äufseren Lebensführungen macht. Das
letztere wird als chriftlich durch das N. T. bezeugt und
Wort gefangene Gewiffen' aufgelöft wird in die ,felbft-
erkannte Wahrheit', in die ,freigewonnene Ucberzeugung',
und diefe als die ,einzige Autorität in Sachen der Religion
' proclamirt wird (S. 104) — ob bei folcher Verflüchtigung
des Evangeliums, bei folchem ausgefprochen-
ftenSubjectivismus, der feinen charakteriftifchen Ausdruck
auch in dem Satz findet: ,nicht gemeinfame Bekenntnifse,
fondern perfönliche Ueberzeugungen fchaffen eine lebendige
Kirche' (S. 246), noch von ,alter Wahrheit' die
Rede fein kann, das überlaffen wir dem Urtheil des
Lefers. Dafs bei folcher Sublimirung der chrifllichen
Heilswahrheit von pofitiv-chriftlichem Kern wenig genug
übrig bleibt, liegt auf der Hand; am unbefriedigendften
find begreiflicherweife auf folchem Standpunkte die Feft-
und Paffionspredigten. Der Zwiefpalt, der durch die
ganze Denkweife des Predigers hindurchgeht zwifchen
der jVerftändigen' und der ,frommen', der ,natürlichen'
und der ,religiöfen' Betrachtung, und den der Verf. felbft
wiederholt in kathedermäfsiger Weife vor der Gemeinde
entwickelt, tritt hier befonders zu Tage. Statt eines
vollen, freudigen Credo, eines feftlichen Bekenntnifses,
dem man das Paulinifche: .ich glaube' darum rede ich'
anhört, vernimmt man den mattherzigen Ton eines
wird von Luther fowohl wie von uns vertreten. Der kühlen, die Feftthatfache in Idee umfetzenden Doctri
Verf. irrt fich, wenn er meint, dafs man die Gefühlsfeite
der Religion zu kurz kommen laffe, wenn man fich gegen
Myftik und Pietismus im Wefentlichen ablehnend verhält
. Aber allerdings kann man wohl bei einem fenti-
mentalen Liede ungerührt bleiben, wenn man fich an
ernftere und vollere Klänge gewöhnt hat.
Marburg. Herrmann.
Wirth, Pfr. Zwingli, Alte Wahrheit für die neue Zeit.
Religiöfe Reden und Betrachtungen. St. Gallen, Wirth,
1883. Leipzig, Breitkopf & Härtel. (VII, 338 S. gr. 8.)
M. 4. —; geb. M. 5. 20.
,Alte Wahrheit für die neue Zeit' will der Verf. in
feinen Predigten bieten: gewifs das Ziel, nach dem alle
Prediger, foweit fie nicht in todtem Traditionalismus er-
ftarrt find, auf allen Standpunkten ehrlich ringen, und
in unfern Tagen mit befonderem Eifer, wenn auch mit
viel Reflexion und Tendenz. Aber fo fchr die Stimme
fich ,wandeln' mufs, mit der das unwandelbare Evangelium
zu jedem neuen Zeitalter zu reden hat, die erfte
Vorausfetzung ift doch, dafs wirklich die ,alte Wahrheit
' in ihrem unvergänglichen Kerne verkündigt wird.
