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Ausgabe:

1883 Nr. 15

Spalte:

356-357

Autor/Hrsg.:

Hoppe, Thdr.

Titel/Untertitel:

Christliche Sitte 1883

Rezensent:

Achelis, Ernst Christian

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Theologifche Literaturzeitung. 1883. Nr. 15.

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fachlicher Unterfuchung wie eine Zufammenfaffung der
Merkmale, die eine Vergleichung der verfchiedenen Standpunkte
gewährt, vorgeführt wird. Aber die dem Bilde
zu Grunde liegende Idee rechtfertigt das Urtheil, welches
über die Berechtigung der verfchiedenen Confeffionen
neben einander abgegeben wird, nicht ausreichend. Der
Verf. meint, die verfchiedenen Kirchen würden fich
dauernd behaupten und das fei auch fo das Gottgewollte
und Normale. Ob das wohl Luther zugeben würde?
Im Bilde zu bleiben, fo will doch Gott gewifs allenthalben
, dafs die Kirche zum vollen Mannesalter Jefu
Chrifti heranreife. Die evangelifche Kirche hat die erobernde
Tendenz alfo nicht aufzugeben. Luther meint
es fpeciell mit dem Gedanken, dafs der Papft der Anti-
chrift fei, auch viel zu ernft, als dafs man irgendwie den
Gedanken einer Berechtigung', gar einer bleibenden,
des ,römifchen' Standpunktes als das richtige evangelifche
und lutherifche Urtheil hinftellen könnte. Von
derjenigen Auffaffung des Evangeliums aus, die der
Auguftana entfpricht, kann man ganz fo, wie Luther
gethan, der von dem antichriftifchen Papftthum beherrschten
Kirche dennoch zugeftehen, dafs fie Chriften-
thum ermögliche und ein ,Häuflein Heiliger' bewahrt
habe und immer noch bewahre, nämlich fo lange fie
nicht Alles das verdränge, was das wirkliche Bild Chrifti
den Menfchen vor die Seele ftelle (vgl. z. B. Luther's
Schrift ,von der Winkelmeffe und Pfaffenweihe'). Und
in dem Zugeftändnifs, dafs fie eben doch dem Evangelium
auch noch Raum laffe (mit dem Zufatze, dafs die
evangelifche Kirche auch ihrer eigenen Formen der Sorge
für die Predigt des Evangeliums als immerfort weiter
zu reformirender gedenke) liegt das Recht und das
Mafs der Anerkennung der Theilhaberfchaft an der con-
grcgatio sanctorum, die wir der römifchen Kirche entgegenbringen
refp. entgegenbringen dürfen. — Ich bin
nun fall weitergeführt, als ich es zum Beginne vorhatte.
So will ich mich denn nur kurz faffen über die weiteren
Diffenfe, die ich gegenüber dem v. Scheele'fchen Werke
nicht unterdrücken möchte. Dafs ich dem erften Theile
des Werkes über die ,allgemeine chriftliche Kirche' und
der Betonung der ökumenifchen Symbole als gemein-
fchaftlicher bleibender Lehrgrundlage nicht ohne Weiteres
zuftimme, ergiebt fich aus dem Bisherigen. Ich
habe mich über diefe Verwerthung der ökumenifchen
Symbole in der Symbolik in diefen Blättern auch fchon
früher ausgefprochen. Es ift aber vor der Hand ein
Problem, an deffen Löfung noch niemand fich herangemacht
, wie die ökumenifchen Symbole als gemeinsamer
Befitz der Kirchen — gefchichtlich — zu verftehen
feien. Von Scheele unterläfst es, wie es fcheint, mit
Abficht, über das Detail der befonders von Caspari
unternommenen Forfchung nach der Entftehung der
ökumenifchen, fpeciell des apoftolifchen Symbols, Bericht
zu erftatten. Es giebt hier allerdings viele Sachen, mit
denen die vergleichende allgemeine Symbolik nicht zu
befchweren ift. Doch erlaube ich mir, A. Harnack's
Artikel über das Apoftolicum und das Conftantinopoli-
tanum (beide eine knappe Zufammenfaffung gerade der
neueftenForfchungen,auch derEngländer) in Herzog's
R.-E 2 Bd. I u. VIII als etwa das Mafs deffen, was eine
Symbolik doch bringen darf, zu nennen. Die grie-
chifche Kirche (in Bezug auf die ich nebenbei nur bemerken
möchte, dafs der Verf. irrt, wenn er meint, dafs
fie neuerdings das Apoftolicum recipirt habe) und die
römifche (hier will ich auch im Vorbeigehen wenig-
ftens empfehlen, die I S. 155 in der 2. Anmerkung gegebene
Mittheilung über die Funde eines Gelehrten in
der Vaticana bezüglich des h. Petrus nicht fo gar ernft-
haft noch ein Mal vorzutragen) werden vom Verf. etwas
kurz behandelt, was an und für fich Nichts fchadet.
Doch fähe ich hinfichtlich der römifchen Kirche gerne
die jefuitifch-papaliftifche Entwicklung deutlicher gefchie-
den von derjenigen, welche die Altkatholiken retten

