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Ausgabe:

1883 Nr. 17

Spalte:

387-388

Autor/Hrsg.:

Fenton, John

Titel/Untertitel:

Early hebrew life 1883

Rezensent:

Baudissin, Wolf Wilhelm

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Theologifche Literaturzeitung. 1883. Nr. 17.

388

Fenton, John, Early hebrew life: A study in sociology. I
London, Trübner & Co., 1880. (XXIV, 102 S. gr. 8.) j
Cloth. 5 s.

Der Verf., fich als Schüler Ewald's einführend, will
die altteftamentlichen Schriften beurtheilen, nicht wie
es jetzt meift gefchieht, nach literärhiftorifchen, fondern
nach culturgefchichtlichen, ,fociologifchen' Gefichts-
punkten. Er Hellt fich damit ausgefprochenermafsen in
Gegenfatz zu den Kritikern der Gegenwart, insbefondere
zu Kuenen und Wellhaufen, denen er übrigens feine hohe
Anerkennung nicht verfagt. Selbftverftändlich werden
alle verftändigen Kritiker, insbefondere auch die genannten
, principiell mit dem Verf. vollkommen darin überein-
ftimmen, dafs zur Conflruction des Gefchichtsverlaufes
das literärhiftorifche Moment in der Vereinzelung nicht
ausreicht, dafs wie andere fo auch namentlich cultur-
gefchichtliche Gefichtspunkte damit zu verbinden find.
Der Verf. mag aber — ich möchte es direct behaupten
— mit Bezug auf die gegenwärtige Praxis im Rechte
fein, wenn er findet, dafs neuerdings das Alte Teftament
einfeitig als Literaturproduct mit Rückficht auf die Ab-
faffungszeit feiner einzelnen Beftandtheile behandelt wird.
Ich begrüfse den andersartigen Verfuch des Verfs'. mit
Freuden und möchte deshalb diefe Anzeige, obgleich
fehr verfpätet, nicht unterlaffen. Obgleich mit Sach-
kenntnifs gefchrieben, nicht nur mit Bezug auf das Alte
Teftament, fondern, was hier unerläfslich, auch hinficht-
lich der allgemeinen Culturgefchichte, aus welcher in-
tereffante und lehrreiche Parallelen herbeigezogen werden
, giebt fich die kleine Schrift felbft nur als einen Verfuch
. Der Verf. kann nur erwarten — und darin wird
er fich nicht enttäufcht finden — eine Anregung gegeben
zu haben nach einer beftimmten Seite hin. Zum Ueber-
zeugen ift feine Darfteilung zu fkizzenhaft. Er hat fich
in grofser Befcheidenheit einer umfaffenderen Bearbeitung
nicht gewachfen gefühlt. Daraus ift aber feiner
Arbeit ein grofser Nachtheil erwachfen. Nur die culturgefchichtlichen
Gefichtspunkte andeutend, verfällt — fo
hat es in diefer Skizze den Anfchein — der Verf. in
das dem von ihm gerügten Mangel entgegengefetzte Extrem
und vernachläffigt die Literärgefchichte. Damit ift
feinem Verfahren von vornherein in vielen Fällen die
Ueberzeugungskraft genommen. Unfere erfte Frage, wenn
wir an irgendwelche hiftorifche Unterfuchung herantreten,
mufs die nach Alter und Charakter der Quellen fein.
Möglich, dafs fich dann herausftellt, dafs jüngere Quellen
da und dort von alten Verhältnifsen beffer orientirt find
als frühere. Statt deffen behandelt der Verf. — es hat
dies, ich wiederhole es, gewifs nur in der fkizzirenden
Verfahrungsweife feinen Grund — alle Quellen auf einer
Linie und fucht nach Alterthümlichem, gleichviel, ob er
es mit Rieht. 17 f. oder mit der Chronik zu thun hat.
Es kann aber nicht genügen zur Erweifung eines erft
um 300 vor Chriftus erwähnten Brauches als eines
uralten, dafs er nach ähnlichen Erfcheinungen bei
anderen Völkern uralt fein kann, fondern zunächft
wird zu fragen fein, auf welchem Wege der fpäte Schrift-
fteller zu feiner Darftellung kommen mochte. Läfst fich
keinerlei willkürliche oder tendenziöfe Combination von
feiner Seite nachweifen, dann erft dürfen wir die Ver-
muthung wagen, dafs er beffer orientirt war als alle
feine Vorgänger, dann erft können wir feine Mittheilung,
und auch dann nur mit Refervation, als eine wichtige
hiftorifche Notiz verwerthen. Alle folche Vorfragen werden
hier bei Seite gelaffen.

