Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1883 Nr. 21

Spalte:

487-489

Autor/Hrsg.:

Zahn, Theodor

Titel/Untertitel:

Forschungen zur Geschichte des neutestamentlichen Kanons und der altkirchlichen Literatur. II. Theil 1883

Rezensent:

Harnack, Adolf

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

487

Theologifche Literaturzeitung. 1883. Nr. 21.

488

1. Zahn, Prof. Dr. Thdr., Forschungen zur Geschichte des

neutestamentlichen Kanons und der altkirchlichen Literatur.

II. Thl.: Der PNangeliencommentar des Theophilus
von Antiochien. (VI, 302 S. gr. 8.) M. 8. —

2. Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen
Literatur, hrsg. von Oscar von Gebhardt und
Adolf Harnack. I. Band. Heft 4. 1) Die Evangelien
des Matthäus und des Marcus aus dem Codex Pur-
pureus Rossanensis, hrsg. von Oscar von Gebhardt.
2) Der angebliche Evangeliencommentar des Theophilus
von Antiochien, von Adolf Harnack. Leipzig,
Hinrichs, 1883. (LIV, 176 S. gr. 8.) M. 7. 50.

Seinen Unterfuchungen über das Diateffaron Ta-
tian's hat Zahn eine umfangreiche Arbeit über den
Evangeliencommentar des Theophilus von Antiochien
folgen laffen. In derfelben fucht er zu erweifen, dafs der
von de la Bignei. J. 1576 veröffentlichte lateinifche
Evangeliencommentar eine in allem Wefentlichen treue
Ueberfetzung der um d. J. 170 verfafsten Commentare j
des Theophilus von Antiochien zum Evangelium ift, und [
dafs die Ueberfetzung felbft noch vor der Mitte des 3.
Jahrhunderts entftanden ift. ,Ganz geringfügig und ge-
fchichtlich völlig gleichgültig find die kleinen Zuthaten,
welche fchon der Ueberfetzer fich erlaubte. Sehr erheblich
find auch die Auslaffungen und fonflige Verderbnifse
nicht, welche fpätere Abfchreiber verfchuldet haben'.
Der Beweis für diefe überrafchenden Behauptungen er-
fcheint als ein vollftändiger; denn nach Zahn giebt es
keine Beobachtungsreihe, die das gewonnene Ergebnifs :
in Frage Mellen könnte; vielmehr trifft Alles zufammen,
um es zu beMätigen. Die äufseren Zeugnifse, die Ge- [
fchichte des Buches in der alten Kirche, der dogmatifche
Gehalt, fchliefslich auch die GeMalt des biblifchen Textes, |
wie derfelbe noch aus der lateinifchen Ueberfetzung er- j
kennbar iM, bezeugen, dafs hier ein Werk aus dem 2. 1
Jahrhundert vorliegt; eine Reihe von Eigentümlichkeiten
und feineren Zügen beMätigen es aber zudem, dafs der
Commentar aus der fyrifchen Kirche hervorgegangen iM
und jenem Theophilus beigelegt werden mufs, der die
Bücher ad Autolycum gefchrieben hat. Allerdings ge-
Meht auch Zahn zu, dafs der Commentar uns neue Auf-
fchlüffe gewährt, fobald feine Abfaffung um das J. 170
erwiefen iM. ,Aber wenn wir aus dem bisher vernach-
läffigten Buch gar nichts Neues lernten, würde ich mich
nicht fo anhaltend um dasfelbe bemüht haben' (S. 193). [

Die neuen Auffchlüffe find in der That an Anzahl
und Gewicht fo bedeutend, dafs die fichere Beantwortung
der Frage nach dem Urfprung des Commentars
nicht aufgefchoben werden darf. IM derfelbe im 2. Jahrhundert
entManden, fo müffen die KirchenhiMoriker einfach
umlernen; denn derfelbe Mellt die altchriMliche
Literatur- und Dogmengefchichte förmlich auf den Kopf.
Wenn das, was Referent S. 133—140 feiner Abhandlung
aus dem Commentare an Einzelheiten zufammengeMellt
hat, wirklich im 2. Jahrhundert niedergefchrieben worden
iM, fo hat Zahn völlig Recht mit der Behauptung: Unterfuchungen
über die EntMehungszeit einer Schrift,
welche von der fonderbaren Vorausfetzung ausgehen,
dafs wir die EntMehungsgefchichte der wichtigern kirchlichen
Einrichtungen und chriMlichen Ideen fo ziemlich
kennen, find werthlos' (S. 165 f.). Denn wir erfahren
nun aus dem Commentare, dafs die Trinität, ihre Einheit
und Untheilbarkeit, eine geläufige Formel in der antio-
chenifchen Gemeinde um das J. 170 gewefen iM; wir
erfahren ferner, dafs um diefelbe Zeit die chriMlichen
Cleriker bereits den Namen ,PrieMer' führten, dafs Ausdrücke
wie ,catholica ecclesia1 gegnum Christi cathoücum'
jatholica doctrina1 ,catholicum dogma' überaus häufige
waren, und dafs man fchon um das J. 170 von dem
Jiumanuin genus originali peccato detentum' gefprochen

