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Ausgabe:

1883

Spalte:

409-412

Autor/Hrsg.:

Joël, M.

Titel/Untertitel:

Blicke in die Religionsgeschichte zu Anfang des zweiten christlichen Jahrhunderts mit Berücksichtigung der angränzenden Zeiten. 2. Abth. Der Conflict des Heidenthums mit dem Christenthume in seinen Folgen

Rezensent:

Harnack, Adolf

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Theologische Literaturzeitung.

Herausgegeben von D. Ad. Hamack und D. E. Schürer, Proff. zu Giefsen.

Erfcheint Preis
alle 14 Tage. Leipzig. J. C. Hinrichs'fche Buchhandlung. jährlich 16 Mark.

N°- 18. 8- September 1883. 8. Jahrgang.

Joel, Blicke in die Religionsgefchichte zu Anfang
des 2. Jahrhunderts. 2.Abth. (Hamack).

Klimek, Coniectanea in Iulianum et Cyrilli
libros (K. J. Neumann).

Nieifen, Die fchwedifche Loge und die chrift-
liche Kirche (Thönes).

Hübler, Ehefchliefsung u. gemifchte Ehen in

Preufsen nach Recht und Brauch der Katholiken
(Köhler).

Braafch, Das Conto zwifchen der evang. u.
kathol. Kirche [Mifchehen] (Köhler).

Wendt, Die chriftliche Lehre von der menfch-
lichen Vollkommenheit (Möller).

Hartmann, Ed. von, die Religion des Geiftes
(Härtung).

Kündig, Erfahrungen am Kranken- und Sterbebette
(Achelis).

Franck, Aus dem inneren Heiligthum (Achelis).

Sturm, Ich bau auf Gott! Gedichte (Lindenberg
).

Pape, Ehe Völker waren. Gefchichte der Menfch-
heit als Familie (Thönes).

Joel, Rabb. Dr. M., Blicke in die Religionsgeschichte zu
Anfang des zweiten christlichen Jahrhunderts mit Berück -
fichtigung der angränzenden Zeiten. 2. Abth. Der
Conflict des Heidenthums mit dem Chriftenthume in
feinen Folgen für das Judenthum. Breslau, Schottländer
, 1883. (X, 190 S. 8.). M. 4.—., geb. M. 5.—.

Das Verdienft, unfere Kenntniffe des 2. Jahrhunderts
wirklich bereichert, refp. geklärt zu haben, wird man
dem Verf. diefer Schrift nicht beilegen können, wenn
auch hie und da manches Beachtenswerthein feiner Abhandlung
zu finden ift (f. die Anzeige der erften Abtheilung
in diefer Ztg. 1881 Nr. 8). Schon die Form und
Anlage der Schrift — fie enthält wirklich nur ,Blicke' —
ift des Erfolges am wenigften ficher; denn eine fragmen-
tarifche Behandlung von Fragmenten kann nicht zu zu-
verläffigen Ergebniffen führen. Von einem Grundgedanken
ifh der Verf. allerdings bei feinen ,Blicken' geleitet
. Er will zeigen, wie der Antijudaismus in der chrift-
lichcn Kirche entftanden ift: Derfelbe fei keine Folge
der Feindfchaft der Juden gegen die älteften Chriften,
fondern fei durch die eigenthümliche Lage, in welche
fich das Chriftenthum zu dem Staate im 2. Jahrhundert
gefetzt haVje, fowie durch den Bruch des Chriftenthums
mit dem altteftamentlichen Gefetze verurfacht worden.
Tendenzlegenden feien alle Erzählungen von jüdifchen
Anfeindungen des Chriftenthums im erften Jahrhundert.
Die Juden haben weder Jefum ans Kreuz gebracht —
die Berichte der Evangelien find bereits entftellt zu Gun-
ften des Pilatus — noch haben fie im erften Jahrhundert
jemals die heidnifche Obrigkeit oder das Volk wider die
Chriften aufgeftachelt; vielmehr feien Juden und Chriften
im erften Jahrhundert durchweg noch eng und friedlich
mit einander verbunden gewefen. Die ,gefchichtliche
Sünde' der Juden habe lediglich darin beftanden, dafs
fie nach der zweiten Zerftörung Jerufalems fich vollftän-
dig auf fich felbft zurückgezogen, jeden Verkehr mit
Andersgläubigen, den Contact mit der allgemeinen Lit-
teratur u. f. w. gemieden, und fo die Widerlegung der
chriftlichen Tendenzlegenden unterlaffen haben. Die ,Sorg-
lofigkeit' der Juden inAnfehung gefchichtlicher Vorgänge,
refp. der richtigen Tradition über diefelben ift ihr Fehler
gewefen. Der nationale Antijudaismus der Kirche des
2- Jahrhunderts, der Hafs und die Verachtung des Judenthums
in ihr ift alfo ein Erzeugnifs der Pleidenchriften,
an welchem die Juden durchaus unfchuldig find. Die
Weltftellung, welche das Chriftenthum einzunehmen ent-
fchloffen war, fomit die Apologetik —, im weiteren und
engeren Sinne des Wortes — haben den Bruch verurfacht
, den das 1. Jahrhundert noch gar nicht gekannt
hat, und den das 2. Jahrhundert durch Fälfch-
ungen der Gefchichte in das erfte hinaufdatirt hat.
,Man kann den Canon aufftellen, dafs jede chriftliche
Schrift, die fremd und feindlich von Juden und Judenthum
fpricht, nicht dem erften, fondern erft dem zweiten
Jahrhundert angehört' (S. 73). Anfeindungen der Chriften
feitens der Juden find aber auch für die Zeit nicht zu
conftatiren, da die Kirche bereits vollftändig mit der
Synagoge gebrochen hatte.

