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Ausgabe:

1883 Nr. 24

Spalte:

569-571

Autor/Hrsg.:

Lobstein, P.

Titel/Untertitel:

La notion de la préexistence du fils de Dieu 1883

Rezensent:

Kaftan, Julius

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Theologifche Literaturzeitung. 1883. Nr. 24.

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können. Im übrigen find die nöthigen Gefichtspunkte
für Beurtheilung des Verhaltens diefes Papftes den
Ketzern gegenüber fchon S. 322 gegeben: der Papft
handelte nicht allein aus dem Bewufstfein der Zeit heraus,
fondern auch ganz den Umftänden angemeffen. Die
Kirche mufste mit der Härefie gewiffermafsen einen Kampf
auf Leben und Tod führen. Sie konnte fich nicht auf
blofs geiftige Mittel befchränken. Hat es ja doch auch
der Proteftantismus nicht gethan. Fiat applicatio!

Dem überzeugten Papaliften wird man es nicht verübeln
können, wenn er immer wieder zu diefer Zeit der
annähernd vollendeten Theokratie fich zurückwendet.
Allein jene gerade auch durch die Folgen der päpftlichen
Politik von wilden Wirren erfüllte Zeit der Gegenwart
als leuchtendes Vorbild vorzuhalten, wird doch nur dem
gegenüber einen Sinn haben, welcher die Vergangenheit
nicht kennt. Wir befinden uns nach Zertrümmerung der
Theokratie des Mittelalters wohler.

Berlin. Karl Müller.

Lob stein, Prof. P., La notion de la preexistence du fils

de Dieu. Fragment de christologie experimentale.
Paris, Fifchbacher, 1883. (V, 159 S. gr. 8.)

In 5 Capp. fucht der Verf. die Aufgabe, die er fich
geftellt, zu löfen, nachdem er in der Einleitung die Bedeutung
der Präexiftenzfrage für die Chriftologie hervorgehoben
und feinen Betrachtungen den Weg vorgezeichnet
hat. Die 3 erften Capp. haben biblifch-theo-
logifchen Inhalt und behandeln nach einander die juden-
chriftliche, die paulinifche und die johanneifche Chriftologie,
natürlich fo, dafs dabei befonders auf die Lehre von
der Präexiftenz des Gottesfohnes und ihre Stellung im
Zufammenhang geachtet wird. Diefe Unterfuchungen
führen aber zu einem doppelten Refultat. Einerfeits erkennt
der Verf. an, dafs auf allen 3 Stufen der apoftoli-
fchen Lehrerverkündigung die reale und perfönliche
Präexiftenz Jefu Chrifti gelehrt wird. Denn wenn die
judenchriftliche Verkündigung zwar urfprünglich dabei
ftehen bleibt, das Leben und Wirken Chrifti bis in die
einzelnen Züge hinein im alten Teftament vorausverkündigt
zu finden oder denn die ewige Vorherbeltimmung
Chrifti zum Heilsmittler zu betonen, fo erreicht doch
auch fie in der Apokalypfe die Idee der Präexiftenz: man
fieht hier deutlich, wie der Gedanke von der entfchci-
denden Bedeutung Chrifti für die Vollendung der Welt-
gefchicke allmählich den andern Gedanken feiner zeitlichen
Präexiftenz hervortreibt. Andererfeits betont der
Verf. aufs nachdrücklichfte, dafs diefe Lehre nicht ein I
Ausdruck des unmittelbaren religiöfen Bewufstfeins der !
chriftlichen Gemeinde ift, fondern ein Product der theo-
logifchen Speculation über die im chriftlichen Glauben '
behauptete abfolute Bedeutung Chrifti für die Weltentwicklung
, und zwar einer Speculation, die fich in die [
bereits vorhandenen Formen der rabbinifchen Theologie
und alexandrinifchen Weisheit kleidet. Es gilt das wie- [
derum von allen 3 Stufen der apoftolifchen Verkündigung
. Auch bei Paulus und felbft bei Johannes ift die
Lehre von der Präexiftenz nicht Ausgangspunkt, fondern
Folgefatz. Das geht in entfcheidender Weife namentlich
daraus hervor, dafs die paulinifchen undjohanneifch.cn
Schriften über das, was für die umgekehrt angelegte
fpätere Lehre diefer ihrer inneren Gliederung zu Folge
das wichtigfte ift, nämlich über die vormenfchliche Exi-
ftenzweife des Gottesfohnes und den Modus der Menfch-
werdung, gerade gar nichts enthalten. Im 4. Cap. wird
die Darftellung des biblifch-theologifchen Stoffs der Lehre
in der Weife vollendet, dafs nunmehr auf das alte Teftament
und das Selbftzeugnifs Jefu (nach den Synoptikern)
zurückgegriffen und dadurch zugleich den dogmatifchen
Folgerungen vorgearbeitet wird. Im alten Teftament
kommt in Betracht die Idee der göttlichen Erwählung
Israels, unter welcher Form der altteftamentliche Glaube

