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Ausgabe:

1883 Nr. 6

Spalte:

126-127

Autor/Hrsg.:

Winter, Friedr. Jul.

Titel/Untertitel:

Studien zur Geschichte der christlichen Ethik. I. Bd. Die Ethik des Clemens von Alexandrien 1883

Rezensent:

Harnack, Adolf

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Theologifche Literaturzeitung. 1883. Nr. 6.

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remis1 (c. 29, 2), S. 49 über die Auferftehung ausführt
oder andeutet. Umgekehrt fcheint mir der Verf. in der
Umdeutung chriftlicher Lehren im Sinne des Minucius
hie und da etwas zu weit zu gehen. Der Ausdruck (c.
27, 7,: ,prout fides patientis adiuvat aut gratia curantis
adspirat ift vielleicht feinem Wortfinn nach vom Verf.
S. 37 f. richtig erklärt, aber er berechtigt doch, weiter zu
gehen. Aus c. 29, 2 sq. läfst fich nicht, wie der Verf.
annimmt, folgern, dafs die Chriftologie des Minucius
reiner Doketismus war; Chriftus felbft alfo lediglich
,spiritus, immortalis substantia, caelestis levitas1. Ift doch,
wie der Verf. fehr wohl weifs, in jedem Menfchen nach
diefer Philofophie ein rnvg = &eog. Wenn diefer bei
Chriftus ausfchliefslich hervorgehoben wird, fo folgt noch
nicht, dafs ihm die menfchliche Natur in jedem Sinn ab-
gefprochen wird. Sehr richtig bemerkt der Verf., dafs
auch die ,Brüdergemeinfchaft' für Minucius zunächft auf
dem fchöpfungsmäfsigen Naturgrunde, nicht auf dem
Boden des gemeinfamcn Heiles erwächft; aber in dem
Satze c. 31, 8): ,nos fratres vocamus, ut unius dei Pareiitis
homineS, ut consortes fidei, ut spei c'pheredes'
kommt doch ein entfcheidendes chriftliches Moment zum
Ausdruck, dem der Verf. nicht vollftändig gerecht geworden
ift. Indeffen ift auf alle diefe Punkte kein irgendwie
entfcheidendes Gewicht zu legen. Die Ausführungen
des Verf.'s find gerade in diefem wichtigften Capitel ganz
vorzügliche (f. über Gottesverehrung, notitia dei, fides,
iustitia, Sünde, Weltgericht, Auferftehung).

Die Schlufsbetrachtung (S. 58—69) fucht die gewonnenen
Ergebnifse zu vereinigen. Die Formel: ,das Chri-
ftenthum ruht (nach M.) feinem Wefen nach im Innern
des Menfchen und die Sünde — wenn überhaupt von
diefer zu reden — kommt in den Dämonen von aufsen'
— ift richtig, zeigt aber zugleich, dafs zwifchen Minucius
und den übrigen Apologeten kein Zwiefpalt herrfcht.
Das Chriftenthum ift die Aufklärung, die Enthüllung
einer in der Welt und im Menfchen liegenden Wahrheit,
die Entdeckung des einen Gottes aus dem aufgefchlag-
enen Buch der Schöpfung — indem die Offenbarung
die blöden Augen fehfähig macht, dürfen wir hinzufügen.
Die Philofophie hat den Apologeten nicht nur nicht zu einer
richtigen Auffaffung des Chriftenthums geführt, fondern
ihn fogar direct davon abgezogen. Gewifs, fo war es
immer, und der Verf. hat fich den Unterfchied, der
hier befteht, klarer gemacht als die Meiden, hat auch
den letzten Zweck der Apologie S. 66—69 richtig angegeben
.1) Um fo bedauerlicher id es, dafs er fich (S.
621.) von Keim zu einer Hypothefe hat verleiten laffen,
die, im gündigden Falle belanglos und undiscutirbar, die
Haltbarkeit des ganzen Gebäudes zu erfchüttern droht,
fobald fie erndhaft genommen wird. Der Verf. meint
nämlich, die .Lücken' des Chridenthums des Minucius
daraus erklären zu müffen, dafs derfelbe bei Abfaffung
des Dialogs noch ein Neubekehrter gewefen fei. Zum j
Glück hat der Verf. vom erden Blatte feiner Schrift an
foviele richtige .Erklärungen' beigebracht, dafs kein
verdändiger Lefer noch auf S. 62 nach einer neuen
Verlangen tragen wird, zumal nicht nach einer folchen,
die ihn auffordert, Alles, was er bisher gelefen, wieder
zu vergeffen. Der Verf. tritt mit diefer feiner Hypothefe,
die er in unbegreifiicher Blindheit noch aus Lactantius'
fnstit. V, 1 fich bedätigen läfst, geradezu in das Lager
feiner Gegner über, die diefe Conceffion auszubeuten |
nicht unterlaffen werden. Der überrafchte Lefer aber 1
wird fich an den ,Schlaf des guten Homer' erinnern und
die betreffenden Ausführungen als Contrebande eiligd
entfernen dürfen. In der That laffen fich die Zeilen
lückenlos aus dem Ganzen ausfcheiden. Das Chriden-
thum, welches Minucius zur Ausfage gebracht hat, id [