möchten. Ueber den Altkatholicismus urtheilt der Verf.
(111,219) zu hoffnungslos. Die Beyfchlag'fche Brofchüre
wird vielleicht auch ihn von diefer Anfchauung abbringen.
In Beziehung auf die reformirte Kirche folgt der Verf.
zu fehr Schneckenburger. Ich glaube fagen zu dürfen
, dafs in Deutfchland niemand mehr, der fachkundig
ift, die geiftvolle, aber zum Theil gewaltfame und aus
gänzlich fecundärenQuellen zurecht gemachte Darfteilung
fb hochhält, wie der Verf. thut. Befonders hinfichtlich
der Vergleichung der lutherifchen und der reformirten
Rechtfertigungslehre ift der Verf. durch Schneckenburger
in die Irre geführt. Eine Benutzung von Ritfchl's
Gefchichte der Rechtfertigungslehre vermifst man. Die
Werke von Hundeshagen (Beiträge zur Kirchenver-
faffungsgefchichte und Kirchenpolitik', i.Bd.) und Kamp-
fchulte (Joh. Calvin, I. Bd.) und nach anderer Beziehung
Ritfchl's ,Gefchichte des Pietismus' (I. Bd.: Der Pietismus
in der ref. Kirche) dürften auch noch für Manches
zum Minderten eine Ergänzung geftatten. Für die reformirten
Secten refp. Nebenkirchen ift Weingart en's
Buch ,die Revolutionskirchen Englands' unentbehrlich. —
Doch ich thue vielleicht Unrecht, foviel zu moniren, da
das einen Eindruck hinterlaffen könnte, der doch meinem
wirklichen Urtheile über das Buch nicht entfpräche. Es
bleibt des Guten immer noch fo viel in dem gelehrten
und in den Grenzen der Literatur-Berückfichtigung, die
es fich nun einmal geftellt hat, fo forgfältigen, durch
viele richtige Gedanken ausgezeichneten Werke, dafs
ich es noch einmal ausdrücklich als eine willkommene
Bereicherung unferer Literatur bezeichnen und ihm einen
guten Eingang bei uns wünfchen will.

Giefsen. F. Kattenbufch.

Hoppe, Paff. Dr. Thdr., Christliche Sitte. Vortrag, gehalten
am 24. Jan. 1883 im Evangelifchen Vereine
zu Hannover. Hannover, Feefche, 1883. (48 S. 8.)
M. —. 60.

Die vorliegende treffliche Gabe berührt fich an
vielen Punkten, vor Allem in der zu Grunde liegenden
Gefamrntanfchauung, mit dem Vortrage an Dr. L. Wiefe:
,Ueber den fittlichen Werth gegebener Formen' 1878.
Der Herr Verf. nennt Wiefe's Vortrag nicht, ift auch
wahrfcheinlich nicht mit demfelben bekannt geworden;
denn eine Abhängigkeit ift nirgends erfichtlich. Um fo
werthvoller ift es, aus zweier Zungen Mund ein gewichtiges
, ernft mahnendes Wort über die Macht der chrift-
lichen Sitte, über ihre Nothwendigkeit, ihre erziehende
und bewahrende Kraft, über das bedenkliche Zeichen der
Zeit in dem weitverbreiteten Verfall chriftlicher Sitte
zu vernehmen. Mit fteigendem Intereffe folgt man der
Darfteilung des Redners; man würde aber eine Beleidigung
ausfprechen, wenn man den Vortrag nur inter-
effant finden wollte; dazu ift der Gegenftand zu wichtig,
die Behandlung zu fehr von lebendiger Ueberzeugung,
von tiefer Liebe zu unferem Volk, zu unferer Kirche
getragen. Dem Verf. ift die Erhaltung und Pflege chriftlicher
Sitte eine Lebensfrage des Chriftenthums, und mit
gefundem hiftorifchen Sinne, aus dem Vollen fchöpfend,
in einfacher fchöner Form weifs er uns diefe Lebensfrage
an's Herz zu legen. Ob nicht freilich der Verf.
in feiner Werthfehätzung der chrifti. Sitte zu weit gegangen
ift? Faft fcheint es fo. Wohl fehlt es nicht an
Hinweifungen darauf, dafs die Sitte eine Form und nur
eine Form fei; fie fei todt, wenn der Geift entflohen fei,
der fie hervorgebracht. Aber ift es dann nicht eine ge-
fchichtliche Nothwendigkeit, ift es nicht eine Forderung
der Wahrhaftigkeit, dafs fie fällt, fobald fie als Aeufseres
dem Innern nicht mehr entfpricht? Eine abfolut gültige
chriftliche Sitte giebt es eben nicht, und das gefchichtlic 1
Normale wird es fein, dafs die chriftliche Sitte fich ändert
mit der Zeit. In kreifsenden, ein Neues gebären wollen-
I den Epochen, wie die unfrige, ift es nur zu natürlich,