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Ausgabe:

1883

Spalte:

17-19

Autor/Hrsg.:

Krummacher, Herm.

Titel/Untertitel:

Johann Hinrich Wichern. Ein Lebensbild aus der Gegenwart 1883

Rezensent:

Schlosser, Georg

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Theologifche Literaturzeitung. 1883. Nr. 1.

Wiedeman 11, Dr. Theod., Geschichte der Reformation und
Gegenreformation im Lande unter der Enns. 3- Bd. Die

reformatorifche Bewegung im Bisthume Paffau. Prag
1882, Tempsky. (VIII, 695 S. gr. 8.) M. 12. —
Indem ich mich auf meine Befprechung der beiden
erften Bände des obigen Werkes in diefer Literaturzeitung
1881 Nr. 3 beziehe, kann ich mich hier darauf
befchränken, anzuführen, dafs in dem vorliegenden 3. Bde.
die übrigen Dechanate des Paffauer Bisthums in Niederöfterreich
, mit den dazu gehörigen Pfarreien, zur Befprechung
kommen. Bei jedem Dechanate wird vorweg
angegeben, welche Orte durchweg proteftantifch waren,
welche Familien Hauptbeförderer der neuen Lehre waren.
Das ift aber auch alles, was zur allgemeinen Orientirung
gefchieht. Sofort reiht dann bei jeder Pfarre der Verf.
die ihm zum grofsen Theil aus den ihm zugänglichen
Archiven fliefsenden, z. Thl. aber auch aus vorhandenen
ipecialgefchichtlichen Darftellungen entnommenen Mittheilungen
aneinander. So entfteht eine fchwer zu über-
fehende Maffe von bald dürftigen, bald über einzelne
Vorfälle und Verhandlungen reichlichen Nachrichten
darüber, wie fich Reformation, Bekämpfung derfelben

einer tieferen Auffaffung Bahn gebrochen hat. Dabei
liegt feine Gröfse nicht fo fehr in den einzelnen Werken,
die er unternommen und angeregt, in den beftimmt for-
mulirten Vorfchlägen und Organifationen, die von ihm
ausgingen, obwohl er auch darin Unvergefsliches geleiftet
hat, — denken wir nur an die Brüderanftalten, an den
Centralausfchufs für innere Miffion, an die Herbergen
zur Heimath, zu denen er doch durch feine Schilderung
der auf diefem Gebiet vorhandenen Nothftände den
erften Anftofs gtgeben hat, an die Fürforge für die Gefangenen
, für die jugendlichen Arbeiter, an die Congreffe
für innere Miffion, — als vielmehr in feiner ganzen Per-
fönlichkeit, aus deren tiefftem Grunde fein Arbeiten und
Wirken geboren war, die er in alles, was er that, ftets
ganz und voll hineinlegte, in dem heiligen tiefen Ernfte,
mit dem er die Aufgabe der Rettung des Volkes von
dem Elend und Verderben der Sünde erfafste. Mit
feinem zündenden Wort und vorbildlichen Wandel hat
er die Gewiffen feiner Zeitgenoffen wach gerüttelt zur
Erkenntnifs' der fchweren Verfäumnifs und Liebesfchuld
gegenüber den glaubenslofen, friedlofen und im fittlichen
Verderben elenden Maffen, und hat ein Feuer barmherziger
Liebe entzündet, das, will's Gott, nicht mehr unter uns

und fiegreiche Gegenreformation im Einzelnen abgefpielt 1 erlöfchen wird, einen Eifer der Liebe geweckt, der ein
haben. Dafs hier unter der Menge ermüdender Einzelan- Auge und Herz hat für jede Noth und im tiefen Ergaben
fich auch eine ganze Anzahl höchft charakterifti- ' barmen erfinderifch ift in Handreichung und Hilfe. Das
fcher Beiträge zur Kirchen- und Culturgefchichte finden, j innerfte Geheimnifs diefer Perfönlichkeit fchildert Krum-

kann man fich denken. Ich verweife beifpielsweife auf
die reichlichen Mittheilungen über Krems von der Vifi-
tation von 1544 an bis 1628 mit dem ftattlichen Ver-

macher fehr richtig, wenn er S. 36 von W. fagt, dafs, er
,eine virtuofe Kraft befeffen habe, zu lieben und lieb zu
behalten und feiner Liebe einen von aller Weichlichkeit

