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Ausgabe:

1883 Nr. 22

Spalte:

523-525

Autor/Hrsg.:

Thikötter, Jul.

Titel/Untertitel:

Darstellung und Beurtheilung der Theologie Albrecht Ritschl‘s 1883

Rezensent:

Bilfinger, A.

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523 Theologifche Literaturzeitung. 1883. Nr. 22. 524

recht wünfchenswerth ift, zu einer einfacheren und ruhigeren
Schreibweife gelangt fein wird.

Marburg. W. Herrmann.

Thikötter, Paft. Jul., Darstellung uud Beurtheilung der
Theologie Albrecht Ritschl's. [Aus: ,Deutfch-evangel.
Blätter'.] Bonn, Marcus, 1883. (57 S. gr. 8.) M. 1. —

Zu den räthfelhaften und fchmerzlichen Erfchei-
nungen auf dem Gebiete des kirchlichen und theolo-
gifchen Lebens in unferen Tagen gehören die Angriffe,
welche die Theologie Ritfchl's insbefonderc im letzten
Jahre zu erleiden hatte. Es handelt fich nicht um die
wiffenfehaftlichen Angriffe. Aber unbegreiflich ift die
Agitation, welche gegen diefelbe in's Werk gefetzt
worden ift und fo vielen Anklang gefunden hat in
den Kreifen derer, welche zu Wächtern der kirchlichen
und religiöfen Güter beftellt find — als handle
es fich darum, Ritfchl's Theologie gegenüber diefe
Güter feftzuhalten oder vor verunglimpfender Behandlung
zu fchützen! Wo ift das theologifche Werk, das

in höherem Grade als Ritfchl's Lehre von der Recht- i fchen Standpunkt an deffen Grundfatz von der alleinigen

die Schwierigkeit des Verftändnifses fich nicht vermindert
haben. Es wiederholt fich fo bei Ritfehl das Schickfal,
welches vor hundert Jahren Kant mit der Kritik der
reinen Vernunft und den Prolegomena gehabt hat. Eben-
defswegen dürfte eine Schrift, wie die vorliegende, welche
mit der Abficht entworfen ift, ,dem einen oder andern
Lefer, der im Drange der praktifchen Berufsthätigkeit
nicht die Zeit gefunden hat, fich mit der hochbedeut-
famen Arbeit Ritfchl's eingehender zu befchäftigen, die
Grundzüge derfelben darzulegen' (S. 51.), cbenfo zweck -
entfprechend erfcheinen und auf einen ähnlichen Erfolg
hoffen dürfen, wie f. Z. Johann Schulze's Erläuterungen
zu Kant's Kritik der reinen Vernunft. —Wir dürfen fagen,
dafs dem Veifaffer die Löfung feiner Aufgabe in vortrefflicher
Weife gelungen ift. Auf dem kurzen Räume
von 57 Seiten hat der Verfaffer in der That die Quinteffenz
der Ritfchl'fchen Theologie, wie diefe in Ritfchl's
fyftematifchen Hauptfchriften, ,der Lehre von der Rechtfertigung
und Verformung', ,Unterricht in der chriftlichen
Religion', .Theologie und Mctaphyfik' niedergelegt ift,
gegeben. Zunächft weift er Ritfchl's echt reformator

fertigung und Verhöhnung von dem vollen Pathos der
lfmpfindung, der ganzen Energie des Willens und des
Denkens durchdrungen wäre, und dem man von der
erften bis zur letzten Seite es fo anfühlte, dafs hier kein
Wort zu leichtem Gedankenfpiele, fondern alles aus
tieffter Ueberzeugung geredet ift? Und wer kann leugnen,
dafs das theologifche Gedankenfyftem, welches hier,

Geltung der h. Schrift als Quelle der ehr. Lehre nach.
Wie und warum Ritfehl jede Form natürlicher Theologie
ablehnt, welches feine Stellung ift zu den kirchlichen
Lehrbeftimmungen, was es mit der vielberufenen Abhängigkeit
Ritfchl's von Kant auf fich hat, wie die von
Ritfehl adoptirte Lotze'fche Erkenntnifstheorie mit der
biblifchen Vorausfetzung von der Nothwendigkeit einer

unterbaut von einer ftaunenswerthen Gelehrfamkeit, aus- Offenbarung im Einklänge fteht: Das alles ift hier in
gearbeitet mit einer fo feltenen Schärfe der Logik fich ! fachgemäfser Weife eingefchaltet (S. I—9.). Sofort folgt
darftellt, ganz in den Cardinalbegriffen des Evangeliums (9—Ii) die Wiedergabe des Ritfchl'fchen Gottesbeweifes,
und der Reformation hängt? Ein Schlüffel zu der be- j welcher die ehr. Gottesidee als eine auch für das wiffen-
zeichneten Erfcheinung liegt vielleicht in der oft gehörten ' fchaftliche Welterkennen nothwendige Annahme und da-
Klagc über die kaum zu überwindenden Schwierigkeiten j mit die Möglichkeit der Theologie als Wiffenfchaft, be-
des Verftändnifses, welche Ritfchl's Hauptwerk denjenigen ] ziehungsweife die allgemeine Gültigkeit der befonderen

