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Ausgabe:

1883 Nr. 12

Spalte:

269-274

Autor/Hrsg.:

Bestmann, H. J.

Titel/Untertitel:

Geschichte der christlichen Sitte 1883

Rezensent:

Harnack, Adolf

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Theologifche Literaturzeitung. 1883. Nr. 12.

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fich bildete. Statt allein diefem nachzugehen, was einzig Zeit unmöglich fei, fich gemüthlich in das eigenthüm-
möglich, verfteigt fich der Verf. vielfach dazu, die , liehe Leben der Ebioniten hineinzudenken. Die Gefahr,
Gottesgedanken darzuftellen, welche im Menfchenworte den urfprünglichen Glanz der Dinge zu verwifchen, er-
befchloffen gewefen feien. Es ift begreiflich, dafs er fchien uns hier allerdings auch befonders grofs, weil
hier über myfteriöfes Dunkel nicht hinaus kömmt. vor allem ,die confequente Durchführung eines feften

Abgefehen von der Prophetie, vermiffe ich auch fonft Principes' in der Gefchichtsbetrachtung die reine Er-
Verftändnifs für die Entwickelung des religiöfen und , kenntnifs gerade in Bezug auf das Judenchriftenthum
theologifchen Denkens in Ifrael. Es follte doch nicht mehrmals fchon empfindlich getrübt hat und noch trübt,
mehr aus Pf. 16, 10 gefolgert werden (die Davidifche Der Verf. findet (S. 61. Iii), dafs man fich über den
Abfaffung des Liedes zugegeben), dafs fchon David ,fich 1 Mangel an Quellen für die Gefchichte des Judenchriften-
des Sieges über Tod und Grab bewufst wurde', in dem thums nicht zu beklagen hat, und die Darftellung, die er
Sinne: ,wer unzertrennlich mit dem Höchften verbunden gegeben, beweift, dafs ihm auch die Gefichtspunkte,
ift, über den hat der Tod keine Gewalt' (S. 204). Die unter welche das Ganze fowohl wie das Einzelne in
Worte: ,Du wirft nicht preisgeben deine Frommen, die diefer Gefchichte zu ftellen fei, nicht zweifelhaft gewefen
Grube zu fchauen' können nur entweder befagen, dafs find. Diefe Gefichtspunkte oder Ideen find freilich immer
die Frommen überhaupt nicht fterben oder dafs fie in | gleich die oberften und letzten. Zwifchen der Einzel-
einem beftimmten Momente nicht fterben. — Die Be- thatfache, die der Verf. befpricht, und dem feften Princip
hauptung, dafs Ezechiel in dem Gefichte vom Leichen- 1 der Beurtheilung, welches er anwendet, befindet fich
felde ,nicht an die Neubelebung des heiligen Volksthums regelmäfsig ein Vacuum, welches freilich für den Verf.
glauben' könne, wenn er nicht Gott zutraute, ,dafs Er 1 felbft nicht vorhanden zu fein fcheint. Er fchilt in der
auch Todte wieder zum Leben rufen kann' (S. 415), ift Vorrede auf die herrfchende Jdeophobie'; aber man
ein Machtfpruch, mit welchem Auscinanderfetzung un- wird finden, dafs er felbft an diefer Zeitkrankheit in
möglich. eigentümlicher Weife leidet; denn die Ideen, von

Es fchien mir hier meine Aufgabe zu fein, aus dem , welchen die Judenchriften beherrfcht gewefen find, zu
Buche herauszuheben, was für dasfelbe charakteriftifch ermitteln, die eigentümlichen Bedingungen zu fchil-
ilt und was der Verf. als feine Anfchauung nicht ungerne ] dern, unter denen fie in Syrien mehr als 3 Jahrhunderte
betont fehen wird. Lieber hätte ich bei folchem verweilt, | lang geftanden haben, galt ihm nicht als feine Auf-
dem ich meinerfeits mehr zuzuftimmen vermag. Deffen : gäbe, vielmehr dringt er fofort zu folchen grofsen Ideen
ift nicht wenig, zunächft in vielen Einzelheiten. Ich freue , vor, welche die charakteriftifchen Züge der concreten
mich z. B., dafs des Verf.'s kritifche Anfchauung über 1 Erfcheinungen glanzvoll überftrahlen, um fie völlig zu
das Buch Sacharja durch eine neuefte Wendung nicht verdunkeln. Ueber das Ergebnifs diefer Betrachtungs-
erfchüttert worden ift, dafs er der Vertheilung von Micha ; weife wird man fich nicht wundern. Was der Verf. als
c. 4 ff. auf verfchiedene Epigonen nicht zuzuftimmen Judenchriftenthum zu fehen vermag und feinen
vermag. Vor allem aber, ich wiederhole es, habe ich j Lefern vorftellt, ift in allen Zügen ein Doppelanzuerkennen
die das Ganze charakterifirende Wärme 1 gänger zum katholifchen Chriftenthum. Und dies
der Auffaffung und, ungeachtet mancher Differenzen be- j ift noch das verhältnifsmäfsig concretefte Ergebnifs; denn
züglich der Durchführung, die Entfchiedenheit, womit in | auf der Spitze des Berges, den wir unter der Führung
diefem Werke die altteftamentliche Prophetie erkannt des Verf.'s erklommen, verfchwinden unferem Auge alle
wird als ein göttlich Gefetztes. Gegenftände, und wir blicken in den unendlichen Raum,

