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Ausgabe:

1883 Nr. 1

Spalte:

3-4

Autor/Hrsg.:

Weiss, Bernh.

Titel/Untertitel:

Das Leben Jesu. 2. Bd 1883

Rezensent:

Weizsäcker, Carl

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Theologifche Literaturzeitung. 1883. Nr. 1.

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büchern berichtete Gefchichten von David und Salomo,
,in mehr als Einem Falle nicht nur ausgelaffen, fondern
durch den Gang der Erzählung pofitiv ausgefchloffen zu
fein fcheinen'. Das im Tempel 35 Jahre vor feiner Zer-
ftörung entdeckte Gefetzbuch (S. 89. 140 f.) wird bekanntlich
von Vielen als ein Werk Hilkia's im letzten Buche
des Pentateuchs wiedergefunden. Indem Crofs dies erwähnt
, meint er, das moralifche Bedenken gegen eine
pia frans habe nicht viel Gewicht, da nach Gen. 12,10—20.
20. 26, 6—11. 30, 37—43 u. f. w. der Mafsftab der chrift-
lichen Ethik auf die damaligen Juden nicht anwendbar
fei; aber die Identification des Hilkiabuches mit dem
Deut., wie paffend fie auch erfcheine, fei doch nur ,eine
muthmafsliche Erklärung von Thatfachen, für welche es
manche andere uns unbekannte Erklärung geben mag'.
Auch fonft zeigt der Verf. häufig eine Zurückhaltung,
welche uns Deutfchen zum Theil über das erlaubte Mafs
hinauszugehen fcheint. Ich zweifle indefs nicht, dafs das
in edler Sprache verfafste, mit manchen Ausfprüchen
eines Carlyle, Milmah, Stanley gefchmückte Buch von
Crofs gerade um feiner vorfichtigen'Zurückhaltung willen
einen um fo mehr durchfchlagenden Erfolg in England
erzielen wird. Das Werk des wohl der anglikanischen
Kirche angehörigen Verf.'s mufs als ein faft durchweg
erfreuliches Zeichen der Zeit von Allen, die das wahre
Intereffe der Religion und Wiffenfchaft verftehen, mit
herzlicher Freude begrüfst werden.

Bonn. Adolf Kamp häufen.

Weiss, Bernh., Das Leben Jesu. 2. (Schlufs-j Bd. Berlin,
Hertz, 1882. (IV, 636 S. gr. 8.) M. 9. 40.

Der zweite Band ift dem erften fo rafch gefolgt, dafs
man jetzt faft die gefonderte Anzeige des erften als verfrüht
bezeichnen möchte. Das Werk ift dadurch auch
nicht blofs um einen Band, es ift auch innerlich ge-
wachfen. Wenn es fleh im erften Band mit feiner Dar-
itellung gröfstentheils auf einem hiftorifch fo undankbaren
Boden, wie die Vorgefchichte und Anfangsgefchichtc,
bewegte, fo tritt es nunmehr in diefer Fortfetzung an
die wirklichen hiftorifchen Probleme heran. Den erbaulichen
Charakter hat es auch hier beibehalten, zumal
in der Breite der Ausführung, auch in der trefflichen,
doch vorzugsweife rhetorifchen Sprache. Aber in vielen
Theilen hat es doch entfehieden einen hiftorifchen Zug,
fo in der Auffaffung des meffianifchen Gedankens, des
Reichsgedankens und in feinen pfychologifchen Analyfen.
Trotz aller apologetifchen Intention fteht es damit über
manchen anderen, welche zwar diefe Intention nicht
haben, aber viel mehr moderne Ideen in die Gefchichtc
hineintragen. Trefflich ift die Ausführung über die
Ahnung des Todes und die Auffaffung desfelben als
eines heilfamen in Jefus S. 286 f. Ebenfo die Ablehnung
aller Stiftung einer eigenen Religionsgemeinde von Seiten
Jefus, und in gleichem Sinne eines modernen Univerfalis-
mus bei ihm. Mufterhaft ift die Behandlung des Abendmahls
und die zwingende Ablehnung jeder anderen als
einer fymbolifchen Auffaffung der fogenannten Stiftungsworte
. Aber auch reich an anziehenden und beachtens-
werthen Combinationen von Worten Jefu und praktifchen
Momenten ift die ganze Ausführung in hohem Grade;
und wenn diefelben auch vielfach hiftorifch zweifelhaft
bleiben, fo werfen fie doch immer ein belehrendes Licht
auf den Stoff. Zu bedauern ift, dafs auch in diefem
zweiten Theil die .Kritik' fortwährend in einem bitteren
Tone angeklagt wird, zumal wo es fich um Wunder
handelt. Dazu hat doch derjenige kein Recht, der fich
an den entfeheidenden Punkten faft überall der fogenannten
natürlichen Erklärung, wenn auch in milder und
vorfichtiger Form, anfchliefst, und der, trotz aller Ab-
weifung der fortbildenden Sage, doch fich jeden Augenblick
genöthigt fieht zu der Anerkennung, dafs die
Augenzeugen fich das Erlebnifs fpäter noch anders, als