die freie Gnade Gottes erkennt, die er lieh an der wunderbaren
Führung des Volkes durch Gott als den Vater
desfelben veranfehaulicht. Sie kommt aber hier in Betracht
, weil fie bei den Propheten ihren Schwerpunkt in
der für die Zukunft in Ausficht geftellten Vollendung des
Gottesreichs gewinnt, und weil fchon in der prophetifchen
Verkündigung mehr oder minder deutlich ein einzelner
als der perfönliche Träger des Berufs erfcheint, welchen
Israel damit in der Gefchichte angewiefen erhält. Hieran
hat nämlich das Selbftzeugnifs Jefu angeknüpft. Indem
er fich als den Sohn Gottes wufste, hat er fich als den
von Ewigkeit her erwählten Meffias Israels erkannt, dazu
berufen, durch die Aufrichtung des Gottesreichs das
Heilswerk durchzuführen und allen Menfchen die Gottes-
kindfehaft zu vermitteln. Hingegen findet lieh in den
authentifchen Worten Jefu nirgends ein Ausfpruch über
fein vormenfehliches Sein beim Vater. Tritt man daher
von hier aus an die Lehrverkündigung der Apoftel heran,
fo kommt man zu dem Refultat, dafs ihre Lehre von
der Präexiftenz lediglich die Bedeutung hat, den religiöfen
Begriff der göttlichen Teleologie in ihrer Anwendung
auf die Perfon und das Werk Chrifti in die theologifche
Sprache ihrer Zeit zu überfetzen. Der dem unmittelbaren
Glauben entfprechende Ausdruck für das, was
gemeint ift, ein Ausdruck, den wiederherzuftellen heute
auch das theologifche Denken fordert, ift der der ewigen
und perfönlichen Erwählung des Sohnes Gottes für das
Heilswerk. Dafs hierin in der That die Löfung des
Problems liegt, zeigt das 5. Capitel, indem es zunächft
die vom Verf. befolgte Methode (diejenige Ritfchl's) als
die in materieller und formeller Hinficht durch Aus-
fcheidung aller nicht der Offenbarung entnommenen Lehrelemente
und durch umfaffende Verwerthung des gekämmten
Schriftzeugnifses) allein den Abfichten der Reformation
entfprechende rechtfertigt; indem es ferner die
Befeitigung der Präexiftenzlehre als negatives Refultat
und die Erfetzung derfelben durch die oben erwähnte
Erwählungslehre als pofitives Refultat der Unterfuchung
feftftellt; indem es endlich die Bedeutung diefer Formu-
lirung für den praktifchen Glauben daran aufweift, dafs
fie von der Erwählung Chrifti zur Erwählung der Gemeinde
überzugehen nicht blofs zuläfst, fondern verlangt.

In formeller Hinficht verdient die Arbeit Lobftein's
alles Lob. Sie zeichnet fich fowohl durch energifche und
umfichtige Durchführung des Grundgedankens, als durch
glückliche Anordnung des Stoffs und klare Darfteilung
aus. Die rhetorifche Form und die ftellenweile dadurch
hervorgerufene Weitfchweifigkeit werden vielleicht nicht
jedem deutfehen Lefer gefallen, jeder wird fie aber dem
franzöfifchen Gefchmack zu gute halten und anerkennen
mttffen, dafs das Buch in diefer Form um fo geeigneter
ift, die proteftantifchen Theologen Frankreichs mit
der dogmatifchen Methode Ritfchls bekannt zu machen,
was, wenn ich nicht irre, vor allem auch die Abficht des
Verfaffers ift. Die Sache anlangend kann ich ein doppeltes
Bedenken nicht unterdrücken. Einmal weifs ich
nicht, ob die vom Verfaffer aufgebotenen Mittel hinreichen
, andersdenkende theologifche Lefer zu überzeugen
. Auch abgefehen von den Schwierigkeiten, welche
aus der Befchränkung der Unterfuchung auf die Präexiftenzlehre
erwachfen, fcheint mir die Bedeutung, welche
der Verf. mit Recht dem Umftand beimifst, dafs es fich
in derfelben nicht um den Ausgangspunkt des apoftolifchen
Glaubens an die Gottheit Chrifti, fondern um eine
j lehrhafte Folgerung aus demfelben handelt, nur in einem
1 gröfseren Zufammenhang klar gemacht werden zu können
. Denn es mufs dazu doch gezeigt werden, dafs die
Umkehrung diefes Verhältnifses eine Aenderung in der
Sache involvirt. Und es mufs weiter dargethan werden,
dafs die Motive, welche in der alten Kirche zu einer
folchen Umkehrung geführt haben, im geiftigen Leben
der Gegenwart nicht mehr wirkfam find. Erft mittelft
einer folchen Ergänzung würde der vom Verf. gegebene