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Ausgabe:

1883 Nr. 5

Spalte:

111-114

Autor/Hrsg.:

Wyneken, Ernst fr.

Titel/Untertitel:

Das Vater Unser als Inbegriff alles Gebets 1883

Rezensent:

Schlosser, Georg

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III

Theologifche Literaturzeitung. 1883. Nr. 5.

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anderwärtigen Verhältnifsen zu wenig vertraut. In diefem
Sinne foll fein Buch nur ein .Beitrag' zu der künftigen
allgemeinen Baftoraltheologie fein. Wir find doch der
Meinung, dafs eine folche beffer thäte, fich in ihrem
Stoff ftreng auf das ihr zukommende Gebiet zu be-
fchränken. Kennte der Verf. die neuere Literatur zur
praktifchen Theologie beffer (fie wird nur fporadifch
und ohne die nöthige Auswahl verwerthet, z. B. AI.
Schweizer ift, foviel ich fehe, nur S. 217, 1 einmal
citirt), fo würde er feinen Begriff von Paftoraltheologie
wohl felbft nicht mehr genügend befunden haben. Diefer
führt ja den ganz entfchiedenen Mifsftand mit fich, dafs,
weil er von fo vielen Dingen auf einmal zu reden geblattet
, keines derfelben wirklich gründlich zur Behandlung
kommt, abgefehen von den fpeciell zur Paftoraltheologie
gehörigen Gegenftänden (Seelforge, Verwaltung,
Privatleben). Man lefe z. B. den Abfchnitt über die
Predigt (S. 48—65), in welchem u. A. die Möglichkeit
textlofer Predigten zugegeben und altteft. Texte, mit ganz
äufserlichenGründen, empfohlen werden, oder denjenigen,
welcher von der Schulaufficht handelt (S. 448—465), und
man wird fich fagen müffen, dafs die meift ja ganz guten j
Bemerkungen doch auf ganz anderer, nämlich wiffen-
fchaftlicher, Grundlage zu ruhen haben, fo aber wie hier
■gänzlich in der Luft hängen. Ueberall ,das Wiffens-
würdigfte' geben, heifst fchliefslich das eigentliche Wiffen
ruiniren. Eine eigentliche praktifche Theologie als Wif-
fenfchaft wäre, wenn das Buch als Ganzes betrachtet
Sinn haben follte, nicht nöthig. Dies gilt namentlich
auch hinfichtlich der zahlreichen gefchichtlichen Partien
(z. B. zu Trauung, Begräbnifs), die eben doch nicht genügen
, fo viel Neues fie manchem Pfarrer auch bringen
mögen. Trotzdem liefse fich das Buch rechtfertigen,
wenn es etwas von derjenigen Eigenfchaft befäfse, welche
die Paftoraltheologie von Harms, obwohl fie wiffen-
fchaftlich nicht höher fteht, fo beliebt gemacht hat:
Originalität, Trifche, Lebendigkeit, befonders im Ausdruck
. Aber eben das fehlt durchaus. Abgefehen von
manchen Incorrectheiten des Stils herrfcht eine gewiffe
Alltäglichkeit, Selbftverftändlichkeit und langweilige Breite
im Gedankenausdruck. Diefe tritt namentlich in den mehr
perfönlichen Abfchnitten (Einleitung und Privatleben)
hervor. Die hier gegebenen Mahnungen find vielfach,
auch inhaltlich, nach Art eines Buches ,vom guten Ton'
und fo gehalten, dafs durch fie entweder dem Pfarrer-
ftande, den fich der Verf. — allerdings ,aus Erfahrung' —
als Lefer vorftellt, ein trauriges Zeugnifs hinfichtlich
feiner allgemein-menfchlichen Bildung ausgeftellt wird
oder diefelben als gänzlich überflüffig zu bezeichnen find.

Heidelberg. H. Baffermann.

Wyneken, Dir. Dr. Ernft Er., Das Vater Unser als Inbegriff

alles Gebets. Vortrag im Elvangelifchen Verein zu
Hannover, am 1. Februar 1882. Gotha, F. A. Perthes
, 1882. (42 S. gr. 8.) M. —. 80.

Der vorliegende Vortrag wünfcht zur Ausführung
und Verbreitung einer Auffaffung des Vaterunfers beizutragen
, die dem Verf. geradezu als deffen Grundauf-
faffung gilt. Es ift im wefentlichen die von Zezfchwitz
im II. Band feiner Katechetik vertretene; der Verf. aber
hat fie unabhängig von Z. gewonnen. Er fleht darin
eine Bürgfchaft, dafs fie nicht, ,wie man ihm wohl vorgeworfen
, eine künftliche fei, fondern vielmehr eine folche,
die fich auf's natürlichfte beim tieferen Eindringen ganz
von felbft ergiebt'. Andere Leute möchten daraus vielleicht
den entgegengefetzten Schlufs zu ziehen verfucht
fein. Dem Verf. ift es darum zu thun, das Vaterunfer
als den thatfächlichen Inbegriff alles Gebets zu er-
weifen, indem er 1. einen beftimmten lückenlofen Ge-
dankenzufammenhang aufzeigt, und 2. den Nachweis
führt, dafs darin alle Gebetsmöglichkeiten erfchöpft find.