und über den freien Willen und die Gnade gehandelt hat.
Aber noch nicht genug: der in der erMen Hälfte des 3.
Jahrhunderts lebende Ueberfetzer hat auch einen Satz
bei Theophilus gefunden, den er nicht anders wiederzugeben
vermochte als mit folgenden Worten: ,Duo in
lecto {Luc. 17, 34). In lecto esse monachos signifuat,
qui amant quictem, alieni a tumultu generis humani et
domino servientes, inter quos sunt boni et mali'. Er hat
ferner von ,pagani' ,gentilitasl ,saeculares 'gefprochen.
Er fchreibt z. B. zu Mtth. 3, 9: ,Lapides pro paganis
ait propter cordis duritiam1 etc. etc.

Referent hat in feiner im 4. Hefte des I. Bandes der
,Texte und Unterfuchungen zur Gefchichte der altchriM-
lichen Literatur' abgedruckten Abhandlung den Urfprung
des Commentars unterfucht und iM dabei im erMen
Capitel zu dem Ergebnifs gekommen, dafs der Commentar
, wie man fchon längM vermuthet hatte, eine Com-
pilation iM, die früheMens im Ausgang des 5- Jahrhunderts
von einem anonymen Cleriker —■ höchM wahr-
fcheinlich in Gallien — angefertigt worden iM. Während
nach Zahn faM alle bedeutenden und unbedeutenden
Exegeten des Abendlandes aus diefem uralten Commentar
gefchöpft haben follen, iM vielmehr das Umgekehrte
der Fall gewefen: der anonyme Autor hat aus
fehr vielen abendländifchen Schriften eine Sammlung
allegorifcher Erklärungen zu den Evangelien zufammengeMellt
. Mit dem Evangeliencommentar des Theophilus,
deffen ExiMenz nur durch Hieronymus bezeugt iM, hat
das abendländifche Sammelwerk fchlechterdings gar
nichts zu thun. Die Ueberfchrift .Theophilus' hat erM
ein mittelalterlicher Librarius gegeben. Diefe Rcfultate
konnten aus inneren und äufseren Gründen zu hoher Wahr-
fcheinlichkeit erhoben werden. Aber ein feltener Glücksfall
fpielte fchliefslich dem Referenten noch eine alte Hand-
fchrift des Commentars in die Hand. Bisher hatte man fich
mit dem Drucke bei de la Bigne begnügen müffen,
und auch Zahn war es trotz vieler Bemühungen nicht
gelungen, einer Handfchrift auf die Spur zu kommen.
In Brüffel konnte ich eine folche ermitteln und zwar
eine fehr alte, gefchrieben zwifchen d. J. 695 und 711.
In ihr iM der Commentar vollMändig erhalten; der Name
des Theophilus fehlt; der Autor iM nicht genannt. Aber
es geht dem Commentare in dem Brüffeler Codex ein
Prolog voran, der in der Handfchrift, welche de la Bigne
für feine Ausgabe benutzte, gefehlt haben mufs. In
diefem Prolog nennt der Autor fein Werk ein ,opus spi-
rita/e' und bekennt, dafs er dasfelbe ,tractatoribus deflo-
ratis' zufammengeMellt habe, indem er feine Arbeit mit
der der Biene vergleicht. Damit iM jeder Zweifel auch
für folche ausgefchloffen, welche in der Kirchenge-
fchichte, in Verdrufs über manche Seifenblafen der
Kritik und verlockt durch die Ignoranz mancher Kritiker,
eine überwundene Gefchichtsbetrachtung wieder zu Ehren
bringen wollen.

Ref. braucht nicht erM zu bemerken, dafs aus dem
Zahn'fchen Buche trotz des verfehlten Rcfultates manches
Einzelne zu lernen iM. Es iM aber diefes Mal um
vieles weniger, als wir fonM von diefem Gelehrten zu
empfangen gewohnt find j denn das MeiMc in dem Buche
Meht in dem trügerifchen Scheine des Irrlichtes, dem
der Verfaffer nachgefolgt iM. Wie gewöhnlich find auch
diefes Mal die Beweisführungen fascinirende: der Verf.
führt den Lefer in ein Labyrinth; nur wer auf jeden
Schritt achtet, vermag den Rückweg wiederzufinden.
' Wer die Augen nicht in jedem Momente offen hält, der
iM gefangen und mufs dem Führer folgen — in Zeiten
I und Gegenden, die niemals gewefen find, und zu Perfonen,
j die nie gelebt haben. Hoffentlich wird es dem verdicnM-
| vollen Porfcher an diefer feiner Unterfuchung deutlich
werden, dafs feine Methode fchwere Mängel hat, und dafs
man deshalb felbM noch nicht auf dem rechten Wege
iM, weil man die Anderen irren fieht. Von diefen Irrenden
hat doch noch kein Einziger ein folches Document des