Ob aber von einer folchen noch die Rede fein kann,
wenn, wie in den vorliegenden Predigten, das ganze
Chriftenthum auf die Verkündigung der Gottes- und
Bruderliebe (S. 183) befchränkt wird, während derGlaube
an die Perfon Chrifti als nicht ,zum urfprünglichen Programm
des Mcifters' (S. 182) gehörig angefehen, die
Sünde und Gnade aber, auf deren Balis das ganze
Chriftenleben ruht, wie Schleiermacher bekanntlich feine
ganze Glaubenslehre darauf, gegründet, nur als der Anfang
des chrifllichen Lebens betrachtet wird (S. 211);
wenn ferner der Tod Chrifti zu einem blofsen Märtyrertod
, ,zum leuchtendften Wahrzeichen der Begeifterung,
der Grundfätzlichkeit fr), der Ueberzeugungstreue, die
für einen grofsen, heiligen Zweck Alles thut und Alles
opfert' (S. 59) reducirt, und wenn die Thatfachc der
Auferftehung Chrifti geleugnet wird, demnach auch in
der Ofterpredigt weder von feiner, noch von unferer
Auferftehung die Rede ift; wenn in der Himmelfahrtspredigt
wohl der Frühling verherrlicht wird und in fehr
verfchwommencr Weife vom ,Himmel' die Rede ift, der
Gemeinde aber auch nicht entfernt ein Eindruck von
der unvergleichlichen Gröfse Chrifti des Verklärten und
feines Scheidens von der Erde gegeben wird; wenn
endlich, um mit diefem Moment zu fchliefsen, zu dem
wir jedoch noch verfchiedene andere hinzufügen könnten,
das ganze proteftantifche Schriftprincip, das ,in Gottes
närismus, der fich zuletzt in nebelhaften Allgemeinheiten
ergeht. Unter den Paffionspredigten ift befonders cha-
rakteriftifch eine Predigt über Judas Ifcharioth mit dem
Thema: ,die verlorenen Ideale' (S. 45 ff ), in welcher der
Verf. die fehr disputable Anficht Keim's über dies
fchwere pfychologifche Problem entwickelnd den Verrath
des Judas als einen Act verzweifelter Enttäufchung über
fein Meffiasideal: Chriftus als Volkstribun und Volksheld
darftellt, und in fehr unvermitteltem Uebergang an diefes
Exempel eines fehr verkehrten, fleifchlichen Idealismus,
deffen Preisgabe gerade die fittliche Rettung für Judas
gewefen wäre, die Mahnung knüpft, die .Ideale des
menfehlichen Lebens' feftzuhalten. Von der Macht der
Sünde, wie fie fich in dem inneren Gang des Judas bis
zur 'letzten Kataftrophe fo erfchütternd darftellt, von
feiner tiefen Schuld, die fich bei jeder unbefangenen
Betrachtung der Quellen ergiebt, wenn man darum auch
Judas nicht zu einem .Scheufal' macht, von dem fchwe-
ren Kreuz, das der Herr an diefem .verlorenen Kinde'
zu tragen hat, von Chriftus als dem Ideal aller Ideale,
in welchem jedes echte fittliche Ideal gerettet wird, enthält
die Predigt kein Wort; nirgends eine Erinnerung
an den Ernft und an die Tiefe der Paffion Chrifti! Die
Geftalt des Herrn tritt überhaupt in den Predigten faft
ganz in den Hintergrund, auch fein Vorbild, das doch
der Rationalismus in feinen befferen Vertretern mit
Wärme und Liebe gepredigt hat, wird nur feiten mit
Ernft und Nachdruck verkündet.
Die beften Predigten diefer Sammlung find noch
die Predigten über den Dekalog; in denfclben nimmt
der Verf. wiederholt den Anlauf, den ethifchen Gehalt
des Gefetzes zum Verftändnifs und zu fruchtbarer Anwendung
zu bringen, aber wird immer wieder an der
confequenten, eindringlichen Entwicklung der fittlichen
Wahrheiten gehindert durch die ihn völlig beherrfchende,
unglückliche Neigung zur Polemik, die beftändig gegen
die dogmatifchen ,Eiferer' eifert, auf das theologifche
.Buchftabengezänk' loszankt und fchilt, und dabei felbft
ftark dogmatifirt, wenn auch in negativer Richtung.
Die Sprache ift durchaus modern. Der Verf. hat
eine grofse Suade und viel formale Gewandtheit, ift
auch nicht ohne rednerifchen Schwung. Aber ent-
fprechend feiner ganzen Denkweife ift's nicht die Sprache
unmittelbarer religiöfer Empfindung, nicht die Sprache
der Bibel und des Volkes, die er redet, fondern die
Sprache der Reflexion, von des Gedankens Bläffe ftark
angekränkelt, mit viel Rhetorik verbrämt, dazu überreich
an Fremdwörtern, von denen der Verf. einen fo unge-
meffenen Gebrauch macht, wie kein anderer der neueren