.

i) Auf einem Verfehen beruht es, wenn der Verf. beiläufig fagt, der
Dialog fei fpäteftens 175 niedergefchrieben worden (S. 68), da er felbft
Abhängigkeit von Theophilus nicht für iinwahrfcheinlich hält.

nicht das eines Neubekehrten — diefe Möglichkeit in
allen Ehren —■, fondern das eines philofophifch gebildeten
Römers. Ihm kommt in den Augen des Philo-
fophen der Werth zu, dafs es die höchden Ideale, welche
die alte Cultur damals befafs, der Sphäre des Wunfehes,
des Strebens und der Discuffion enthebt und fie in einer
neuen Gemeinfchaft der Menfchen verwirklicht. Diefe
Apologeten haben zu der chridlichen Botfchaft das Zutrauen
gehabt, dafs fie die Kraft fei, welche fie bisher
umfond gefucht. Alles Andere brachten fie felbd mit
und legten es in das Chridenthum herein; aber die
Kraft, ein neues Leben zu leben und feiig zu werden,
haben fie ihm entnommen. Das id eine Thatfache und
ein Räthfel zugleich. Von der Kraft ihrer Beweife haben
fie nicht gelebt, und auch jene Ueberzeugung, dafs die
chridliche Offenbarung alles Grofse und Gute unfehlbar
fichergedellt habe, id nur Folge und nicht Fundament.

Giefsen. Adolf H arn ack.

Winter, Pfr. Friedr. Jul., Studien zur Geschichte der christlichen
Ethik. 1. Bd.: Die Ethik des Clemens von Alexandrien
. Leipzig, Dörffling & Franke, 1882. (VII,
233 S. gr. 8.) M. 3. -
Eine felbdändig und fieifsig gearbeitete Schrift mit
guter Dispofition. Der Verf. hat den Stoff in 6 Capitel
eingetheilt und handelt 1) von den Quellen der fittlichen
Erkenntnifs, 2) vom Menfchen, 3; von der Idee des Guten,
4) von Tugend und Sünde, 5) von dem Gang der fittlichen
Entwickelung nach Clemens. Eine Ueberficht über
befondere fittliche Vorfchriften, wie fie diefer Kirchenvater
gegeben, bildet das Schlufscapitel. Der Verf. findet,
dafs Cognat den Clemens zu wenig als griechifchen
Philofophen und Merk ihn zu wenig als Chriften gewürdigt
hat. ,Das richtige Verftändnifs wird in der Mitte
liegen.' Aber fieht man genauer zu, fo hat fich der Verf.
doch felbft nicht an diefe Mitte halten können, vielmehr
den P h i 1 o f o p h e n Clemens in den Vordergrund gefchoben.
Dies wäre wohl in noch höherem Mafse gefchehen, wenn
der Verf. die Begriffe ,Chriftenthum' ,Anfchauung des
N. T.'s', mit denen er operirt, präcilirt hätte. Was man
fo oft tadeln mufs, das ift auch leider wieder an diefer
Unterfuchung in vollem Umfang zu tadeln, dafs nämlich
der Mafsftab ,Chriftenthum', der in der Unterfuchung angewendet
wird, ein ganz unfafsbarer ift. Der Verf. hätte
fich doch zuerft fragen müffen, wie war das Chriftenthum
befchaffen, welches für Clemens und feine Zeit gefchicht-
lich überhaupt allein in Betracht kommt. Welchen Werth
hat es denn, zu fagen, dort und dort ftimmt Clemens
mit der NTlichen Anfchauung oder dort und dort —
z. B. in der Auffaffung des Gefetzes nach dem Verf. (!)
— lehnen fich die Lehrbeftimmungen des Clemens an
die paulinifche Betrachtungsweife an, wenn zuvor nicht
ausgemacht ift, was für eine Art von Chriftenthum denn
überhaupt damals in den Gemeinden vorhanden und gültig
war? Man bemüht fich, feftzuftellen, was das gnoftifche,
das marcionitifche, das montaniftifche Chriftenthum gewefen
fei, aber in Bezug auf die Theologen, welche die
Tradition der katholifchen Kirche ausgezeichnet hat, operirt
man mit dem eigenen Begriff von Chriftenthum. Der
Verf. ift ein guter Proteftant, der an dem lutherifchen
Lebensideal fefthält; in Folge deffen gelte n ihm die Reffe
asketifcher Strenge bei Clemens im letzten Grunde als
Unchrillliches. ,Daneben finden wir aber einen Geift evan-
gelilchcr Freiheit und Milde, der ihn vor Anderen vor-
theilhaft auszeichnet.' Damit ift der gefchichtliche Sachverhalt
in aller Form auf den Kopf geffellt. Denn ,der
Geift evangelifcher Freiheit und Milde' ift in Wahrheit bei
Clemens nichts anderes als das antike Mafshalten; das
Chriftenthum aber, foweit es damals noch felbftändig
neben dem Hellenismus beftand, konnte dem Clemens
nur weltflüchtige Impulfe geben, woran fich der Verf. felbft
hie und da, aber nur beiläufig, erinnert. Damit ift die Frage,