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Ausgabe:

1883

Spalte:

447-449

Autor/Hrsg.:

Martensen, H.

Titel/Untertitel:

Aus meinem Leben. Mittheilungen I. Abth. 1808-1837 1883

Rezensent:

Meyer, Ernst Julius

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447 Theologifche Literaturzeitung. 1883. JNr. 19. 448

bar ausgefchöpften Texte doch unerfchöpflich find, wenn
der rechte Mann darüber kommt. Seit Ahlfeld's Evangelienpredigten
find diefe unteres Erachtens die hervor-
ragendften.

So reich die Predigten an geiftvollen Gedanken, an
fchönen und tiefen Blicken in die Schrift, wie in das
innere Leben find, fo find doch vielleicht die im engeren

kein anderer fremdländifcher Theolog, in Deutfchlancl
Bürgerrecht erworben hat, und zugleich die individuellen
Wurzeln wefentlicher theologifcher Ueberzeugungen, die
er in feiner Dogmatik und Ethik niedergelegt hat, zu
verfolgen. Und nicht blofs ein perfönliches, fondern auch
ein allgemeines objectives Intereffe hat diefes Stück
Selbftbiographie.

Sinne dogmatifchen, lehrhaften Partien derfelben die am j Nicht nur find die inneren Gährungen und geiftigen
wenigften gelungenen, fofern der Verf. entweder nicht Kämpfe, durch welche Martenfen hindurchgegangen ift

ohne Willkür dogmatifch conftruirt, wie er es z. B, in
der übrigens trefflichen Abendmahlspredigt thut, wo er
fämmtliche drei Glaubensartikel in das Abendmahl hinein
interpretirt (S. 214), oder fofern er den tiefften, inner-
lichften Vorgang im Chriftenleben, die Rechtfertigung des
Sünders vor Gott und die Aneignung der Gnade Chrifti
mehr oder weniger in fcholaftifcher Weife als eine äufser-
liche Uebertragung der Gerechtigkeit Chrifti darfteilt,
wofür z. B. aufser anderen Stellen diejenige S. 474 f.
charakteriftifch ift, in welcher der Verf. den in's Blut
getauchten Jofephsrock auf den mit dem Erlöferblut getränkten
Rock der Gerechtigkeit Chrifti anwendet, der
dem Gläubigen als das rechte ,hochzeitliche Kleid' an-
gethan wird. Statt fcholaftifcher Allegorien oder in
dogmatifcher Objectivität aufgeftellter Begriffe verlangt
gerade an diefem wichtigften Punkte chriftlicher Lehre
das tiefere Erbauungsbedürfnifs des gläubigen Chriften
eine ethifche innerliche Vermittlung, wie fie der Verf.
im Uebrigen fo trefflich verfteht, eine Vermittlung, die
nichts gemein hat mit jener vom Verf., S. 178, mit Recht
desavouirten Vermittlung der log. .Vermittlungstheologen'
und .Vermittlungslaien', welche zwifchen dem gekreuzigten
Chriftus und der natürlichen Vernunft, oder zwifchen der

für diejenigen unter dem jüngeren Gefchlccht lehrreich
und bedeutfam, die überhaupt noch in diefer Zeit frühreifer
und fchnellfertigcr Theologen von inneren Kämpfen
wiffen, unter denen fie fleh zu einer felbftändigen Ueber
zeugung hindurchringen; es wird^auch die Jugend- und
Entwicklungsgefchichte Martenfen's unwillkürlich zu
einem lebensvollen Bilde jener grofsen unvergefslichen
Zeit des deutfehen Idealismus in den erften Jahrzehnten
diefes Jahrhunderts, die der deutfehen Kirche und deutfehen
Theologie fo mächtige Impulfe gegeben und derer,
bedeutende Erinnerungen wir gerade in diefen Tagen
wohlthun, uns immer wieder zu vergegenwärtigen. Wie der
Verf. es verfteht, diefes Bild in den anfchaulichften Zügen
zu zeichnen, in behaglicher Befchaulichkeit fleh in feine
Lebenscrinnerungen verfenkend und die Leetüre diefes
Buches zu einer ebenfo feffelnden Unterhaltung, als zu
einer geiftigen Förderung und Erbauung zu machen, das
bedarf keiner Begründung.