biete, welche nicht ganz in wiffenfehaftlicher Thätigkeit
leben. Diefe Klage kann man wenigftens begreifen.
Ritfchl's Theologie hat fo gründlich mit der dogmatifchen
Schablone gebrochen, fie bewegt fich in fo ganz neuen
Geleifen der Methode, fie ftellt durchgängig fo hohe
Anforderungen an die Gedankenarbeit des Lefenden,
dafs man verfteht, wenn nicht Wenige, gedrängt von
den Pflichten des praktifchen Berufes, den Verfuch eines
felbftändigen eingehenden Studiums aufgeben. Dazu

hiftorifchen Erfcheinung des Chriftenthums für die Menfch-
heit erweift. Daran fchliefst fleh (11 —13) die Auflöfung
der in dem Chriftenthum als der vollendeten flttlichen
Religion enthaltenen Antinomie zwifchen der religiöfen
Abhängigkeit von Gott und der poftulirten PVeiheit des
menfehlichen Handelns, womit der Zufammenfchlufs der
Dogmatik und Ethik unter den oberften Zweckbegriff
des Reiches Gottes feine Erklärung findet. In eingehender
Weife wird darauf der Begriff des Reiches Gottes

kommt ein Anderes. Die Abweichung Ritfchl's von den j nach allen Seiten und insbefondere gegenüber dem Beüberlieferten
Muftern der Theologie bringt es mit fleh
dafs er zu feiner eigenen Selbftrechtfertigung der bis
herigen Tradition in ausgedehntem Mafse zu wider

griff der Kirche dargelegt, zugleich auch der zur Mode
gewordene, dem unbefangenen Beurtheiler freilich gleichwohl
unbegreifliche Vorwurf des Katholifircns gebührend

fprechen genöthigt ift, und das hat die P"olge, dafs auch j widerlegt (13—22). Nach einer fummarifchen Zufammen-
bei denjenigen, welche es fich nicht verdriefsen laffen, | faffung der Gotteslehre (23—26) erfährt wiederum eine
durch das Ganze fleh hindurchzuarbeiten, leicht eben ausführliche Beleuchtung die Chriftologie Ritfchl's (26
nur die negative Seite einen beftimmten Eindruck hinter- 1 —36), wo der Verfaffer in warmen und wirkfamen
läfst, während der pofltive Gehalt ihnen in Hintergrund ! Worten dem Schmerz und der Entrüftung Ausdruck giebt
tritt. Die Zurückweifung der Metaphyfik in der Gottes- j über die Entftellung, welche gerade diefer Lehre in belehre
und Chriftologie, die Bekämpfung der Anfelm'fchen fonderem Mafse in dem Dieckhoff fchen Vortrag auf der
Verföhnungstheorie, die Werthloserklärung der Uttio hannoverfchen Predigerconferenz des vorigen Jahres ge-
mystica u. ä.; dazu etwa noch die dem herkömmlichen worden ift. S. 36—47 entwickelt die pofltiven Grund-
proteftantifchen Individualismus fo zuwiderlaufende Be- züge der Lehre von der Verformung und Rechtfertigung,
tonung der Gemeinde, welche das Attribut der Sünden- der die Lehre von Sünde und Uebel kurz vorangeftellt
Vergebung befltzt — das find in der That bei vielen die ift. Kürzere Bemerkungen befchäftigen fich noch (47

Punkte, aus deren Verbindung fich ihnen die ganze Vor
ftellung der Ritfchl'fchen Theologie gebildet hat. — Nun
hat freilich Ritfehl felbft fich beftrebt, diefem Umftande abzuhelfen
und die Einficht in den Zufammenhang feiner

50) mit Ritfchl's Lehre von der Heiligung aus dem
heil. Geift, den Grundgedanken feiner Ethik und der
Efchatologie. Verfaffer fchliefst mit dem Bekenntnifs,
wie er felbft, obgleich kein Schüler Ritfchl's aus deffen

Auffaffung zu erleichtern durch Herausgabe feines .Unter- : fpäterer Zeit, doch mit innerer Nothwendigkeit zur An-
richts in der ehr. Religion'. Allein in Rückficht auf die j erkennung von deffen Methode der Darftellung und
fummarifche Kürze diefer Schrift und auf den verfchiedenen ] Rechtfertigung der evang. Theologie geführt ward; und
Gefichtspunkt, unter welchen hier das Ganze feiner Lehre J mit einem warmen Hinweis auf die apologetifche Be-
geftellt ift, wird deren Zweck doch nur bei denen er- ! deutung der Ritfchl'fchen Theologie, welche in einer Zeit,
reicht, welche fich der Arbeit eines vergleichenden Stu- in welcher die Luft zu metaphyfifchen Spcculationen zu
diums beider Schriften unterziehen. So ift es nicht zu 1 fchwinden beginnt, dafür aber die Skepfis um fo mehr
verwundern, dafs trotz diefer Schrift die Klagen über ! mit erhobenem Haupte dahinfehreitet, in reeller Weife