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Ausgabe:

1883

Spalte:

197-201

Autor/Hrsg.:

Nösgen, Carl Friedr.

Titel/Untertitel:

Commentar über die Apostelgeschichte des Lukas 1883

Rezensent:

Weiß, Bernhard

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Theologifche Literaturzeitung. 1883. Mr. 9.

zu nehmen ift. Im vorliegenden Fall aber find wir keinen
Augenblick in Zweifel, nach welcher Seite wir uns zu
entfcheiden haben. So gewifs wir uns mit dem Verf.
zu dem Glauben an reelle Gottesoffenbarungen durch
die Propheten bekennen, fo gewifs ift uns auch, dafs fie
diefelben nicht mit den Augen des Fleifches gefchaut
haben. Was geiftlich ift, das will geiftlich gerichtet fein.

Wenn wir trotz diefer Differenz in einem Hauptpunkte
dem Werke zahlreiche und eifrige Lefer wünfchen,
fb gefchieht- dies in der Ueberzeugung, dafs es diefe
Empfehlung fchon durch die Fülle des exegetifchen und :
biblifch-theologifchen Details verdient, die in ihm niedergelegt
ift. Das dem 2. Bande beigefügte ausführliche
Stellenregifter wird nicht verfehlen, mancherlei Unter-
fuchungen des Verf.'s befonders für die Exegefe der
prophetifchen Bücher im Einzelnen nutzbar zu machen.

Tübingen. E. Kautzfeh. j

Nösgen, Pfr. Carl Friedr., Commentar über die Apostelgeschichte
des Lukas. Leipzig, Dorffling & Franke,
1882. (VIII, 496 S. gr. 8.) M. 6. -
Was einen an dem vorliegenden Buche zunächft erfreut
, ift die wohlthuende Erfahrung, dafs in unferen
evangelifchen Pfarrhäufern hin und her immer noch
theologifch fortgearbeitet und zwar ganz energifch gearbeitet
wird, fogar mit einem wiffenfehaftlichen Apparat, 1
wie man ihn bei der auf keinerlei Luxus berechneten !
Dotation unterer Pfarrftellen nicht erwarten follte. Man
darf fich durch das Vorwort von C. F. Keil, das wohl
nur gewiffen Kreifen vorweg jedeBeforgnifs vor kritifchen
Ketzereien, wie fie bei einer Arbeit über die Apoftelgefchichte
fo nahe liegen, nehmen foll, nicht zu der Befürchtung
verleiten laffen, dafs wir es hier nur mit einem
fleifsigen Sammelwerk aus den vorhandenen Commen-
taren und apologetifchen Schriften über die Apoftelge-
fchichte zu thun haben. Hier ift von Anfang bis zu
Ende felbftändige Arbeit, und keineswegs blofs auf
dem exegetifchen Gebiete im engeren Sinne. Der Verf.
fcheut fich nicht, in biblifch-theologifche, wie in archäo-
logifche und chronologifche Probleme fich eingehend zu
vertiefen, den mühevollften Detailbeobachtungen über
den Sprachgebrauch und die Textüberlieferung der
Apoftelgefchichte nachzugehen. Er ift mit der einfchlag-
enden Literatur gründlich vertraut und liebt es fogar,
hie und da auch auf andere Gebiete abzufchweifen, auf
die ihn feine Detailftudien gelegentlich geführt haben.

Allerdings ift die Tendenz des Buches eine wefent-
lich apologetifche. Nicht als ob der Verf. fich verberge,
dafs die Reden der Apoftelgefchichte vielfach der Form J
nach durch Lucas gehaltet feien; aber felbft der antio-
chenifchen wie der athenifchen Rede des Paulus liegen
eigene Referate des Apoftels über fie an feine Schüler
zu Grunde. Aus feiner Erinnerung flammen nicht nur
die Stephanusrede und die Verhandlungen vor dem
fogenannten Apoftelconcil, fondern felbft frühere Verhandlungen
vor dem Synedrium werden auf den cilici-
fchen Gamalielfchülcr zurückgeführt. In anderen Erzählungen
des jerufalemifchen Abfchnitts glaubt der Verf.
noch die Hand des Apoftel Johannes zu erkennen; und
um die Annahme fchriftlicher Quellen auch für den erften
Theil abweifen zu können, hat er fich eine Vorftellung
von Ueberlieferungen aus den Kreifen der Urgemeinde
gebildet, zu deren feftem aramäifchen Sprachtypus fich
die Wiedergabe des Lucas oft geradezu wie eine Ueber-
fetzung mit Erläuterungen und Zufätzen verhält. Daher
beirrt es ihn in jener Vorausfetzung nicht, dafs nach
feiner eigenen Zählung in der^ zweiten Hälfte der Acta
die Zahl der Wörter der y.om] faft doppelt fo grofs ift,
wie in der erften. In 23, 35 findet er eine Andeutung [
des Lucas felbft, dafs derfelbe den Bericht des P"elix an
Lyfias nur nach Hörenfagen reconftruirt hat, und fchliefst
daraus auf eine um fo gewiffere urkundliche Treue in 1

