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Ausgabe:

1883 Nr. 7

Spalte:

159-161

Autor/Hrsg.:

Raschig, Ed.

Titel/Untertitel:

Selbsterkenntnis nach wissenschaftlichen Prizipien 1883

Rezensent:

Rade, Martin

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159

Theologifche Literaturzeitung. 1883. Nr. 7.

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Raschig, Ed., Selbsterkenntnis nach wissenschaftlichen
Prinzipien, nebft einer offenen Frage an die Gebildeten
unterer Zeit. Leipzig, (J. A. Barth), 1882. (XVI, 132 S.
8.) M. 2. —

Von dem Inhalte diefes Büchleins in Kürze ein an-
fchauliches Bild zu geben, ift unmöglich, gefchweige denn
mit Zuftimmung und Widerfpruch dem Verfaffer in allem
gerecht zu werden. Alle Probleme, welche die Forderung:
Erkenne dich felbft! in fich begreift, werden angefafst
und das Geheimnifs unteres Ich mit den Schlüffeln des
Gegenfatzes und der Identität zu erfchliefsen unternommen
. Weder Hegel noch Schelling haben dabei den
Verfaffer direct beeinflufst, vielmehr mit Helmholtz,
Fechner, Dühring, Lotze, Kant hält er Fühlung. Sein
Intereffe ift ein ethifches, fein Arbeitszeug liefert ihm die
moderne empirifch-kritifche Philofophie. Grofse Fragen
beantwortet er mit einem kleinen Buche: auf 132 kleinen
Octavfeiten wird in etwa 50 kleinen Abfchnitten eine
neue Frkenntnifstheorie als genetifche Darfteilung des
Seelenlebens (Pfychogenefis), Metaphyfik, Religionsphilo-
fophie und Ethik gegeben. 26 ,Symbole' illuftriren den
an fich wohl lesbaren Text.

Der Verf. hat über 5 Jahre lang Theologie, Philofophie
und Mathematik (tudirt und feit 10 Jahren das
Leben. Der grofse Streit zwifchen Glauben und Witten
ift ihm zu Herzen gegangen, und er hat gefunden, dafs
fich derfelbe wefentlich gründet auf Mangel an Selbft-
erkenntnifs. ,Auf gründliche Selbfterkenntnifs hin eine
klare Entfcheidung in diefem Streite zu geben und zugleich
eine für die Menfchheit wichtige Frage vorläufig
aufzuftellen', ift der Zweck feiner Abhandlung. ,Die
unerfchütterliche Ueberzeugung, erkenntnifs-theoretifch
das Richtige getroffen zu haben', ermuthigt ihn zu feinem
Unternehmen.

In der That ift feine Erkenntnifslehre, welche den
Hauptbcftandtheil feines Büchleins ausmacht, von Intereffe.
Man hat Dank der pfychophyfifchen Grundlegung wiffen-
fchaftlichen Boden unter den Füfsen. Die Beurtheilung
diefer Partien mufs indefs Ref. Fachleuten überlaffen.
Nur kurze Andeutungen über den grofsen Inhalt. Die
eigentliche Genefis des Ich ift die Sinneswahrnehmung.
Die Form der Wahrnehmung ift der Gegenfatz.
Und zwar Gegenfatz zwifchen Subject, deffen Wefen
Concentration, und Object, welches als ein Ausgedehntes,
Zerftreutes dem Streben des Subjects nach Concentration
auf die Dauer Widerftand leiftet. Der fubjective Gegenfatz
oder das Ich fetzt fich aber nicht nur entgegen, es
Hellt auch einen Gleichgewichtspunkt der allfeitigen ob-
jectiven Einfluffe her. Diefer Gleichgewichts-, Wahr-
nehmungs- oder Erkenntnifspunkt, in welchen alle von
aufsen einftrömenden Kräfte geleitet, in welchem fie in
das ewige Wefen des Subjects umgefetzt werden, ift
die Seele. Die gefammte Geftaltung und Entwickelung
des Menfchen nach feinen fämmtlichen Organen wird
nun aus dem Erkenntnifspunkte heraus erklärt. — So
unbedingt die Form des Gegenfatzes Geltung hat für die
reine Wahrnehmung, tritt als Form der Erkenntnifs
vielmehr die Identität ein, als der Gegenfatz des Gegenfatzes
. Das Subject ift das aller Zerftreuung gegenüber
fich felbft erhaltende Princip, das principiell Identifche.
Es macht die Gegenftände, die es wahrnehmend von
fich trennte, zu Zielen feiner Beftrebungen, giebt ihnen
feine Form, und diefe extenfiv gerichtete Wirkung des
fubjectiven Gegenfatzes ift die Vorausfetzung. Ueber
den Wahrnehmungspunkt, welcher auf Gegenfetzung beruht
, fuhrt rückwärts nichts hinaus zu einer totaleren
Erfaffung der Gegenftände, d. i. zur Erkenntnifs, als
Vorausfetzung. Eine folche Vorausfetzung ift auch die
Form ,Gegenfatz', von welcher die Unterfuchung ausging,
,aber mit diefer einen Vorausfetzung ift auch alles gewonnen
'. Wo Erkenntnifs ftattfindet, mufs diefelbe durch
den Gegenfatz eingeleitet, durch Vorausfetzung und

