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Ausgabe:

1883 Nr. 22

Spalte:

518-523

Autor/Hrsg.:

Runze, Georg

Titel/Untertitel:

Grundriss der evangelischen Glaubens- und Sittenlehre 1883

Rezensent:

Herrmann, Wilhelm

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Theologifche Literaturzeitung. 1883. Nr. 22.

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fcheinlichkeit eines Conflictes mit der Kirche, weil diefe der Auffaffung ihrer Gegenftände nichts weniger als

als hiflorifche Gröfse und als Rechtsgemeinfchaft ob
jective und äufsere Normen hat oder braucht. Die Löfung
dicfcs Conflictes kann allein der Liberalismus felbft herbeiführen
, und zwar, indem er, mit einem Worte, pofitiver
und kirchlicher wird, und fo fähig wird, feine Aufgabe
zu löfen, nämlich, die Schranken wegzuräumen, welche
fo viele von den Segnungen der Kirche trennen, und
die Entfremdeten der Kirche wieder zu gewinnen. Das
kann er aber nur, wenn er fich davor hütet, gewiffe
Grenzen zu überfchreiten. Solche nahe liegenden,Grenzen'
find erftens der kirchliche Indifferentismus, der jede
Stellungnahme zur Kirche verfchmäht, zweitens, wenn
der Liberalismus fich als kirchliche Partei organifirt, die
Intoleranz, welche vergifst, dafs er nur eine Partei ift
neben anderen und gerade die fpecielle Bedeutung hat,
cregenfeitige Toleranz zu pflegen, drittens die Neigung,
auf dem Gebiet der Wiffenfchaft und der Frömmigkeit
wirken zu wollen und da den Liberalismus in möglichft
weitgehender Negation zu fuchen, endlich die Einbildung
, in der Freiheit von Chriftus, der Kirche, der
Frömmigkeit das erftrebende Ziel zu fehen.

Der Freimuth, mit dem der Verf. diefe Schäden
feiner Partei rügt, verdient alle Anerkennung. Aber es
will mir fcheinen, als feien diefelben zum guten Theile

unabhängig ift.

Giefsen. J. Gottfchick.

Runze, Privatdoc. Lic. Dr. Georg, Grundriss der evangelischen
Glaubens- und Sittenlehre. 1. Tbl: Allgemeine
Dogmatik mit Einfchlufs der Religionsphilofophie.
Berlin, C. Duncker, 1883. (IV, 244 S. gr. 8.) M. 3. —

Die Aufgabe, welche der Verf. unter diefem Titel
löfen will, ift, die erkenntnifsmäfsige Verarbeitung und Aneignung
der in den kirchlich gegebenen Glaubensfätzen
enthaltenen Wahrheiten'. Das Material diefer Verarbeitung
liegt gewiffermafsen als Halbfabrikat in den Be-
kenntnifsfehriften und anderen einflufsreichen theo-
logifchcn Werken vor, als Rohftoff im N. T. und deffen
hiftorifchen Grundlagen. Eine beftimmte Methode kann
der Dogmatik nicht vorgezeichnet werden, es fei denn
die durch fittliche Gefinnung bedingte Unbefchränkthxit
der Forfchungsmittel. ,Soll ein bisher in verhängnifs-
voller Weife vcrnachläffigtes Verfahren befonders betont
werden, fo möchte als die ausfichtsvollfte Methode eine
pfychologifch-kritifche und zugleich fprachphilofophifche
Würdigung der religiöfen Vorftellungen zu empfehlen
in dem Princip begründet, das der Verf."als das des j fein'. Leider unterläfst der Verf., diefe wichtige Methode
Liberalismus an die Spitze ftellt und das er doch wohl zu befchreiben, fo dafs fich nicht einmal erkennen läfst,
als das berechtigte anfleht. Wird als das felbftver- ob er fie felbft befolgt. Wir erfahren wohl, dafs die

ftändlich höchfte Ziel die perfönliche Selbftändigkeit des
Einzelnen betrachtet, wird die Gemeinfchaft erft hinterher
in Betracht gezogen und von den Ordnungen der Gemeinfchaft
gefagt, fie feien dann begründet, wenn fie der
Freiheit des Einzelnen einen gewiffen Spielraum laffen
und aus der Gefammteinficht und dem Gefammtwillen

Dogmatik vermöge ihres pfychologifchen Verfahrens
eine Vereinigung der hiftorifchen und fpeculativen Theologie
fei. Aber das kann doch nur unfer Verlangen
fteigern, eine fo wirkfame Methode kennen zu lernen.
Wenn der Verf. nur wenigftens gefagt hätte, ob er es
fo meine, wie Lipfius, den er ganz zu vergeffen fcheint.

der Mitglieder hervorgegangen find, fo fteht man m. E. j Diefelbe Unbeftimmtheit ift der Eormulirung der Aufauf
der fchiefen Ebene, deren untere Theile — nicht ; gäbe vorzuwerfen. Denn was läfst fich nicht Alles unter

