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Ausgabe:

1883 Nr. 9

Spalte:

208-210

Autor/Hrsg.:

Plitt, Gust.

Titel/Untertitel:

Dr. Martin Luthers Leben und Wirken 1883

Rezensent:

Kawerau, Gustav

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Theologifche Literaturzeitung. 1883. Nr. 9.

208

man mufs dann doch vor allen Dingen unterfcheiden
zwifchen jenen Vorläufern des Hus und den Theologen
der Prager Univerfität, die fpäter unter ganz anderen
Verhältnifsen und mit ganz anderer Richtung an der
Spitze der .Prager' (Calixtiner) flehen. Gerade bei jenen
Volkspredigern vor Hus finden fich doch einzelne wefent-
liche Momente, die vielmehr an die fpätere Entfeffelung
der Geifter im Taboritenthum erinnern: die Richtung an
die volksthümlichen Kreife, die flets wachfende Verbindung
mit dem national cechifchen Gedanken, die
Hereinziehung der apokalyptifchen und efchatologifchen
Erwartungen feit Milic, und endlich auch die fittliche
und religiöfe Tiefe, die uns doch vielmehr an die keineswegs
zu verachtenden edleren Beftandtheile der
Taboriten gemahnt, als an die fteife calixtinifche
.Hochkirche'. — An der Umfetzung des Waldenferthums
in das Taboritenthum dürfte ungleich mehr Wahres fein.
Allein man wird (vgl. neuerdings auch Göll, Quellen
und Unterfuchungen zur Gefch. der böhm. Brüder, 2,
37—41) doch nicht weiter gehen können als bis zur
Annahme einer fehr bedeutenden Einwirkung des
Waldenferthums auf das Taboritenthum. Auch wenn
man von der nationalen und focialen Seite der Bewegung
abfieht (obwohl man diefelbe doch nicht nur fo ifoliren
kann), bleibt noch manches Stück übrig, das im Walden-
ferthum an fich nicht liegt, im Taboritenthum aber eine
höchft bedeutende Rolle fpielt: ich erinnere ftatt alles
andern nur an eines, den Chiliasmus. — Man wird fich
allerdings befonders forgfältig hüten müffen, das Walden-
ferthum als eine überall identifche Erfcheinung anzufehen.
Denn das Wurzeln der Waldenfer befonders in den niederen
und armen Schichten des Volkes, fowie der auffallende
Mangel derfelben an einer ftrafferen Organifation,
bringt es mit fich, dafs die verfchiedenen Elemente des
Volkslebens, die fociale Lage und Noth, überhaupt alle
Gefchicke eines Volkes auf das in feiner Mitte flehende
Waldenferthum befonders lebhaft wirken konnten. Deshalb
mag es denn in Böhmen bei den damaligen Verhältnifsen
fchon früher zu einer Durchdringung des
Waldenferthums mit den dort umgehenden nationalen
und focialen Beftrebungen gekommen fein. Allein es ift
das Doppelte zu bedenken: einmal, dafs man über die
Ausbreitung der Waldenfer in Böhmen bisher immer noch
recht ungenügend unterrichtet ift (vgl. bef. Göll a. a. O.
S. 37, n. 1) und fodann, dafs es zwar an Nachrichten
über ähnliche Abwandlungen des urfprünglichen Waldenferthums
in benachbarten Gegenden nicht fehlt {cf. z. B.
Preger, Beiträge zur Gefch. der Waldefier S. 49), dafs
man dann aber eben fchon ein anderweitig beeinflufstes
Waldenferthum vor fich hat. Woher diefe Einflüffe flammen
würden, ift hier nicht zu unterfuchen. Ich verweife
in einer Beziehung auf meine fchon genannte Anzeige

Element viel zu fpeciell auf die Secte von Hall und die
deutfche Kaiferfage zurückzuführen. Der Bauernkrieg ift
dem Verf. durchaus zutreffend der letzte Verfuch einer
Verwirklichung diefes grofsen religiös-focialiftifchen Programms
des Mittelalters. Auch darin bin ich im Wefent-
lichen mit ihm einverftanden, dafs das Täuferthum des
16. Jahrhunderts mit dem Taboritenthum in nahe Verbindung
zu bringen ift, wenn ich auch bei der Kürze
feines Ausdrucks nicht beurtheilen kann, ob wir beide
dasfelbe darunter verftehen. Dagegen hätte ich die letzten
Sätze von S. 59 unten an lieber weggewünfcht.

Die Schrift ift reich an Gedanken und fehr über-
fichtlich und klar gefchrieben. Dafs ich die erfteren
vielfach nicht als richtig anzuerkennen vermochte, wird
der Schätzung der Arbeit keinen Eintrag thun. Hoffentlich
begegnet man dem Verf. noch oft mit derartigen
Früchten feines Studiums.

Berlin. Karl Müller.

