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Ausgabe:

1883 Nr. 18

Spalte:

423-425

Autor/Hrsg.:

Hartmann, Ed. v.

Titel/Untertitel:

Die Religion des Geistes 1883

Rezensent:

Hartung, Bruno

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Theologifche Literaturzeitung. 1883. Nr. 18.

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lieh auch bei Luther daran zu erinnern, wie wenig jene
Vollkommenheit des feiigen Stehens im Reiche Gottes
des Complements entbehren kann, nämlich des Ausblicks
in die jenfeitige Vollkommenheit des Heilsftandes,
welche nicht blofs Ausreifung des gegenwärtigen, fondern
auch Verfetzung in eine andere Freiheit ift.

Kiel. W. Möller.

Hartmann, Ed. v., Die Religion des Geistes. Berlin, C.
Duncker, 1882. (XII, 328 S. gr. 8.) M. 7. —

Acht Jahre find vergangen, feitdem Ed. von Hartmann |
in feiner ,Selbftzerfetzung des Chriftenthums' zum erften
Mal zur religiöfen Frage entfehiedene Stellung nahm.
In wiederholten Schriften ift er derfelben feitdem meift
kritifch und polemifch nahe getreten. Nun giebt er zum
erften Male eine pofitive ausführliche Klarftellung des
eigenen Standpunktes. Er hat inzwifchen fich mit der
Theologie bekannt gemacht und vor den Theologen,
wenigftens den fpeculativen, mehr Refpect gewonnen.
Das religiöfe Problem felbft hat er von jeher mehr, als
andere, gewürdigt. Auch für die praktifchen Fragen
zeigt er ein wenig mehr Verftändnifs, freilich etwas neues
dem Inhalt nach erfährt man nicht, fondern die bekannten
Ergebnifse der concret moniftifchen Philofophie werden
hier auf religionsphilofophifchem Wege gewonnen, wie
fie fonft uns unter dem Gefichtswinkel metaphyfifcher,
äfthetifcher, ethifcher Betrachtungsweife vorgeführt werden
. Der Reichthum diefes fruchtbarften unter den philo-
fophifchen Schriftftellern der Gegenwart befteht über^
haupt nicht fowohl in neuen Ideen, fondern darin, dafs
er die alten immer nach neuen Seiten zu fchildern und
zu begründen, auf neue Gegenftände zu beziehen weifs.
Dahinter aber zeigt fich immer wieder dasfelbe Geficht |
des einfamen Denkers, der bei aller Theilnahme für die j
grofse Frage der Religion doch von dem gewaltigen j
Strom praktifchen religiöfen Lebens, welcher durch
die Gegenwart hindurchgeht, wenig oder gar nicht berührt
wird.

Biedermann, auf welchen fich der Verf. befonders
zurückbezieht, hat fofort in der ,proteftantifchen Kirchenzeitung
' fich über das Verhältnifs desfelben zur fpeculativen
Theologie ausgefprochen und wir werden mit ihm |
anerkennen dürfen, dafs er ihr in fcharffinniger, ftreng ]
wiffenfehaftlicher Weife gerecht zu werden fucht. Früher j
freilich, als jener, fehen wir den eigenen Weg von dem
feinen fich trennen. Ja, wir haben das Gefühl, als ob j
fie nirgends ganz zufammenfielen. Am eheften noch in |
dem erften Theile, ,der Religionspfychologie', wo zu- j
erft die ,religiöfe Function' als Vorftellung, Gefühl, Wille, I
das letzte das wichtigfte, und weiter als die Einheit 1
von diefem dreifachen, als Glaube, dargeftellt wird. Aber
der Glaube, als menfehliche Function, fleht zu der
Gnade, der göttlichen Seite des religiöfen Verhältnifses,
in unmittelbarfter Beziehung ,der functionellen Identität',
und zwar zur Offenbarungsgnade als intellectueller Glaube,
zur Erlöfungsgnade als Gemüthsglaube, zur Heiligungsgnade
als praktifcher Glaube, fo jedoch, dafs Offenbarung,
Erlöfung, Heiligung ftets im Verein auftreten. In vielfach
feiner Weife wird der Religion gegenüber den verwandten
Gebieten menfehlichen Geifteslebens ihre Stelle ange-
u iefen und dann die Nothwendigkeit betont, neben dem
menfehlichen auch den göttlichen Factor in der That-
fache der Religion felbft anzuerkennen. Allein diefe
pfychologifchen Thatfachen find nun die einzigen wefent- ]
liehen Quellen religiöfer Erkenntnifs. Nur foweit es in
diefen, und zwar identifch mit der menfehlichen Function,
wirkfam ift, kommt eigentlich das Göttliche in Betracht.
Seine Gefchichte hat nur religionsgefchichtliches Intereffe,
ift für die Begründung des Verhältnifses felbft ohne Be- I
deutung. So wird man allmählich darauf vorbereitet, 1
dafs aus diefen, auch der Philofophie zugänglichen Prä- I

