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Ausgabe:

1883 Nr. 15

Spalte:

347-350

Autor/Hrsg.:

Bender, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Johann Konrad Dippel 1883

Rezensent:

Möller, Wilhelm

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Theologifche Literaturzeitung. 1883. Nr. 15.

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gegen den Krieg veranlaßt haben, wie überhaupt ihr
Verhalten in der Angelegenheit und zuletzt den unerquicklichen
Streit Luther's mit Herzog Georg. Das Er-
gebnifs ift nicht weniger überrafchend als das über den
Landgrafen gewonnene. Während nämlich die friedliche
Haltung Melanchthon's als der Ausdruck unbedingter
Rechtlichkeit und Gewiffenhaftigkeit' angefehen wird, fo
entfpringt die Luther's blofs aus einer ,unbedingten
Friedensliebe', welche wieder nur ,wefentlich von Furcht
und Beforgnifs um feine eigene perfönliche Sicherheit
eingegeben war'.

Somit fehlt noch immer eine erfchöpfende Dar-
ftellung der Pack'fchen Händel. Wenn in Weimar und
Dresden das Material in ähnlicher Vollftändigkeit bei-
fammen ift, wie in Marburg, wo weit mehr zu finden ift,
als Neudecker, Hoffmann und Rommel zufammen bieten,
fo wird fie gewifs in der Hauptfache gemacht werden
können. Vielleicht entfchliefst fich E. dazu, diefe Acten
durchzuftudiren. Er würde fchon in Marburg Zeugnifse
entdecken, welche die Falfchheit feiner bisherigen Auf-
faffung, ohne irgendwelche Combination und Interpretation
zu fordern, darthun.

Marburg. Max Lenz.

Bender, Wilh., Johann Konrad Dippel. Der Freigeift aus
dem Pietismus. Ein Beitrag zur Entftehungsgefchichte
der Aufklärung. Bonn, Weber, 1882. (VIII, 221 S.
gr. 8.) M. 4.50.

Leben und Meinungen des höchft merkwürdigen
Mannes darzuftellen, ift eine dankbare und lohnende
Aufgabe. Schon die Lebensgefchichte mit ihrer etwas
abenteuerlichen Färbung bedurfte noch fehr der Aufhellung
. Wir dürfen vorweg bemerken, dafs auch hierfür
Bender's Arbeit nicht erfolglos gewefen ift. Auf Grund
des im Stockholmer Geheimarchiv vorhandenen Berichts
des fchwedifchen Gefandten in Berlin an Karl XII. verbreitet
fie Licht über Dippel's Verhaftung in Berlin und
feine Entweichung von da, um einer neuen Verhaftung
zu entgehen (S. 87ff.); ebenfo werden nach archivalifchem
Material aus Kopenhagen und Stockholm der Conflict
Dippel's mit dem Grafen Reventlow zu Altona, feine
Gefangenfchaft auf Bornholm und feine Schickfale in
Schweden neu beleuchtet. Auf andern Punkten, wie z.
B. hinfichtlich der Umftände, welche 1714 die Entfernung
Dippel's aus Holland herbeiführten, hat fich freilich auch
B. vergeblich nach weiterer Aufhellung umgefehen.
Gegen die Darftcllung in der Herzog'fchen Realencyklo-
pädie (III, 629 Hagenbach-Plitt) erinnert B., dafs nicht
der minderte Grund dafür vorliege, in der Strafsburger
Affaire D. für die tödliche Verwundung eines Studenten
verantwortlich zu machen; für die Gefammtbeurtheilung
Dippel's ift es von Gewicht, dafs B., wie es fcheint mit
vollem Recht, die fo häufig ernft genommene Weisfagung
Dippel's, er werde bis 1806 leben, für nur ironifch gemeint
erklärt. — Bei weitem wichtiger ift nun aber der
Verfuch, die theologifche Entwicklung Dippel's aus
feinen Schriften zu analyfiren, ein Verfuch, welcher mir
im Wefentlichen gelungen fcheint und der um fo ver-
dienftlicher ift, je mehr man fich in gangbaren Darftellungen
noch damit begnügt, bei dem Eindruck eines
eigentümlichen Gemifches von ,Myfticismus und Rationalismus
, Pietismus und Frivolität der Gefinnung' flehen
zu bleiben, anftatt die unter den gegebenen gefchicht-
lichen Verhältnifsen fehr begreifliche gefetzmäfsige reli-
giöfe Entwicklung diefer echten Uebergangsgeftalt anzuerkennen
. Der Uebergang Dippel's von der mit herausforderndem
Selbftgefühl und doch fchon mit einem
Stachel im Herzen übernommenen Vertheidigung der
Orthodoxie zum Pietismus ift wefentlich durch die Einwirkung
Gottfried Arnold's vermittelt. Es ift der myftifche
Pietismus und nicht ,der Hallifche Mittelweg', von welchem
aus jene rückfichtslofen Angriffe gegen die