Plitt, Prof. Dr. Guft., Dr. Martin Luthers Leben und Wirken.

Zum 10. Novbr. 1883 dem deutfchen evangelifchen
Volke gefchildert, vollendet von Hauptpaft. E. F.
Peterfen. 9 Lfgn. Leipzig, Hinrichs, 1883. (X, 570 S.
8.) ä M. —. 50; cplt. geb. M. 5. 50.

Es war zu erwarten, dafs das Lutherjubiläum uns
mit Lutherbiographien aller Art verforgen würde; nicht
ohne ein geheimes Grauen vor der Üeberproduction,
welche der Büchermarkt auf diefem Gebiete heuer zu
Tage fördern wird, muftern wir die Novitäten des
Büchertifchcs und die Buchhändlerprofpecte — denn von
allen Seiten rücken die .Leben Luthers' in's Feld, illu-
ftrirt und nicht illuftrirt, für's Volk und für das gebildete
Publicum, und was das Schlimmfte ift, nicht von Berufenen
allein, fondern auch von manchen Unberufenen
verfafst. Da ift es denn eine Freude, einer Arbeit zu
begegnen, die nicht den alten braven Mathefius abermals
ausschreibt, oder wenn fie in der Cultur fchon
weiter vorgefchritten ift, aus Meurer oder Köftlin einen
neuen .Luther' fabrizirt, fondern in jeder Zeile den
felbftändigen, auf eignen Füfsen flehenden Forfcher
verräth. Dafs der fei. Plitt wie wenige Theologen durch
jahrelanges Studium der Quellen zu einer eigenartigen
Darftellung des Lebens Luther's befähigt war, das bedarf
nicht erft eines Nachweifes. Aber mit Freuden fei auch
das conftatirt, dafs er als Stilift den rechten Ton für
ein dem deutfchen evangelifchen Volke gewidmetes Buch
überaus glücklich zu treffen gcwufst hat: frifch und klar,
ohne alle Ueberfchwänglichkeit, aber mit warmem und
lebendigem Bewufstfein von den Gottesführungen und
Gottesfegnungen, die in Lebensweg und Lebenswerk
von Höniger's Schrift. I des deutfchen Reformators zu Tage treten. Leider ift

Durch die Berührung mit dem Hufitenthum Böhmens j Pfitt's Manufcript nicht von ihm felber zu Ende gebracht,
tritt übrigens die Sectengefchichte des benachbarten ; Aus dem Vorwort ift zu erfehen, dafs jenes auf S. 308
Frankens ohne Zweifel in ihr intereffanteftes Stadium, j bei der Schilderung der Verehelichung Luther's abbricht,
und diefer und die folgenden Abfchnitte find auch in ; und dafs von da an die Arbeit des Fortfetzers beginnt,
der vorliegenden Schrift wohl diejenigen, in denen fich Letzterer bekennet, dabei wefentlich das gröfsere Köft-
der Verf. mit Recht am ficherften fühlt. Man mag hier lin'fche Werk benutzt zu haben, und das hat er in recht
immerhin über Einzelnes anderer Anficht fein: ich glaube ! gefchickter und anfprechender Weife gethan. Da
z. B., dafs der Verf. im Auffpüren hufitifcher Sympathien wir es in Plitt mit einem felbftändigen Lutherforfcher
zu eifrig gewefen ift: Dinge, wie fie S. 37 erwähnt werden, zu thun haben, fo kommt feine Arbeit nicht nur als
find doch lediglich Beweife einer Ueberordnung der Volksfchrift in Betracht, fondern fie intereffirt auch den
Handelsintereffen über die Rückfichten auf die kirchliche Theologen wegen ihrer Stellungnahme zu den verfchie-
Böhmenfperre. Ich glaube ferner, dafs er fich zu rafch denften ftrittigen Punkten der Lutherbiographie, wenn
der von Böhm vorgenommenen Identification Friedrich wir auch bei dem populären Charakter des Buches uns
Reifer's mit dem Verf. der Reformation Siegmund's an- j mit Behauptungen begnügen und auf quellenmäfsige
gefchloffen hat. Allein das hindert nicht anzuerkennen, ! Begründung Verzicht leiften müffen. Da ift es z. B. von
dafs das Durcheinanderwogen der verfchiedenen Ström- ! Intereffe zu erfehen, dafs nach Plitt das päpftliche Breve
ungen focialer, kirchlicher und religiöfer Oppofition, das vom 23. Auguft 1518 an Kajetan (im Gegenfatz zu Köftlin
Durchdringen derfelben durch alle Schichten der Gefell- j und Kolde) höchft wahrfcheinlich eine Fälfchung ift, die
fchaft treffend und vielfeitig gefchildert ift: nur hat er allem Anfchein nach nicht ohne Mitwiffen des Kardinals
fich auch hier wieder verleiten laffen, das apokalyptifche j aus der Dominikanerfchmiede hervorgegangen fei (S. 117).