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Ausgabe:

1883 Nr. 26

Spalte:

607-614

Autor/Hrsg.:

Ranke, Leopold von

Titel/Untertitel:

Weltgeschichte. Dritter Theil 1883

Rezensent:

Harnack, Otto

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Theologifche Literaturzeitung. 1S83. Nr. 26.

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unterfucht hier — man darf wohl fagen zum erften Male

— die Terminologie und Compofition der Märtyreracten,
um auf diefem Wege Echtes und Unechtes zu fcheiden.
Schon früher hatte er die Anficht aufgehellt, dafs in den
von Ruinart verworfenen Acten noch manches echte
und fchätzbare Material enthalten fei. Er will hier nun
den Beweis für diefe Thefe geben. Nun ift freilich
gleich zu fagen, dafs auch die Actenfälfcher fich der
Sprache und Terminologie der echten Acten (Gerichts-
protocolle) bedient haben können und in vielen Fällen
gewifs auch bedient haben, fo dafs der Nachweis der
Echtheit nicht fchon durch die Conftatirung der formellen
Richtigkeit der Acten geliefert ift; indeffen die
Unterfuchung darüber, welche Acten zuverläffig find
und welche nicht, ift nicht die nächfte Aufgabe. Von
entfcheidender Wichtigkeit ift es, überhaupt einmal den
Gang des Procefsverfahrens klarzuftellen, und in diefer
Hinficht find die Forfchungen Le Blant's von grundlegender
Bedeutung. Man ftudire vornehmlich die
Ausführungen S. 141 —170. Hier hat der Verf. in
Parallelcolumnen die iermini technici zufammengeftellt,
die fich fowohl in den ,echten' Acten Ruinart's als in
den von diefem bei Seite gefchobenen Acten finden
.Missis apparitoribus —- arctare — tenere — rapere —
trahere — sedens pro tribunali — adstantibus apparitoribus
— vocare — inducere — sub praeconibus inducere —
introducere — intromitterc — exhibere — offerre — prae-
sentare — sistere — applicare — adstare — pracscs inter-
rogavit sub voce praeconia — nomen — qiäsnam es: —
conditio — familia — patria — professio — dignitas —
secta — aptare — applicare — levare — submittcre —
pendere — suspendcre — appendere — extendere — vexare

— rädere — deponere — parcere — cum consilio collo-
cutus — ex tabella rccitare — Placct — dimittere). Aber
auch fonft, durch das ganze Buch hindurch, hat er ein
höchft fchätzbares Material zufammengebracht, aus
welchem man das Verfahren in Chriftenproceffen bcffer
wird reconftruiren können, als dies bisher möglich war.
Sehr werthvoll ift auch die Widerlegung wenig nachhaltiger
Gründe, die man gegen die Echtheit refp. Zu-
verläffigkeit von Märtyreracten beizubringen pflegt,
ebenfo die fcharfe Unterfcheidung von ,Acta' und ,Pas-
siones'. Ob nicht der Verf. doch in Anerkennung der
von ihm unterfuchten Stücke zu weit geht, wird fich
zeigen, wenn er einmal eine Gefchichte der Verfolgungen
vorgelegt haben wird. Zwei treffliche Tabellen (Table
des pieces hagiographiques ecartees par Ruinart et visees
dans ce memoire. Table des matteres) erhöhen die
Brauchbarkeit der Publication.

Giefsen. A. Harnack.

Ranke, Leop. v., Weltgeschichte. Dritter Theil. Das alt-
römifche Kaiferthum. Mit kritifchen Erörterungen zur
alten Gefchichte. 2 Abtheilungen. 1—3. Aufl. Leipzig,
Duncker & Humblot, 1883. (VIII, 551 u. VIII, 356 s.
gr. 8.) M. 21. —; geb. M. 24. —

Der dritte Band von Ranke's Weltgefchichte greift
auf die beiden erften zurück, indem er in feiner zweiten
Abtheilung die kritifchen Erörterungen zu jenen erft nachliefert
. Diefe Erörterungen gruppiren fich meift nicht
um einzelne hiftorifche Ereignifse, — die fie feftftellen
oder aufhellen follten, — fondern um Perfönlichkeit und
Werke der bedeutendften Quellenfchriftfteller. In der-
felben Weife, welche auf Hiftoriker neuerer Zeit angewandt
, Ranke's Ruhm einft begründet, welche fpäter
die mittelalterlichen Annalen von Lorfch und Hersfeld in
ihrer Entftehung und Bedeutung verftändlich gemacht, —
werden hier die wichtigften Gefchichtfchreiber des Alterthums
in Bezug auf gewiffenhafte und tendtnziöfe Sammlung
wie Verarbeitung des von ihnen behandelten Stoffes
unterfucht und nach dem Ergebnifs diefer Gefammt-