lutherifche Orthodoxie gerichtet werden, welche die
lutherifche Geiftlichkeitskirche von vornherein mit allem
etablirten Kirchenthum auf eine Stufe ftellen, ja diefe
jgeiftliche Verficherungsanftalt' mit ihren vorwiegend
doctrinellen Forderungen im Grunde noch ungünftiger
beurtheilen, als die römifche, für deren Myftik und As-
kefe diefer Pietismus wenigftens Sympathie empfindet.
Die Bekämpfung der Orthodoxie, viel radiealer, aber
zugleich viel mehr aus eigentlich religiöfen Gelichts-
punkten geführt als etwa bei Thomafius, läfst fofort
erkennen, dafs die urfprünglichen Motive des lutherifchen
Rechtfertigungsglaubens nicht mehr verftanden werden.
Obwohl er anfangs noch in feiner conftitutiven Stellung
anerkannt werden foll (S. 68), führt doch der Gegenfatz
gegen die erftarrte Orthodoxie Dippel fchon hier zu
Aeufserungen, welche nicht blofs ,mifsverftändlich' find,
wie Bender bemerkt, fondern in der That bereits von
der proteflantifchen Grundpofition ablenkend die Heiligung
in den Handel der Rechtfertigung milchen. Bender
behauptet, Dippel's anfängliche Stellung (,für die
pietiftifche Kirchenreform') in den erften Schriften fei
keine andere als die Spener's, ,nur habe er gleich erkannt,
dafs die Voranftellung der praktifch-religiöfen Zwecke
des Chriftcnthums eine Reform des Dogma unumgänglich
nach fich ziehe'. Letzteres hängt aber unter Anderem
doch auch damit zufammen, dafs Dippel bereits
ein Zurückweichen von jener reformatorifchen Grund-
ftimmung zeigt, welches doch bei Spener nicht nachge-
wiefen werden kann. So weift denn auch Bender's lichtvolle
und anziehende Darftellung diefes Abfchnittes,
welche übrigens ganz geeignet ift, Dippel's tiefes und
lebendiges Gefühl von dem Schwergewicht der auf dem
Spiele flehenden religiös-fittlichen Intereffen zu vergegenwärtigen
, felbft darauf hin, wie feine Gedanken (insbe-
fondere die über die Bedeutung der Sacramente) bereits
,in den radicalen Pietismus hineinragen'. Dem ent-
fpricht dann die Erinnerung, dafs bei feinem Eintreten
für pietiftifche Kirchenreform bereits ähnlich wie bei
Gottfr. Arnold ein ftarkes Mifstrauen gegen die Reformfähigkeit
der Kirche fich zeige. — Gleich nach jener
,erften theologifchen Campagne' treten jene alchymi-
ftifchen und und medicinifchen Studien hervor, welche
Dippel's aufserordentlichen Ruf als Arzt, Naturkundiger
und Goldmacher begründet haben. B. weift treffend auf
den innern Zufammenhang diefer Tendenzen mit den
pietiftifchen und religiös-myftifchen hin. ,Dippel ein
klaffifcher Zeuge für die Seelenverwandtfchaft phyfi-
kalifcher und theologifcher Myftik'; aber er arbeitet fich
aus den dunkeln Speculationen naturphilofophifcher
Myftik heraus und tritt auf den Boden der Erfahrungs-
wiffenfehaft, und feine Verbuche find beherrfcht von dem
Blick auf ,die wiffenfehaftlichen, ökonomifchen und
moralifchen Phortfchritte der Gefellfchaft'. So würde
man Unrecht thun, ihn den gewohnlichen alehymiftifchen
Charlatanen zuzuzählen, obgleich auch er nicht frei ift
von jener felbftgefälligen Weltverbefferungstendcnz und
der auf diefem Gebiete unvermeidlichen Neigung, einen
geheimnifsvollen Nimbus um fich zu verbreiten. — Nun
läfst B. (Cap. VI) den weitern Fortfehritt in der Entwicklung
D.'s hervortreten, den er als ,pietiftifche Aufklärung
' bezeichnet. Nicht nur die kirchlichen, fondern
auch die biblifchen, überhaupt die heilsgefchicht-
lichen Vermittelungen des neuen Lebens oder des Heils
werden auf diefem Standpunkte zu abzuftreifenden Hüllen
oder doch nur zu unwefentlichen Hülfsmitteln, und
der Kern, jene myftifche Wiedergeburt, das Leben des
Chriftus in uns fleht auf dem Punkte fich umzufetzen in
das Aufleben der fittlichen Perfönlichkeit im Lichte der
natürlichen Vernunft. Die pofitive Religion verflüchtigt
fich zur allgemeinen Menfchheitsreligion, das Wefentliche
der Religion wird in die moralifche Erneuerung gefetzt
und die Religionsunterfchiede verfchwinden als unweb nt-
lich. So zeigt fich, was ja allerdings keine neue Er-