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Ausgabe:

1883 Nr. 8

Spalte:

180-182

Autor/Hrsg.:

Christ, Paul

Titel/Untertitel:

Der Pessimismus und die Sittenlehre 1883

Rezensent:

Schlosser, Georg

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179 Theologifche Literaturzeitung. 1883. Nr. 8. 180

lieh betont, dafs die jetzige Anwendung diefes Begriffes
erft allmählich erworben fei. Als ob hiermit der kantifche
Sinn des Apriori ftritte! Für die Thatfache, dafs in dem
vollen Lichte des entwickelten, die Wiffenfchaft erzeugenden
Bewufstfeins der Caufalitätsbegriff a priori gilt,
ift es völlig gleichgültig, aus was für verworrenen pfychi-
fchen Vorgängen die erfte Anwendung jenes Begriffes
hervorgetreten fei. Wenn der Verf. die Erforfchung
diefer Vorgänge für eine würdige Aufgabe der Philo-
fophie hält, fo braucht er wenigstens nicht zu beforgen,
dafs ihn die kantifche Lehre von a priori geltenden
Begriffen darin ftören wolle. Im Grunde hält ja er felbft
diefe Lehre für richtig. Auf S. 55 fpricht er als feine
eigene Meinung aus, dafs, wenn zwifchen Illuüonen und
objectiver (Wahrnehmungs-) Realität unterfchieden und
von dem Unterfchied Rechenfchaft gegeben werden foll,
letzten Grundes das Durchfchlagende .der caufalgefetz-
liche Zufammenbang mit anderen Wahrnehmungen ift.
Das bedeutet eben auch die Apriorität des Caufalitäts-
begriffes bei Kant, dafs wir, um wirkliche Dinge confta-
tiren zu können, die urfachliche Verknüpfung der Wahrnehmungen
vornehmen müffen. Wenn der Verf. einmal
diefe kantifche Einficht über die Bedeutung des Caufa-
litätsbegriffes erworben hat, fo mufs er einräumen, dafs
er felbft nicht diefen Begriff deshalb für richtig hält, weil
er urfachliche Verknüpfung wirklicher Dinge gefehen hat,
fondern dafs er vielmehr diefe Dinge nur deshalb als wirkliche
anfleht, weil er vorher die urfachliche Verknüpfung
der Wahrnehmungen vollzogen hat. Es ift fehr erfreulich,
zu fehen, dafs der Verf. trotz feines vermeintlichen Pofitivis-
mus in einem fo entfeheidenden Punkte mit Kant über-
einftimmt. Vielleicht verhält es fich nun mit dem Freiheitsbegriffe
ähnlich. Auf S. 59 fagt der Verf. zwar, er
vermöge nur eine empirifch nachweisbare Freiheit
moralifch werthvoll zu finden. Er verbirgt fich dabei
nicht, dafs es fchwierig fein möchte, innerhalb der von
dem Caufalitätsbegriff beherrschten Erfahrung, etwas aufzuzeigen
, was den Namen Freiheit verdient. Trotzdem
will er nur eine auf diefem Gebiete fich darbietende
Freiheit gelten laffen. Er fürchtet nämlich, dafs eine
nicht empirifch nachweisbare Freiheit, wie bei Kant, dazu
führen möchte, eine unüberbrückbare Kluft zwifchen
Mcnfchen und Thieren aufzureifsen. Aber fo human
denkt der Verf. ohne Zweifel auch, dafs er bisweilen
einen Standpunkt einnimmt, auf welchem er Menfch und
Thier als fpeeififeh unterfchieden betrachtet. Er thut
dies nämlich dann, wenn er an der Hervorbringung
einer fittlich geordneten Gemeinfchaft theilnimmt. Um
dies ins Werk zu fetzen, wird er fich nicht Thiere,
fondern Menfchen ausfuchen. Warum? Weil wir eben
die Wefen Menfchen nennen, von denen wir vorausfetzen
, dafs fie das vernehmen können, was auch der
Verf., obgleich er natürlich Pofitivift bleiben will, ewige
Ideale nennt. Der Verf. richtet an fich und Andere
Forderungen, von denen er fich zugleich bewufst ift,
dafs er ihre Geltung nicht aus feinen Erfahrungen innerhalb
der Gefellfchaft ableitet. Er mufs fich vielmehr
fagen, dafs er fich felbfl den Bereich der menfehlichen
Gefellfchaft fchliefslich nur vermitteln diefer Forderungen
feftftellt. Sie ftellen alfo apriori geltende Elemente unferes
Sittlichen Bewufstfeins dar; und es ift bei ihnen wiederum
unzweifelhaft, aber auch für die Frage nach ihrer Geltung
irrelevant, dafs fie in der Menfchheit Sowohl wie im Individuum
nur als Ertrag einer geiftigen Entwicklung
rein hervortreten. Mit den Forderungen aber, die er
felbft nicht durch Berufung auf die Erfahrung vor fich
rechtfertigt, handhabt der Verf. in feiner Sittlichen Praxis
den kantifchen Freiheitsbegriff, den er als Philofoph von
Sich abweift. Denn ein Wille, der nicht blofs von Erfahrungen
getrieben, fondern durch Ideale geleitet werden
foll, ift dadurch aus aller Analogie mit Naturwefen herausgerückt
. In einer Zumuthung jener Art liegt ftets das
Urtheil, der Wille fei als frei anzufehen in dem Sinne,