der Mittheilung anderer Documente, wie des Schreibens
der jerufalemifchen Muttergemeinde (15, 23 ff.), über
deffen griechifche Conception er felbft Vermuthungen
wagt. Da er den Prolog des Evangeliums mit auf die
Apoftelgefchichte bezieht, fleht ihm die denkbar gröfste
u/o/Jeia des Lucas in allen Theilen der letzteren feft,
und wiederholt meint er jeden Zweifel an derfelben mit
Berufung auf das Verfprechen desfelben zurückweifen zu
können. Im zweiten Theile der Acta liegen ältere Aufzeichnungen
des Verfaffers felbft zu Grunde. Die Reden
des Paulus zeigen nicht nur überall die genuine paulinifche
Lchranfchauung, der Verf. findet fich fogar überall di-
rect an paulinifche Ausdrucksweife erinnert, deren Nach-
weifung freilich oft recht fragwürdig erfcheint (vgl. z. B.
S. 380. 453. 466). Dem apologetifchen Intereffe dient
auch hie und da (vgl. z. B. S. 345. 458; die feltfame
Annahme des Verfaffers, dafs die Apoftelgefchichte ein
,Privatbrief' fei, in dem Lucas auf gewiffe ihm bekannte
Bedenken des Verf.'s antwortet (S. 9), zumal damit
wunderlich genug die Ableitung des didaktifchen Zwecks
der Apoftelgefchichte aus den Gewohnheiten des Poly-
bius und der Annaliften des Alexandrinifchen Zeitalters
(S. 2) contraftirt. Uebrigens ift die Durchführung diefes
didaktifchen Zwecks eine durchaus mafsvolle, die Kün-
fteleien der neueften Erlanger Auffaffung werden energifch
abgewiefen; und wenn auch die S. 8 gegebene Dis-
pofition des Buches durch eine zu einfeitige Betonung
der Verftockung der Juden beeinflufst ift, fo wird fich
gegen die Grundgedanken derfelben fchwerlich Erhebliches
einwenden laffen.

Im Uebrigen hegt Ref. eine zu verfchiedene Anficht
von den Quellen und der Compofition des erften Theils
der Apoftelgefchichte, fowie von der ganzen Hiftorio-
graphie des Lucas, als dafs eine Auseinanderfetzung
mit dem Verf. über diefe Dinge im Rahmen einer Re-
cenfion möglich wäre. Dazu kommt, dafs ich durch die
Ausführungen über Berufung und Verftofsung, über das
Wirken des heiligen Geiftes und über Gnade und Glauben
(S. 30—34) unmöglich erwiefen finden kann, dafs
die Lehranfchauung des Lucas die echt paulinifche fei.
Auch ich überzeuge mich trotz immer erneuter Durchprüfung
der Frage immer fefter davon, dafs die
Hypothefe, wonach die fogen. ,Wir-Abfchnitte' einer
felbftändigen Quelle entflammen, in allen Formen unhaltbar
ift und jedenfalls noch gröfsere Schwierigkeiten
hat, als die Annahme, dafs fie von dem Verfaffer der
Apoftelgefchichte herühren. Aber fo leicht, wie der Verf.,
kann ich doch manche der dagegen geltend gemachten
und manche noch gar nicht bemerkten Schwierigkeiten
nicht nehmen. Ueberhaupt je mehr ich vielfach mit der
Grundrichtung feiner Polemik ubereinftimme, um fo
mehr hätte ich diefelbe doch oft etwas tiefer gehend
und etwas treffender gewünfeht. Es ift ja wirklich nicht
nöthig, wenn man feine Antithefe wohl begründet und
die Thefe des Gegners als unhaltbar aufgewiefen hat,
jeden Einfall desfelben und jede Wendung in feiner Argumentation
zu widerlegen, am wenigften in einem Commentar
zum praktifchen Gebrauche. " Thut man es aber,
fo darf man nicht Gründe bringen, die vom Standpunkte
des Gegners aus nicht gelten, weil fie eben von anderen
Vorausfetzungen ausgehen.

Der eigentliche Commentar befolgt die reproduetive
Methode, hat aber m. E. den hauptfächlichen Werth
derfelben auf's Höchfte beeinträchtigt durch die Art,
wie die fprachlichen und textkritifchen Nachweifungen
und Erörterungen theils einfach in die Entwickelung des
Inhalts eingeflochten find, theils diefelbe in Parenthefen
unterbrechen, die oft fo zahlreich und umfangreich find,
dafs man kaum im Stande ift, den Faden der eigentlichen
Darlegung feftzuhalten. Aber auch abgefehen
von diefem formellen Mangel zeigt fich doch hier recht
deutlich, dafs diefe Methode auch ihre grofsen Bedenken
hat. Obwohl man dem Verf. ficher nicht Sorglofigkeit