es war, vorgeftellt haben. Man vergleiche für beides
die Erörterungen über die Stillung des Sturms, die
Dämonen in den Schweinen, den Stater, die wunderbare
Speifung, das vermeintliche Wandeln Jefu auf dem See,
die Verklärung, die Heilung des Blindgeborenen, die Erweckung
des Lazarus, das Verdorren des Feigenbaums, die
Sonnenfinfternifs, das Zerreifsen des Vorhangs im Tempel
und dieTodtenauferftehung bei der Kreuzigung. Entfehieden
behauptet ift die Realität der Auferftehung Jefus, wenn
gleich der Lefer das Gefühl haben wird, dafs man fich
doch nur mühfelig dabei zwifchen Realität und Vifion
hindurchwindet. Ein ähnliches Sichdurchwinden ift uns
auch nicht erfpart gegenüber der Parufie-Weisfagung.
Denn einestheils wird die Möglichkeit derfelben begründet
auf ein Innewerden feiner Präexiftenz von Seiten Jefus,
anderentheils in fchlagender Weife anerkannt, dafs die
Erwartung der Parufie in nächfter Nähe auf Jefus' eigenes
Wort zurückgeführt werden mufs, und dann doch wieder
beftritten, dafs in der Weisfagung der Kataftrophe für
Judäa auch fchon die Zerftörung Jerufalems begriffen fei.
Die grofse Hauptfrage aber für die Löfung der hiftorifchen
Aufgabe liegt auch bei diefem Bande in der Benutzung
der Quellen; und man kann dem Verf. nur
dankbar fein für den Verfuch, noch einmal die Synoptiker
und Johannes für feinen Zweck hiftorifchcr Dar-
ftellung zu combiniren, mag auch das Ergebnifs der
Abficht nicht entfprechen. Die überaus freie Vertheilung
der fynoptifchen Stoffe, welche oft überrafcht und faft
befticht, kann doch im Grunde kaum etwas anderes be-
weifen, als dafs wir es eben mit Bolchen Stoffen zu thun
haben, die wir wohl fachlich in Gruppen bringen können,
ohne dafs wir doch dabei ebenfo fehr im Stande find,
den hiftorifchen Ort zu beftimmen. Geht man aber fo
frei mit denfelben um, fo ift es um fo weniger berechtigt,
bei fo offenbaren Sachgruppirungen der Referenten, wie
die Worte über den Täufer, die Reichsgleichnifse, oder
die Sabbathgefchichten im wefentlichen an den Gruppen
als hiftorifchen feftzuhalten. Die Hypothefe ficherer
Quellen für alles endlich, namentlich auch für die Lukasberichte
, mufste mit Nothwendigkeit dahin führen, dafs
die Deutung fcheinbar vereinfacht, in Wirklichkeit ab-
fchwächt, wie bei Lazarus und dem reichen Mann, dem
barmherzigen Samariter und anderem, auch in der Erklärung
von Schlagworten, wie das Tragen des Kreuzes.
Sehen wir andererfeits auf die Johannes-Reden, fo ift es
nur anzuerkennen, dafs der Verf. in fehr vielen Fällen
die weitefte Anwendung gemacht hat von der Voraus-
fetzung einer ganz freien apoftolifchen Ueberlieferung,
wie er z. B. annimmt, dafs Jefus felbft fich nicht mit dem
Weinftock verglichen habe. Wenn er aber mit nicht geringer
Gewandtheit die Worte Jefu von c. V bis XVI
pragmatifch zurechtlegt, und fie nach fynoptifchen Motiven
erläutert, fo ift es nur zu wohl erklärlich, dafs der
Gehalt überall etwas abgemindert, und dafs auch über
den Zufammenhang fo frei verfügt wird, wie Job. 6, wo
mitten inne die Scene in Nazaret fpielen foll. Die Zu-
fammenarbeitung von Synoptikern und Johannes aber ift
nun auch die Urfache, dafs die Wendepunkte in der Ge-
fchichte Jefu auf allen Seiten verlieren, ftatt an Licht zu
gewinnen. Das Bekenntnifs des Petrus verliert feine
epochemachende Bedeutung, es kann fich dabei nur um
weiteres Beharren handeln; ebenfo wird die Nachfrage
des Herodes bedeutungslos, nur das Revolutionsanerbieten
des Volkes nach Joh. 6 ift entfeheidend. Aber
freilich andererfeits auch die Bedeutung, welche die Auf-
erweckung des Lazarus für die letzte Kataftrophe hat,
mufs herabgedrückt werden; und über das Motiv des
Einzugs in Jerufalem, ob letzter Verfuch, oder Ausdruck
der Ergebung in die Gewifsheit des Leidens, kann die
j Darftellung nur eine fchwankende fein. Johannes bekommt
Recht mit dem Datum des Todestages, aber um
! den Preis, dafs Jefus mit Abficht feinen Tod als wahres
! Paffa darfteilen wollte. Es ift doch wohl im letzten