Grenzen — jener Indifferentismus und Subjectivismus,
jene Ncgationsfucht u. dergl. find. — Trotz der Warnung
des Verf.'s, dafs man fich das Verftändnifs des Pro-
teftantismus verfchliefse, wenn man leugne, dafs er an
der Selbftändigkeit des chriftlichen Einzelfubjects fein
Wefen habe, mufs ich die Richtigkeit diefer Behauptung
bezweifeln. Die religiöfe und fittliche Selbftändigkeit
des Einzelnen, die in der chriftlichen Freiheit zu ihrem
Ziele kommt, ift immer nur das Correlat der inneren

,erkenntnifsmäfsiger Verarbeitung der Dogmen' denken!
,Der Gliedbau der Dogmatik hälftet fich naturgemäfs
und entfprechend der Semeftcr-Arbeitstheilung in die allgemeine
und fpecielle Dogmatik'. Während die letztere
die unmittelbar an die Thatfachen der Heilsgefchichtc
angefchloffener Dogmen zu behandeln hat, fo erörtert die
hier vorliegende allgemeine Dogmatik die in jenen Dogmen
enthaltenen allgemein religiöfen Vorftellungen, wie Glaube,
Offenbarung, Gottesbewufstfein. Vor Allem kommt es da-

Gebundenheit an die objectiven Normen der fittlichen bei darauf an,,die Religion felbft pfychologifch,erkenntnifs-
Gemeinfchaft, fpeciell der chriftlichen Gemeinde. Ohne theoretifch und metaphyfifch zu erklären'. ,Die allge-
diefe Aufgefchloffenheit für die gemeinfamen Zwecke meine Dogmatik gliedern wir in A. die elementaren Vor-
giebt es nur inhaltsleere Willkür. Dann mufs aber auch 1 ausfetzungen (das ,Anfichfein' der Religion), B. die
das Handeln in der Rechtsgemeinfchaft, die Mittel für Wirklichkeit der Religionen (ihr ,für fich feiendes' Da-
die Entwicklung der fittlichen oder religiöfen Gemein- | fein), C. das (in feiner ,an und für fich feienden' Wahr-
fchaft ift, jene beiden correlaten Factoren zum Ziel und ; heit darzuftellende) evangelifch-chriftlichc Gottesbewufst-
Mafsftab haben, und Liberalismus wie Confervativismus ', fein'. Die den einzelnen Dogmen zu Grunde liegenden
find beides fehlerhafte Richtungen, die jedesmal eins der , elementaren Vorausfetzungen find I. die fubjective Re-
zufammengehörigen Momente mit Zurückdrängung des ; ligion, 2. die objective Religion, 3. die erkenntnifstheo-
anderen betonen, und die Bedeutung haben, auch wenn . retifchen Bedingungen des religiöfen Erkennens. In
man noch von der Verquickung mit den gleichnamigen i Betreff der fubjectiven Religion führt der Verf. richtig
politifchen Parteien abficht, die gefunde Entwicklung der ; aus, dafs die EVage nach einem religiöfen Organ des
Kirche nach Kräften zu hindern. Kirchliche Parteien find ; Geiftes auf einer veralteten Pfychologie beruhe, und dafs
— ideal angefehen — nur in dem Mafs berechtigt, als fie j die einander entgegengefetzten Auffaffungen, nach welchen
aus Differenzen über die Mittel entfpringen, jenes vom die urfprüngliche Erfcheinung der Religion entweder ein
Liberalismus wie vom Confervativismus gleicherweife ver- praktifches, von beftimmten Vorftellungen unabhängiges
kannte Ziel zu erreichen. Was die Stellung des kirchen- ( Verhalten des Gemüthslebens oder das Inkrafttreten eines
politifchen Liberalismus zu Theologie und Frömmigkeit , beftimmten Vorftellungskreifes fein foll, den Reichthum
anlangt, fo verhält fich ja der Idealbegriff beider Gröfsen des Gcgcnftandes nicht erfchöpfen. Er felbft bietet uns
gewifs zu jenem disparat. Aber factifch wird eine libera- nun, um ,als ferneren Ausgangspunkt die Verftändigungs-
liftifche Gefinnung, fo gut wie die entgegengefetzte, da ja formein zu markiren', folgende Sätze dar, welche vor
beide auf verfchiedener Auffaffung der chriftlichen Beftim- Allem geeignet fein möchten, ein Bild von der in dem
mung desMenfchcn beruhen, fowohl die Eixirung des nach Buche herrfchenden Darftellungsweife zugeben. ,Religion
wiffenfehaftlicher Methode zu behandelnden Objects der , ift eine naturgemäfse Weife der geiftigen Lebensbethät-
Theologie, d. i. der Correlata göttliche Offenbarung und j igung, nämlich die Sammlung des Gemüthes, und
menfehlicher Glaube, becinfluffen, als auch auf Art und ; zwar theils als Anlage oder Grundtrieb, dem gege-
Intenfität der Herzensfrömmigkeit einwirken, die ja von | benen Gefammtzuftande finnlicher Vereinzelung und