Marburg i. H. Wolf Baudiffin. in welchem idealiftifche und realiftifche Arifchauungs-

'_ ' weifen fich vergeblich zu einem einheitlichen Accorde

| zu vcrfchmclzen trachten'). Der Verf. hat felbft be-
Bestmann, H. J., Geschichte der christlichen Sitte. II. TM.: merkt, dafs fein Judenchriftenthum' die fatalfte Aehn-
Die katholifche Sitte. 1. Lfg. (Die judenchriftliche lichkeit mit dem Katholicismus hat; aber er weifs diefe
Sitte). Nördlingen, Beck, 1882. (VIII, 128 S. gr. 8.) Beobachtung hinreichend zu erklären (S. 61 f.): ,Man
M 2 go wird es als Beweis regen geiftigen Lebens gelten laffen

müffen, dafs bei diefen jüdifchen Chriften und bei ihren
In einem angehängten Excurs über die bisherigen Gefinnungsgenoffen in Alexandrien [sie] das eigentliche
Darftellungen der Gefchichte der chriftlichen Sitte (S. Grundkapital an theoretifchen und praktifchen Ideen
117—X26) fagt der Verfaffer: ,Der Fortfehritt diefer Dis- ; befchafft worden ift, mit dem dann die fpätere heiden-
ciplin hängt nicht an einigen geiftreichen Reflexionen — chriftliche Kirche gewuchert hat ... In judenchriftlichen
wer hätte die nicht einmal— fondern an der confequenten , Kreifen wurden die feinen Fäden des Mythos gefponnen,

Durchführung eines feften Princips'. In der Vorrede
(p. VI) bemerkt er: ,Es hat jetzt ein Geift des Schmäh
lens und Feilfehens mit den wiffenfehaftlichen Objecten

mit denen das folgende heidenchriftliche Zeitalter dann
das Bild Chrifti überwob, dort wurde das Syftem formuliert
in Bezug auf die Stellung zum Gefetze, das

überhand genommen, der oft die wirklichen pofitiven ; dann im Wefentlichen die katholifche Kirche aeeeptierte.
Ziele der Wiffenfchaft aus den Augen verloren hat. Ich ! Dort ift der Mutterboden für den gnoftifchen Idealismus
bin gewifs der letzte, der nicht wünfehte, dafs jedes wie für den fittlichen Heroismus des Montanismus zu
Datum der Wiffenfchaft, ehe es in die Münze gegeben } fuchen, und endlich — wo anders findet man die Keime
wird, fo oft und fo fcharf als nur möglich geprüft werde: , der grofsen hierarchifchen Organifation der fpäteren
aber die, welche mit diefen Säuren arbeiten, follen fich j katholifchen Kirche, als in diefen von der fpäteren Kirche
doch vor allem hüten, nicht den urfprünglichen Glanz , fo bald vergeffenen Kreifen des Judenchriftenthums?'
der Dinge felbft zu verwifchen'. Das find fchillernde ; Man fleht, es fehlt Nichts. Ift dem fo, wie der Verf.
methodifche Grundfätze, und fchon die Vorrede macht j fagt, dann ift der Katholicismus nichts anderes, als eine
betreffs ihrer Anwendung beforgt, wenn wir aufgefordert ; Stufe in der Gefchichte des Judenchriftenthums. Die Ge-
werden, ,uns in das eigenthümliche Leben der Gemein- f fchichtsbetrachtung Baur's ift hier nicht etwa reprifti-
fchaft der Ebioniten gemüthlich und mit perfönlichem nirt — nein, der Verf. darf den Ruhm in Anfpruch neh-
Intereffe hineinzudenken', und uns verheifsen wird, dafs men, fie überboten zu haben; denn weder Baur felbft

,die trocknen Notizen' über die Judenchriften dann ,ihre___

düftere Geftalt verlieren werden'. Wir hatten bisher ge- 1

glaubt, dafs diefe Notizen zwar nicht düfter oder trocken, " r. 0 s; 93- > Uto« j» dem Ethos diefer judenchriften zwei

u r J !• Cr'. , r j- rS . -l • r 1 • 1 _ Anfchauungsweifen, eine falfch idealiftifche und eine falfch realiftifche

aber fparlich feien, dafs die Detailprufung hier kaum ineinander, ohne ftch wahrhaft zu einem emheMchen AkkordeTver-
erft begonnen habe, und dafs es fomit mindeftens zur fchmelzen'.