Als letztere entwickelt er auf originelle Weife zwei: Das
allen Dank einfchliefsende Opfergebet, mit dem wir
unfere freie Unterordnung unter den heiligen Gefetzes-
willen Gottes bekennen, und das Bittgebet, mit welchem
wir die liebende Unterordnung Gottes unter den
eigenen Willen, wenn auch in tieffter Demuth, erftreben.
Diefe beiden Gebetsmöglichkeiten find aber in den beiden
Theilen des Vaterunfers fAnrede mit den drei erften
und den vier letzten Bitten) zum vollkommenften Ausdruck
gelangt.

Des Verf.'s befondere Auffaffung, um die es ihm
hier zu thun ift, geht nun dahin, dafs in diefen beiden
Seiten des Vaterunfers das I. und II. Hauptftück des
Katechismus zufammengefafst feien. Die Anrede ift die
Antwort auf das I. Gebot, die I. Bitte entfpricht dem
II. Gebot, die II. dem III. Gebot und in der III. Bitte
ift die Bereitwilligkeit zur Erfüllung der fogcnannten Gebote
der zweiten Tafel zufammengefafst. Die IV. Bitte
wiederum entfpricht dem I. Artikel, die V. Bitte dem
II. Art., die VI. und VII. dem III. Artikel.

Diefer Auffaffung liegt, wie erfichtlich, der recipirte
, Text des Vaterunfers zu Grunde, mir fcheint, beim gegenwärtigen
Stand der Frage, mit Recht. Weder äufsere,
noch innere Gründe entfcheiden in durchfchlagender
Weife gegen den Matthäustext. Allerdings flehen die
beiden Theile des Vaterunfers den inneren Gründen
gegenüber nicht gleich. Die VII. Bitte z. B. möchte ich
keineswegs miffen und ftimme dem Verf. durchaus darin
bei, dafs fie den Hauptgedanken enthält, zu welchem
die VI. Bitte nur den Vorderfatz bildet. Anders fcheint
es fich mir mit der III. Bitte zu verhalten. Sie nimmt
fich m. E. ganz wie eine erläuternde Wiederholung der
II. Bitte aus. Während bei der II. Bitte der Gedanke
an den Meffias, den Bringer des Gottesreiches, im Vordergrunde
fteht, was aus einer Vergleichung mit dem
Kaddifch, dem jüdifchen Vorbilde des Vaterunfers, ge-
wifs wird, kommt in der III. Bitte das Wefen des Gottesreiches
zum Ausdruck, als die Königsherrfchaft Gottes
mit der als Gegenfeite davon unzertrennlichen Bereitheit
der Reichsgenoffen zur Erfüllung feines Herrfcherwillens.
Jedenfalls geht es nicht an, die II. u. III. Bitte in der
Weife zu trennen, wie es der Verf. gethan hat. Es ge-
fchieht dies feiner befonderen Auffaffung zu Liebe, nach
welcher fich in der II. Bitte das III. Gebot finden mufs.
Die Künftelei, mit welcher das Refultat erreicht wird,
wird nur übertroffen durch feine Zwecklofigkeit. So geht
es durch die ganze Auslegung des V. U. hindurch.
Neben manch' fchönem und finnigem Gedanken, dem
man, foweit darin einfach das Verhältnifs des Sünders
zu der allein rettenden Gnade Gottes in Chrifto Jefu zum
Ausdruck kommt, freudig beipflichten kann, geht fo viel
Künftelei und Willkürlichkeit einher, dafs man zu keinem
reinen Genuffe gelangt. Der Verf. befitzt ein ganz be-
fonderes Gefchick, die einfachften Beziehungen zu verwirren
, um dann feine vermeintlichen Tiefen hineinzulegen
. Uebrigens verräth die ganze Conception feines
Grundgedankens, dafs hier der Schulmeifter dem Theologen
einen Streich gefpielt hat. Der Lehrer, der den
Katechismus tractirt, ift berechtigt, um des praktifchen
Zweckes willen folche Zufammenhänge herzuftellen. Es
ift praktifche Weisheit des Lehrers und des Predigers,
den Schülern und Zuhörern zu fagen: Was du im I. und
II. Hauptftiick lernft, das fafst fich im Gebet zufammen.
Dazu ift um fo mehr Berechtigung, wenn, wie bei der
I. Bitte und dem II. Gebot einerfeits und der IV. Bitte
und der Auslegung des I. Artikels andererfeits, wörtliche
Anklänge beliehen. Es ift auch Recht und Pflicht, darauf
aufmerkfam zu machen, dafs der Jahwe des Gefetzes
für die Chriften zum Gott-Vater wird. Ich will auch
nicht leugnen, dafs zwifchen dem I. und II. Gebot einerfeits
derfelbe Gedankenfortfehritt befteht, wie zwifchen
der Anrede des V. U. und der I. Bitte. Aber weiter zu
gehen halte ich felbft pädagogifch für nicht berechtigt.