I Identificirung gefchloffen werden. — Die Materie giebt
ihre Form in den Punkt der menfchlichen Anfchauung
ab, im Punkte verharrt diefe Form als Gefetz und geht
als Richtungsbeftimmung im Handeln wieder auf die
I Materie über. Das Handeln ift nichts anderes als ein
j Formgeben. Aus einer klaren und correcten Erkenntnifs
j entfpringt das Handeln mit urfprünglicher, unendlicher
j Energie von felbft hervor. — Das reale Subject ift weit
entfernt, das ideale Subject zu fein, welches die bisherige
Betrachtung vorausgefetzt hat, 1. weil es nicht eins,
fondern viele, 2. weil es nicht allfeitig, fondern einfeitig.
Die vielen realen Subjecte können fich in ihren Innen-
und Aufsenrichtungen ebenfo hemmen und ftören wie
wechfelfeitig fördern. Wäre diefe Vielheit von unbedingter
Geltung und beftändiger Dauer, fo wäre die
Herftellung des gedachten idealen Subjects unmöglich,
da doch die Vollendung desfelben für das reale Subject
Problem und Zielpunkt ift. Die ,perfönliche Unfterb-
lichkeit' ift denn auch ein aller Erfahrung und Vorausfetzung
widerfprechender Aberglaube. Das Geiftesleben
geht nun einmal auf in der gefetzmäfsigen Wechfel-
wirkung einer inneren, rein phyfifch geftalteten Kraft mit
den äufseren Einflüffen. Diefe aber ift mit dem Tode
unmöglich geworden.— Die Einheit von Gegenfatz
und Identität (Gleichgewicht) ift die Urform des
Seins, zugleich die allgemeinfte Form aller Gefetze und
j des Wiffens, ja des Wiffens einzige Möglichkeit. Damit
erhält der Monismus der modernen Naturwiffenfchaft
feine logifche Beftätigung. Und hier wiederfährt auch
der Gottesidee ihr Recht. Die Einheit von Gegenfatz
und Identität ift die gleichzeitige Form der Wahrheit und
der Gottesidee. In der Natur finden wir eine Gefetz-
mäfsigkeit, welche keineswegs unfer Werk, fondern
der wir unterthan find. ,Und die fichere Ueberzeugung
von diefem feit Ewigkeit beftehenden gefetzmäfsigen
Zufammenhange, ift fie etwas anderes als der Jahrtaufende
alte Glaube an einen Gott! Ja, fehen wir von der ab-
ftracten logifchen Form ab, welche uns foeben hierher
führte, erfüllen wir fie mit einem Blick in die glänzende
und leuchtende Wirklichkeit, in die von der Wärme der
Liebe und den fanften Impulfen edler Gefühle bewegte,
ewig junge Welt, fo werden wir mit Andacht erfüllt niederfallen
und mit dem Pfalmiften fingen: Gott Du bift unfere
Zuflucht . . . von Ewigkeit zu Ewigkeit! Die logifche
Wahrheit Gottes Gewifsheit, das unendliche
lebendige Sein, feine Wirklichkeit; was fragen
wir noch, ob Perfon oder nicht Perfon? O welch eine
Tiefe . . . Die Thoren fprechen in ihrem Herzen: es ift
I kein Gott'. — War bis zu diefem Punkte die Erörterung
ob auch fkizzenhaft, fo doch im Ganzen ruhig und ver-
I ftändig, fo wird fie von jetzt ab phantaftifch. Alle
Nüchternheit feiner philofophifchen Schule vergifst der
Verf., conftruirt und fpeculirt kühn und unbekümmert
um tiefere Begründung. Selbft wenn feine erkenntnifs-
theoretifche Vorausfetzung richtig ift, wie mag er fo
unvermittelt hinüberfpringen in die Sphäre des Religiös-
Sittlichen? Und dafs feine theologifchen Studien nicht
tief gewefen fein können, beweift fein § von D, Seite
über den ,Procefs der Religion. Chriftus und der Teufel
als Gegenfätze'. Wenn der Verf. ,feit zehn Jahren bemüht
war, jede und felbft die unfcheinbarfte Erfahrung
für das Allgemeine in feinem Sinne auszubeuten', fo
mag ja alles feiner Formel fich gefügt haben, wie eben
immer dem energifchen Willen der Speculativen die That-
fachen fich fügfam zu zeigen pflegen. Der Gegenftände,
die noch berührt werden, find überviele. Der Peffimismus
als der Krebsfehaden, die Peftbeule der Gegenwart wird
durch einen kräftigen Optimismus bekämpft. Glaube
und Wiffen find zwei entgegengefetzte, aber fich ergänzende
Erkenntnifswege: ,Die Religion ift die ontolo-
gifch-hiftorifche, das Wiffen die teleologifche Erkenntnifs'.
Wäre die Religion nicht überhaupt etwas ganz anderes
I als Erkenntnifs, fo würde vielmehr das Umgekehrte der