beurtheilung ihre Glaubwürdigkeit in jedem einzelnen
Falle bemeffen. Sind daher diefe Erörterungen im Ganzen
für die Gefchichte der Hiftoriographie von hoher
i Bedeutung, fo find auch für die Erkenntnifs der hiftori-
j fchen Thatfachen durch fie vielfach neue Refultate gewonnen
worden. ,Man hat von jeher', fchreibt Ranke,
! ,bei den einzelnen Thatfachen die Autoritäten verglichen,
aufweichen die Kunde derfelben beruht; und dann Punkt
[ für Punkt fich für den Vorzug der einen oder der andern
j entfehieden. Meines Erachtens ift das jedoch noch nicht
i genug; die Schriftfteller, die ja nicht eben die einzelnen
Fälle befonders erörtern, fondern zufammenhängende

Werke verfafsten,--- müffen auch unter diefem Ge-

fichtspunkt gewürdigt werden'.

Zuerft befchäftigt fich Ranke mit der ,alexandrini-
fchen Ueberfetzung' des alten Teftamentes, deren hohe
Bedeutung für die griechifche wie die lateinifche Welt
I erörtert wird. ,Sie ift eine der Grundlagen der abend-
ländifchen Cultur und Religion geworden. Diefe ver-
I knüpfte fich durch eine regelmäfsige hiftorifche Conti-
' nuität mit der älteften Ueberlieferung, welche die Menfch-

heit befafs.....Auch der Islam knüpft an die älteften

Erinnerungen an. Aber fie wurden aus fabelhaften Ueber-
lieferungen genommen, die hauptfächlich dem Talmud
entflammen, fo dafs die Continuität abgebrochen wurde
und der innere Zufammenhang verloren ging. ... In der
Fortpflanzung oder Verwerfung der echten Ueberlieferung
aus dem höchften Alterthum, welche durch die alexan-
drinifche Ueberfetzung des Pentateuch vermittelt wurde,
liegt ein Moment für die Gefchichte der Religionen und
damit für die Gefchicke derMenfchen überhaupt'. Hieran
anknüpfend handelt Ranke dann von einer Differenz
! zwifchen dem hebräifchen Text und dem der LXX
! (1 Könige 12, 24), bei welcher er der letzteren Faffung
den Vorzug gibt, nach welcher die Theilung des Zwölf-
ftämmereiches mehr als berechtigte Spaltung, denn als
I revolutionärer Abfall der zehn Stämme erfcheine, als
! eine Spaltung, welche felbft der Prophet Semaja nicht
verdamme, indem er das Erbrecht Rehabeam's nicht als
unbedingt verbindlich anerkenne.

Hierauf wendet fich Ranke zu dem Gefchichtswerk
des Flavius Jofephus. Diefem ,war unerträglich die Mifs-
achtung, in der feine Nation bei den Römern fland. Die
Meinung des Jofephus ging dahin, dafs die Juden ebenbürtig
den anderen Nationen, namentlich den Griechen,
in das römifche Imperium eingetreten feien. ... Er
j wollte die Römer über die Vorftellungen, welche die
! Griechen in Bezug auf die Juden hatten, erheben.' ,Darm
möchte der befondere Werth der Tradition bei Jofephus
j liegen, dafs fie von dem fpäteren Judenthum aufgenommen
j und dann weiter verpflanzt worden ift. . . . Die mofai-
I fche Sage, die fich unabhängig von der Urfchrift aus-
i gebildet hat und zu einer volksthümlichen Ueberlieferung
■ geworden ift, welche das fpätere Judenthum und den
beginnenden Islam beherrfchte, lernen wir bei Jofephus
in ihren Grundzügen kennen. Nicht fowohl für die Ge-
i fchichte felbft als für die Tradition ift die Darftellung in
den erften Büchern feiner Archäologie wichtig. In den
fpäteren aber hat fie auch gefchichtlichen Werth.'

Im weiteren Verlaufe kommt Ranke auch auf die berühmte
Stelle über Chriftus zu reden, welche er ,für
interpolirt, aber keineswegs für untergefchoben' hält,
j Unecht find die auf die Auferftehung fich beziehenden
Worte fammt der Erklärung der Prophezeihungen. »Wenn
man aber diefe Worte wegläfst, fo hat das Uebrige einen
guten Zufammenhang. Jofephus hat gefagt: Durch feinen
Tod am Kreuz wurden feine Anhänger . . . • nicht irre
an ihm. Die Nation der Chriften fchreibt fich von ihm
her. . . . Die Worte: u XgiaTÖg oveog jh> ■ ■ • bedeuten
nichts weiter, als dafs Jefus derfelbe ift, von welchem
1 die Chriften fich Chriften nennen. Die Chriften waren
I damals bereits fehr zahlreich, und es konnte angemeffen