dafs er in feiner Handlung nicht ein Glied einer end-
lofen Caufalreihe, fondern der Urheber der Handlung
fei. Jeder alfo, der Sich, wie der Verf., idealen Forderungen
unterwirft, durchbricht auch in dem Gedanken
der Freiheit die Schranken des Naturerkennens und denkt
das Ueberfinnliche. Dafs der Verf. fich diefe in feiner eigenen
Sittlichen Ueberzeugung liegenden Begriffe verdeckt, ift
nun für feine Beurtheilung der kantifchen Religionsphi-
I lofophie fehr nachtheilig. Denn von Allem, was Kant
j auf diefem Gebiete geleiftet hat, ift für uns nichts fo
wichtig, als die Erkenntnifs, dafs die Wahrheit des reli-
I giöfen Glaubens nicht in feinem Einklang mit dem Naturerkennen
zu Suchen fei, fondern in feinem Verhältnifs
zu dem Gedanken einer übersinnlichen Realität, der in
der Sittlichen Ueberzeugung liegt. Seine Fehler dürften
gewefen fein, dafs er jenes Verhältnifs nicht richtig bestimmt
und dafs er die gerade von feiner Ethik aus leicht
erreichbare Einficht in den hiftorifchen Charakter aller
Religion nicht befeffen hat. Der letztere Fehler ermöglicht
aber dem Verf. den Anfchlufs an Kant, den er
lediglich als einen Heros der Aufklärung zu würdigen
weifs. Dafs mit jener Erkenntnifs Kant's die Gefchichte
des Conflicts zwifchen Glauben und Wiffen in ein völlig
neues Stadium getreten ift, hat der Verf. überfehen. I )a-
gegen ift anzuerkennen, dafs er an dem Aufklärer Kant
richtig hervorhebt, er habe die Ahnungs-, Gefühls- und
Gemüthsfeite, welche in aller Religion mitfpiele, nicht zu
ihrem Rechte kommen laffen und daher die Reaction
in den Ausfchreitungen der Romantiker mitverfchuldet.
Die eigenen Aufstellungen des Verf.'s über religionsphilo-
fophifche, kirchliche und politifche Fragen find zu flüchtig
hingeworfen, als dafs fie hier einer Kritik bedürften.

Marburg. W. Herr mann.

I---.-.

i Christ, Paul, Der Pessimismus und die Sittenlehre. Haar-
lem, de Erven F. Bohn, 1882. [Leipzig, Harraffowitz.]
(III, 185 S. gr. 8.) M. 3. 50.

Die Behauptung des Peffimismus, die allein wahre
Grundlage einer gereinigten Sittlichkeit und Sittenlehre
zu fein, hat für den erften Anfchein etwas bestechendes.
Seine Lehre von der Verderbtheit der menfehlichen
Natur und der Nichtigkeit alles Erdenglückes fcheint
! den christlichen Anfchauungen viel näher zu Stehen, als
der vulgäre eudämoniftifche Optimismus. Oder nimmt es
fich nicht ganz chriftlich aus, wenn Hartmann gegen
den der menfehlichen Natur tief eingewurzelten Egoismus
als die Grundwurzel aller Unfittlichkeit angeht, wenn er
j alle wahre Sittlichkeit mit der Selbstverleugnung, mit
: dem aus den bitteren Erfahrungen des Lebens herausgeborenen
Verzicht auf egoiftifche Anfprüche an Erdenglück
und eigenes Wohlfein anheben läfst? Unwillkürlich
klingen da Worte des Herrn an und andere Aussprüche
der Schrift, welche von Selbstverleugnung
und von der Erziehung zu wahrer Gerechtigkeit durch
Leiden handeln. Andererfeits enthalten die chriftlichen
Kreuzlieder Stellen, welche, fcheint es, Hartmann ohne
weiteres unterfchreiben könnte. So, wenn es in einem
folchen z. B. heifst: ,Dafs du dein felbft nur erft kommft
! los, fo ftehe aller Dinge blofs, fei, wie es geht, zufrieden.
Nimm dich nichts an, fo ift's gethan und bleibt die Sünd
vermieden'; oder wenn ein anderes, das anhebt: ,Sei mir
taufendmal willkommen, füfses Leiden, liebes Kreuz',
im Schlufsvers bittet: ,Jefu, ftürm' in mir die Hölle
der verfluchten Eigenheit'. Aber wenn nicht fchon die
Thatfache, dafs die christliche Gefinnung diefer Liederfänger
keinen grimmigeren Feind befitzt, als Ed. v. Hartmann
, uns bald eines anderen belehrte, fo genügte ein
kurzer Blick in die peffimiftifchen Anfchauungen, uns
zu überzeugen, dafs hinter der oberflächlichen Ueber-
einftimmung radicale Gegenfätze verborgen find. ,Sei
mir taufendmal willkommen, füfses Leiden, liebes Kreuz',
das ift nichts weniger als peffimiftifch gedacht. Wohl