Was der Verf. erftrebt, werde ich am beften mit
feiner eigenen, feine Aufgabe an einem Beifpiele erläuternden
Darftellung deutlich machen: ,Es ergiebt fich
keineswegs mit Nothwendigkeit, dafs das Aufkommen
eines Brauches oder Gefetzes gleichzeitig ift feinem Auftreten
in der Gefchichte. Manche Kräfte können zufam-
men arbeiten, um fein Hervortreten in Gefetzesbüchern

zu verzögern. Man nehme beifpielsweife ein Buch an,
gefchrieben mit der Abficht, beftimmte ftreitige Fragen
einfach zu regeln. Der Verfaffer kann es vorziehen, feinen
Gegenftand nicht zu verwirren durch Einführung un-
beftrittener Bräuche. Nach ihm kann ein anderer kommen
mit dem entgegengefetzten Vorfatze, ein Compen-
dium zu fchreiben. Natürlich fchaltet er den von
feinem Vorgänger unberückfichtigt gelaffenen Brauch
ein, und fo wird diefer Brauch, obgleich älter hin-
fichtlich der Praxis, jünger hinfichtlich der Aufzeichnung'
(S. XII). Man vergleiche S. 63: ,Es ift bei der Behandlung
des Pentateuchs nicht ungewöhnlich, dafs man
ein Gefetz durch ein anderes aufgehoben denkt, dafs
man annimmt, von zwei widerfprechenden Verfügungen
müffe die eine früher, refp. fpäter als die andere fein.
Obgleich dies philologifch [literaturgefchichtlich] gerechtfertigt
fein mag, ift es fociologifch ungerechtfertigt und
verkehrt. In allen Ländern, welche mehrere Stufen des
focialen Lebens durchgemacht haben, beliehen Einrichtungen
aller Perioden nebeneinander'.

Der Inhalt wird in folgende Abfchnitte gruppirt:
Periode des Nomadenthums, Periode des Hirtenlebens,
Periode der Anfäffigkeit und des Ackerbaues, Ueber-
lebende Alterthümer (Survivals), Bräuche und Traditionen
.

Das Bedenkliche der Conftructionen des Verf.'s möge
an einem Beifpiel illuftrirt werden. Nachl Chron. 6,40 f. erhielten
die Priefter die Stadt Plebron und ihre migra-
scMm, Kaleb dagegen erhielt das Feld der Stadt. Der
Verf. knüpft daran S. 37 ff. eine Unterfuchung über die
Verfchiedenheit von migrasch und Stadtfeld. Offenbar
aber find in der Darltellung von I Chron. 6, 40 f. zwei
divergirende Traditionen combinirt, wahrfcheinlich ohne
dafs der Referent einen befonders tiefen Sinn damit verband
. Uebrigens ift die Combination nicht dem Chro-
niften zuzufchreiben; fie findet fich ganz ebenfo Jof.
21, 11 f. Es ift zu verwundern, dafs Fenton auf diefe
Stelle keinen Bezug genommen hat. Sie ift allerdings
(vgl. v. 13) ein fpäterer harmoniftifcher Zufatz, ficher
aber älter als die Chronik. Nach Jof. 15, 13; Rieht. 1,
10 erhielt Kaleb Kirjath-Arba oder Hebron, nach Jof.
21,13 war Hebron Priefterftadt. Diefe divergirenden Angaben
glich ein Interpolator aus durch die Unterfcheid-
ung von migrasch und Stadtfeld. Wenn auch die
Möglichkeit nicht ausgefchloffen ift, dafs er fich dabei
auf einen beftehenden Unterfchied der beiden Bezeichnungen
berufen konnte, fo wird doch diefe Möglichkeit
und die daran geknüpfte culturhiftorifche Folgerung durch
das offenbar beftehende literarifche Verhältnifs fehr er-
fchüttert. Diefes durfte deshalb nicht ignorirt werden. —
In einem andern Falle wird zu viel und zu ficher gefolgert
aus der Erzähluug von Loth's Töchtern (S. 86), indem
nicht berückfichtigt wird, dafs eine an den Namen
Moab anknüpfende etymologifche Sage vorliegt.

Derartige Ausftellungen wären manche zu machen.
Ich wiederhole aber gern die Anerkennung, dafs der
Verf. fruchtbare Anregung zu einer die herrschende ergänzenden
Behandlungsweife des Alten Teftaments gegeben
hat. Ich fchliefse mit einem für die heutige Kritik
fehr beherzigenswerthen Satze, welchen der Verf. an
den Schlufs feiner Abhandlung geftellt hat: ,Man follte
immer im Sinne behalten, dafs der Stoff [der pentateu-
chifchen Angaben] ein folcher war, welchen fpätere
Ueberarbeiter nur fehr wenig, wenn überhaupt irgendwie,
verändern konnten, ausgenommen in fo weit das Volk
fchon über den älteren Brauch hinausgefchritten war
(S. 94).

Marburg. Wolf Baudiffin.