zeichnifs von confiscirten luther. Büchern, welche nur und Süfslichkeit fchlechterdings freien, eben darum nicht
die Nachlefe bildeten zu den fchon 1624 verbrannten | "minder herzgewinnenden Ausdruck zu geben'. Es war
vier grofsen Fudern lutherifcher Bücher (S. 60—95). J eme heifse feurige Liebe, die in ihm lebte, die ihn un-
Freilich wird das immerhin fehr dankenswerthe Regifter , widerftehlich in die Arbeit der Barmherzigkeit trieb,
der Perfonennamen am Schlufs des Bandes für fich allein Von W. kann man in Wahrheit fagen: Er war eine
noch nicht vermögen, die Nutzbarmachung des fehr un- j Johannesnatur, nicht in jenem landläufigen falfchen Sinne
gleichwerthigen Rohftoffs, der uns hier geboten wird, fehr ! eines reichen irenifchen Wefens, fondern in dem Sinne, der
zu erleichtern. Dazu kommen die bereits zu den beiden durch den Namen der Donnerföhne, mit welchem jefus
erften Bänden gerügten grofsen formellen Mängel in der Johannes und feinen Bruder belegt, charakterifirt wird.
Wiedergabe des Quellenmaterials, die fich auch hier Er befafs eine grofse Weitherzigkeit und wahre evan-
empfindlich geltend machen. gelifche Freiheit, er wufste Wahrheit und edlen Sinn zu

Kiel. W Möller. fchätzen auch da, wo fie ihm im fremdartigen Gewände

_J___' entgegenkamen; nichts war ihm verhafster, als die

Schablone; bei gemeinfamer Ueberzcugung in den grof-
1. Krummacher, Konfift.-R. Dr. Herrn., Johann Hinrich scn Grundfragen wufste er Differenzen in kleinen Dingen
Wichern. Ein Lebensbild aus der Gegenwart. Gotha, ; wohl zu tragen, aber auf's Pactiren und Compromittiren
F. A. Perthes, 1882. (VI, 161 S. gr. 8.) M. 2. 40. verftand er fich nicht, am wenigften wo es feine heiligften

Ueberzeugungen galt. Er war eine durch und durch
feurige, kraftvolle Natur. Mit Recht erinnert Krummacher
an feinen olympifchen Zorn, an einen feinem
natürlichen Mcnfchen eigenen und durch feine Lebens-

Oldenberg, Friedr., Johann Hinrich Wichern. Sein Leben
und Wirken. Nach feinem fchriftlichen Nachlafs und
den Mittheilungen der Familie dargeftcllt. 1. Buch:

Die Jugendzeit. Mit dem (Lichtdr.-) Bildnifse Wicherns. j führung genährten, aber im Allgemeinen wohl in die

Hamburg, Agentur des Rauhen Haufes. — Mauke
Söhne, 1882. (VII, 148 S. gr. 8.) M. 3.—

Zucht des Geiftes genommenen ,Zug zum Gewaltfamen,
Despotifchen'. Mochte diefem olympifchen Zorn auch
je und dann etwas von diefem Wefen des natürlichen

Das gleichzeitige Erfchcinen von zwei Biographien ! Menfchen anhangen, im Grunde loderte auch darin das
giebt unwillkürlich Zeugnifs von der Bedeutung des F"euer feiner Liebe. Wenn dann feine Augen fprühten,

Mannes, deffen Leben fie fchildcrn. Lefern diefer Zeitfchrift
gegenüber bedarf es keiner näheren Darlegung diefer Be
deutung. Feind und Freund erkennen gleichermafsen den

es war die Liebe, die fich gekränkt und gehemmt fühlte
durch niedrigen Sinn, durch Selbftfucht und kleinliches
Wefen. Wer ihn kannte, der wird der Schilderung, die

weitreichenden Einflufs an, den W. auf die Geftaltung Kr. S. 96 gibt, freudig zuftimmen. ,In feinen grofsen
des kirchlichen Lebens vornehmlich nach der Seite der j blauen Augen lag eine fülle Gluth; fie konnten leuchten
chriftlichen Liebesthätigkcit geübt, die mächtigen An- im milden Glanz herzlicher Freundlichkeit oder fröh-
regungen, die von ihm ausgegangen find, und die ihm j liehen Humors; fie konnten Blitze fchiefsen, welche die
den Namen des ,Vaters' oder doch des .Herolds der erftorbene Scham zum Leben erweckten und die Schaminneren
Miffion'eingetragen haben. Die in unferen Tagen lofigkeit hinwegfeheuchtenj fie konnten flammen und
fo ungemein rege Thätigkeit auf diefem Gebiete wird lohen in heiliger Begeifterung und in zürnendem, je und
wenige Seiten aufzuweiten haben, die nicht in irgend dann zu leidenfehaftlicher Heftigkeit gelleigertem Eifer,
einer Weife auf ihn zurückführten, die nicht durch ihn | Um feinen Mund fpielte ein Zug, der von energifchem
neue Impulfe empfangen hätten, von der Hillen un- j {tatkräftigem Willen fprach'. Unvergefslich ift es wohl
fcheinbaren Arbeit an den verlorenen Kindern an bis j jedem geblieben, der ihn mit heiligem Gewiffenseinfte und
zu der ins Grofse gehenden focialen Arbeit, für welche ! hinreifsender Beredfamkeit auf den Congreffen für innere
er zuerft in weiteren Kreifcn den Blick gefchärft und Miffion über das, was fein innerftes erfüllte, reden ge-