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Ausgabe:

1883

Spalte:

89-90

Titel/Untertitel:

Die deutsche Universität Dorpat im Lichte der Geschichte und der Gegenwart 1883

Rezensent:

Harnack, Adolf

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Tüeologifche Literaturzeitung. 1883. Nr. 4.

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fcher Sprache, deutfcher Pocfie und deutfchcn Alter-
thümern, wie fie auch Freybe pflegt. Diefes Erziehungsferment
follte darum keinem Erzieher weder für die eigene
Bildung, noch für feine Berufsarbeit fehlen. Pfarrer zumal
follten wenigftens dilettantifch fo weit mit germa-
niftifchen Studien vertraut fein, dafs ihnen die Befchäftigung
mit den Denkmalen unferer Vergangenheit an der Hand
eines fo kundigen Führers keine Schwierigkeiten bereitet.
Auch unfere Theologie kann dabei nur gewinnen. Beginnt
doch z. B. die Dogmcngefchichte fchon längft,
lieh zu einer fo zu fagen kirchlichen Culturgefchichte zu erweitern
, die uns in des Volkes Art, in feinen focialen und
Rechtsverhältnifsen das Prisma kennen lehrt, in welchem
fleh das Licht göttlicher Wahrheit bricht. Nur die Kennt-
nifs diefer Factoren bewahrt uns davor, Ewiges mit Zeitlichem
zu vermifchen, und lehrt uns andererfeits, auch
in der Individualiflrung eine berechtigte Geftalt des
Ewigen zu erkennen. Gerade in diefer Beziehung bietet
Freybe's Chriftoforus ein fehr reichhaltiges Material.
Etwas zu kurz kommt dagegen darin eine Seite unferes
Volksgemüthes: deutfcher Humor, deutfcher Scherz und
Witz, in denen unfer Volk fo treuherzig naiv, fo fchalk-
haft, oft auch fo übermüthig und derb theils feinem
Kraftgefühl, theils feiner Lebensauffaffung Ausdruck
giebt, theils die Sonde der Wahrheit an die Dinge anlegt.
Es fehlt dies Element nicht ganz. In den Auszügen
aus Vridankes Bcfcheidenhcit, im Spiel vom verloren
Sohn, in der deutfehen ErfahrungsWeisheit find einzelne
Goldkörner folchen Humors enthalten. Aber zu einer
vollftändigen Charakteriftik der deutfehen Volksperfön-
lichkeit hätte es in breiteren Strichen und fatteren Farben
aufgetragen werden müffen, wozu dem Verf. das Material
nicht gemangelt haben würde. Doch foll diefe Aus-
Heilung dem Werthe des trefflichen Buches keinen Eintrag
thun.

Giefsen. Gg. Schloffer.

Die deutsche Universität Dorpat im Lichte der Ge-
fchichte und der Gegenwart. Eine hiftorifche Studie
auf dem Gebiete örtlicher Culturkämpfe. 3., bedeutend
verm. u. erweit. Aufl. Leipzig, Brockhaus,
1882. (XI, 161 S. gr. 8.) M. 3. 50.

Auch die Lefer diefer Zeitfchrift darf Ref., ohne an
ihr nationales Intereffe appelliren zu müffen, auf diefe
vortreffliche Studie aufmerkfam machen. Denn fie erfahren
aus derfelben neben vielem Anderem, was in
Deutfchland über die Zurtände der ruffifchen Oftfee-
provinzen Wenigen bekannt zu fein pflegt, vor allem
auch, was der Protertantismus in jenen deutfehen Cultur-
ländern gewefen ift und welche Entwicklung er in den-
felben genommen hat. Die Gefchichte der deutfehen
Univerfität Dorpat ift hier im Zufammcnhang mit der
Gefchichte des Landes von einem Manne gefchildert,
der mit den treff lichften Kenntnifsen und einer feinen Beobachtungsgabe
eine nicht gewöhnliche Kunft der Dar-
ftellung verbindet. Der Verf. hat die Gefchichte der
Univerfität bis zu den allerneueften Vorgängen, der
.Senatorenrevifion' fortgeführt. Er hegt trotz aller Bedrückungen
, die jetzt wieder in Scene gefetzt werden,
die fefte Hoffnung, dafs die Sache der höheren Gefittung,
der Wahrheit und des Rechts doch fchliefslich fiegen
mufs. ,Die Univerfität Dorpat kann zum Steine werden,
an dem das Narrenfchiff des Panflavismus zerfchellt
und feine Bosheit zu Spott und Schanden wird. Es ift
ein unbeugfames Gefetz, dafs Culturzerftörer Selbft-
mörder werden'.