miffen kein anderer Inhalt, als der der Philofophie, wird
gewonnen werden können. Und diefe Erwartung erfüllt
fich im zweiten Theile, ,der religiöfen Metaphyfik', welche
in eigenthümlicher Gruppirung die Grundgedanken der
Hartmann'fchen Philofophie vorführt. In der Metaphyfik
des religiöfen Objects oder der Theologie erkennen wir
Gott als das die Abhängigkeit von der Welt überwindende
Moment, als das die abfolute Abhängigkeit
begründende Moment, als das die Freiheit begründende
Moment. Durch je drei Gottesbeweife wird man zu
diefen Momenten emporgeführt, von denen die Hartmann
eigenthümlichen, wie der erkenntnifs - theoretifch-
idealiftifchen, allerdings nur für folche Beweiskraft haben,
denen die Exiftenz des weltlichen Dafeins nur objective
Erfcheinung des göttlichen Wefens in feinem beftimmten
Wirken ift. Aus dem Wefen Gottes ift alles, was nur
der Perfönlichkeit zukommt, aus feinen Eigenfchaften
find ,alle anthropopathifchen Gottesvorftellungen', wie
Barmherzigkeit, Liebe, Langmuth auszufcheiden. Ebenfo
hat man bei dem Menfchen von allen Vorftellungen
indeterminiftifcher Freiheit, wie perfönlicher Unfterblich-
keit abzufehen, um feine Erlöfungsfähigkeit und Er-
löfungsbedürftigkeit zu erkennen (Anthropologie). Doch
wird milder, als in früheren Schriften, über die geurtheilt,
welche an folchen Poftulaten fefthalten. Uebel und Schuld
machen erlöfungsbedürftig, die jedem, auch unbewufst,
immanente Gnade, ,die phyfiologifch aufgefpeicherte Erbgnade
', macht erlöfungsfähig. Sofern nun die Welt an
der abfoluten Abhängigkeit von Gott (— der Ausdruck
,Weltregierung' als mifsverftändlich zu vermeiden —),
wie an der Erlöfungsbedürftigkeit des Menfchen theil-
nimmt, ift fie felbft, ja ift Gott felbft, und zwar als
transfeendenter, wie als immanenter, Object der Erlöfung
. Das Ziel der Erlöfung ift bekanntlich die Willensverneinung
, der Weltuntergang, der Weg zum Ziele, der
Heilsgenufs, welchen die Religionsethik fchildert. Der
fubjective Heilsgenufs ruht auf dem Grunde der
immanenten Gnade, welche durch Erziehung, doch nicht
durch einen unvollkommenen, anthropopathifchen Religionsunterricht
geweckt werden foll, durch Schuldgefühl
und Glauben, d. h. den Eintritt der Gnade in's Bewufst-
fein, fich entfaltet, um in Heiligung und Befferung die
Früchte der Gnade hervorzubringen und am objec-
tiven Heilsprocefs bewufst mitzuarbeiten. Diefer letztgenannte
ift ,der teleologifche Weltprocefs, als der durch
die Heiligung zur umverteilen Erlöfung führende Procefs'.
Mittel zu demfelben ift dieKirche,obfchon diefelbe von den
ihr eigenthümlichen Functionen fchon auf zwei, Kirchenzucht
und Cultus, wird verzichten müffen, während die
dritte, der Dienft am Wort, wenigftens für niedere Klaffen
ihre Bedeutung behält, bis einmal das gefammte Menfch-
heitsleben, religiös geworden, der Kirche entbehren kann.

Wenn man zur Orientirung noch einmal das fehr
genaue Inhaltsverzeichnifs anfleht, fo ift man überrafcht,
nach dem fo ganz verfchiedenen Inhalt dicfelben Ausdrücke
bei einander zu finden, wie etwa in einer Dog-
matik. Auch diefe Religion ift eine Erlöfungsreligion.
Aber ift das wirklich ein religiöfes Verhältnifs zwifchen
dem unbewufsten Etwas in mir, das ich Gott nenne, und
meinem Bewufstfein? Ift der ,abfolut genommene indifferente
Gefühlszuftand' wirklich ,Erlöfung — Verhöhnung'?
Ift die Welt erlöft, dadurch dafs fie vernichtet wird, alfo
als Object der Erlöfung aufhört? Es find die alten gegenüber
pantheiftifchen Religionsverfuchen immer wieder
auftauchenden PTagen, welche gegenüber diefer auf
anderem Boden erwachfenen Terminologie Seite für Seite
wach werden. Und doch ift diefe Terminologie felbft,
bei der nach Hartmann's bekannter Denkweife von
einer Anbequemung an die chriftliche Sprache nicht die
Rede fein kann, Beweis dafür, dafs er die darin ausge-
fprochenen Bedürfnifsc und Probleme erkannt, fchärfer
und ernfter erfafst hat. Der Kreis, auf dem der Theolog
fich mit ihm begegnet, ift noch eng genug, aber er ift