Diefer Grundgedanke wird nach einer Einleitung in
6 Capiteln, von denen fich jedes auf zwei bis drei ab-
geriffene gefchichtliche Nachrichten bezieht, variirt. Der
Verf. weifs trotzdem bis zu einem gewiffen Grade die Chriften
des 2. Jahrhunderts zu entfchuldigen; feine Sprache ift
eine würdige, feine Tendenz foll eine conciliatorifche
fein; aber er bleibt dabei: der chriftliche Antifemitismus
fällt in feinem Urfprunge voll und ganz der Chriftenheit
zur Laft; die Juden haben lediglich durch Sorglofigkeit
und Schweigen gefündigt.

Jeder Kenner der Gefchichte wird zugeftehen müffen,
dafs der Verf. nicht vollftändig Unrecht hat; aber es
fehlt viel, dafs man ihm vollftändig Recht geben könnte;
ja man darf wohl auch hier wieder fagen, dafs das Richtige
bereits nicht mehr neu und das Neue nicht richtig
ift. Des Verfaffers Betrachtung der älteften Gefchichte
des Chriftenthums ruht z.Th.auf Overb eck's Abhandlung
über die Kaiferrefcripte. Aber da diefe Abhandlung,
obwohl fie felbft in mancher Hinficht zu weit geht, doch
noch lange nicht das bringt, was der Verf. für das Richtige
hält, fo hat er die neueren Unterfuchungen von
Baur, Volkmar, Renan, Hausrath, Keim, Schiller
und Loman fleifsig durchgearbeitet und, obgleich er fie
nicht alle fchätzt, doch aus allen Honig zu fammeln ver-
ftanden. Sobezeugtihm Volkmar, dafs felbft derPauliner
Clemens zur Zeit des Domitian zu Rom ,dem Synagogenverband
fo nahe ftand, dafs das Judenthum den
Blutzeugen Gottes als Einen der Ihrigen (!) noch fpäter
anfah'. Derfelbe bezeugt, dafs der Verfaffer der Esraapo-
kalypfe, obgleich den Wahn der Kreuzeshoffnung verwerfend
und Chafidäer, mit den Jefu-Meffianern' nicht
blofs vereinigt, fondern .diefen unverwerflich Reinen und
Treuen' fehr nahe befreundet war. Renan bezeugt die
gänzliche Unbrauchbarkeit der Apoftelgefchichte als Ge-
fchichtsquelle und das ungebrochene Judenthum des
Apokalyptikers Johannes. Schiller tritt für die gänzliche
Unbrauchbarkeit des taciteifchen Berichtes ein;
Loman endlich, um Anderes bei Seite zu laffen, hat
dem Verf. den wichtigften Dienft geleiftet (S. 27, 81 f.
88). Er hat die Glaubwürdigkeit auch der grofsen Hauptbriefe
des Paulus erfchüttert, und damit die ftärkfte In-
ftanz gegen die Hypothefe des Verfaffers von dem völ-

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