Charakteriftifch tritt Einem, wie in den theologifchen
Werken M.'s, auch hier die enge Beziehung entgegen,
in welcher er fchon von früher Jugend an zu der Welt
des Aefthetifchen, fpeciell zur äfthetifchen Literatur
feines Vaterlandes und Deutfchlands fteht. Unter

armen Nachfolge Chrifti und den Forderungen der gott- ; den deutfehen Lichtern, die er auf feiner mit Hülfe eines
abgewandten Gefellfchaft vermitteln wollen. I Stipendiums unternommenen Studienreife in Deutfchland

Gelegentlich diefer Stelle können wir übrigens den kennen gelernt, geht er mit befonderer Liebe und Aus

Wunfeh nicht unterdrücken, dafs der Verf. den Ausdruck:
.Vermittlungstheologen', der eine beftimmte hiftorifche
Bedeutung hat, und der auch auf Theologen, wie Nitzfeh,
Dorner, Rothe angewendet wird, die doch wahrlich in

führlichkeit auf den ihm befreundeten Lichter der Melancholie
Lenau und feine tragifche Gefchichte, fowie auf
feine Dichtungen ein. Dabei vergleicht er insbefondere
denLenau'fchen und den Goethe'fchen häuft, um zu zeigen,

dem Sinne des Verf's keine Vermittlung getrieben haben, 1 dafs, fo hoch der Goethe'fche Fault in äftjietifcher
nicht gebraucht hätte; zu Schlagwörtern gewordene theo- Beziehung denjenigen Lenau's überrage, dochLenau'sFauft
logifche Bezeichnungen find entlchieden bedenklich gegen- i der chriftlichen Weltanfchauung näher flehe, als derjenige
über manchen pharifäifchen Gläubigen der Gemeinde, I Goethe's, da jener auf einer tieferen Auffaffung des Ver-
die über theologifche Richtungen gar kein felbftändiges hältnifses zwifchen dem Gefchöpfe und dem Schöpfer
Urtheil haben, und fich doch über die ehrenwertheften und darum auch auf einer tieferen Anfchauung des Böfen
Theologen, weil fie nicht gerade nach ihrem Gefchmack ! beruhe, während Goethe's Fault auf einer mehr oder

find, nicht feiten ein anmafsendes Urtheil erlauben.

Möge die ,Herzpoflille', wie fie dazu angethan ift,
ein Hausfehatz des lutherifchen Volkes zu fein, auch

weniger pantheiltifchen und fkeptifchen Weltanfchauung
und fpeciell fein Mcphiftopheles auf einer nur negativen
Auffaffung des Böfen bafire. Den Fault von Goethe fieht

vielen Theologen eine fördernde Anregung zu fruchtbarer M. überhaupt als eine rein individuelle Confeffion, al
Predigt werden, die nicht über die Köpfe hinaus, auch nicht I Ausdruck und Darfteilung der inneren Erlebnifse des

blofs durch die Köpfe, fondern .durch die Herzen'
geht!

Dresden. Meier.

Martensen, Bifchof Dr. H., Aus meinem Leben. Mittheilungen
. 1. Abth. 1808—1837. Aus dem Dan. von
A. Michelfen. Karlsruhe, Reuther, 1883. (VII,
267 S. 8.) M. 4. —

Dichters an. Und gewifs hat Goethe, wie in feinen anderen
Dichtungen, auch in diefer feiner gröfsten fich felbft und
feine tiefften Erlebnifse in einer Zeit mächtiger Gährung
objectivirt, aber diefe Deutung allein dürfte wohl nicht
hinreichen, den ganzen Fault, namentlich in feinem zweiten
Theil, zu erklären.

Für den theologifchen Standpunkt des Verf.'s, als
eines Theologen von hervorragender fpeculativer Potenz
, ift fehr bezeichnend die Partie, in welcher der
Verf. mit geiftvoller Darfteilung und Charakteriftik die

Diefe Selbftbiographie des greifen, aber noch jugend- ; hervorragendften Philofophen und Theologen Deutfeh
frifchen dänifchen Bifchofs wird in Deutfchland in den j lands fchildert, einen Hegel, Schelling, Baader, einen
weiteften kirchlichen Kreifen und nicht blofs unter den ! Daub und Marheineke, denen in intereffanter Weife

Theologen lebhafte Freude erwecken. Den zahlreichen
Freunden Martenfen's unter uns wird es von befonderem
Intereffe fein, in diefen Jugenderinnerungen, desfelben,

S chleicrmacher gegenüberfteht. Mit grofser Ent-
fchiedenheit tritt er dabei für die objective Erkcnntnifs
der Glaubenswahrheit als Wahrheit gegenüber allem

die fich bis zum Ende feiner Candidatenzeit erftrecken, alten und neuen Kantianismus ein, treu der erften Be
und denen nach Befinden noch eine Fortfetzung von ■ geifterung der Jugend, in der er, von Hegel mächtig er-
Mittheilungen aus feinem fpäteren, namentlich aus griffen, die Einheit des Denkens und des Dafeins als die
feinem amtlichen Leben folgen foll, den äufseren Lebens- ; Vorausfetzung fpeculativer Erkenntnifs zu poftuliren begang
wie den inneren Entwicklungsgang des bedeu- gönnen. In diefem Zufammenhang ift auch von Bedeut-
tenden Theologen fich zu vergegenwärtigen, der, wie ung die Begegnung, die der mit den fpeculativen Pro-