Die Studie enthält auch eine kurze Ueberficht über
die Gefchichte der einzelnen Pacultäten der Univerfität
Dorpat (S. 69—97), die für die Gelehrtengefchichte von
Wichtigkeit ift und jedem Lefer zugleich zeigen wird,
dafs die baltifche Univerfität feit ihrer Neugründung

durch Alexander I. ohne Unterbrechung in dem Bunde
der deutfehen Univerfitäten geftanden und allezeit durch
ihre Leiftungen einen ehrenvollen Platz behauptet hat.
Was fpeciell die Gefchichte der theologifchen Facultät
betrifft, fo ift die Behauptung, dafs in Dorpat die Theologie
eine andere Entwicklung genommen habe als in
Deutfchland, unrichtig. Der Verf. kann zur Begründung
derfelben nur anführen, dafs in Dorpat ,die eigentlich
deutfehe Theologie' — gemeint ift die Vermittelungs-
theologie, die der Theologie Luther's felbft am nächften
kommen foll — nie zum Ausdruck gelangt fei. Aber
haben nicht auch andere theologifche Facultäten den
Uebergang vom Rationalismus zur Orthodoxie in wenig
Decennien und ziemlich unvermittelt vollzogen? In der
Gefchichte der Dorpater Facultät waren unzweifelhaft
mehr ,Vermittelungen' (namentlich der auch von oben
herab gepflegte Pietismus) wirkfam, als in der Gefchichte
mancher anderer deutfehen theologifchen Facultät. Das
epochemachende Wirken Philippi's wäre ohne die Vorarbeit
des Fürften Lieven, der pietiftifch gerichteten
Profefforen und Paftoren und eines vermittelnden Dogmati-
kers (Sartorius) undenkbar gewefen. Man darf geradezu
behaupten, dafs es vielleicht keine zweite theologifche
Facultät und keine Landeskirche giebt, an der man die
Entwicklung, welche der Protertantismus im 19. Jahrhundert
in confervativer Richtung genommen hat, fo
deutlich und ungetrübt beobachten kann wie in Livland.
Aber der Verf., der kein Freund der Orthodoxie, aber
ein Verehrer der ,Deutfehen Theologie' ift, verfteigt fleh
in dem Glauben an die in Dorpat noch unerprobten
Heilmittel, welche diefe Theologie befitzt, zu fehr wunderlichen
Gefchichtsbetrachtungen. Weil in Dorpat die
Vermittelungstheologie nicht geherrfcht hat oder herrfcht,
fo fürchtet er, dafs ein Umfchlag in den Rationalismus
der Facultät bevorftehen könne, und der eigenthümliche
Entwicklungsgang, den ,der echte und edelfte Reprä-
fentant der Dorpater-baltifchen Theologie', der jüngft
verdorbene Prof. M. von Engelhardt genommen, be-
ftärkt ihn in diefer Befürchtung. Diefer fei nämlich als
Theologe von Philippi, ,dem entfchloffenften Orthodo-
xiften', zu Ritfehl, ,dem entfchloffenften Rationaliften'
übergegangen, wenn er gleich als Chrift im praktifchen
Leben an feinem orthodoxen Standpunkt bis zuletzt feilgehalten
habe. Diefe Darfteilung ift unrichtig. M. von
Engelhardt hat ftets bekannt, wie viel er von Ritfehl
in jeder Hinficht gelernt habe; aber auch als Theologe
hat er letztlich doch feine früheren Ueberzeugungen
niemals aufgegeben. Der Conflict, den der Verf. fchildert,
beftand allerdings; aber es war ein Conflict zwifchen dem
religiöfen Glauben und der wiffenfehaftlichen Methode,
und es war die Einficht, dafs es in unferer Zeit mit einer
blofsen Repriftination der alten Dogmatik nicht gethan
fei. Die Unerbittlichkeit jener Methode hat der Ent-
fchlafene in dem letzten Decennium feines Lebens in
fteigendem Mafse erkannt; mehr läfst fleh in Kürze
darüber nicht fagen. Der Unfug, den der Verf. übrigens
mit dem Wort /Rationalismus' treibt, wäre nachzufehen,
wenn er nicht felbft fo entfehieden einen theologifchen
Standpunkt behaupten würde; daher ift der Mifsbrauch
nicht entfchuldbar.

Ich habe es für meine Pflicht gehalten, bei diefem
Punkte zu verweilen, brauche aber wohl nicht zu bemerken,
dafs die Erörterung einer Unrichtigkeit, die fich der Verf.
hat zu Schulden kommen laffen — Anderes, worüber ich
mit dem Verf. zu rechten hätte, fei hier verfchwiegen
—, die Anerkennung des Werthes nicht beeinträchtigen
foll, den ich diefer Studie beilege. Möge fie nicht nur
in den Oftfeeprovinzen, fondern auch in Deutfchland fort
und fort viele Lefer finden.

G'efsen. Adolf Harnack.