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Ausgabe:

1882

Spalte:

169-170

Autor/Hrsg.:

Engelhardt, von

Titel/Untertitel:

Die ersten Versuche zur Aufrichtung des wahren Christenthums in einer Gemeinde von Heiligen. Ein Beitrag zur Geschichte des christlichen Lebens 1882

Rezensent:

Harnack, Adolf

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Seite 1

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Theologische Literaturzeitung.

Herausgegeben von D. Ad. Harnack und D. E. SchÜrer, Proff. zu Giefsen.

Erfcheint Preis
alle 14 Tage. Leipzig. J. C. Hinrichs'fche Buchhandlung. jährlich 16 Mark.

N°- 8.

22. April 1882.

7. Jahrgang.

Engelhardt, von, Die erden Verfuche zur Aufrichtung
des wahren Chridenthums in einer
Gemeinde von Heiligen (A. Harnack).

Aube, Les Chretiens dans l'empire Romain de
la fin des Antonins au milieu du Ille siecle
(Overbeck).

Aubd, Etüde sur un nouveau texte des Actes des
martyrs Scillitains (Overbeck).

Uhlhorn, Die chridliche Liebesthätigkeit in der
alten Kirche (Weizfäcker).

Föde, Die Reception Pseudo-Ifidors unter Nicolaus
I. und Hadrian II. (Wafferfchieben).

Zezfchwitz, von, Lehrbuch der Pädagogik

(K. Strack).
Muff, Theater und Kirche (Lemme).
Neue Chridoterpe, 3. Jahrg. hrsg. von Kögel

u. f. w. (Meier).
Einfame Wege (Wächtler).
Romundt, Antäus (Gottfchick).

Engelhardt, Prof. von, Die ersten Versuche zur Aufrichtung
des wahren Christenthums in einer Gemeinde von
Heiligen. Ein Beitrag zur Gefchichte des chriftlichen
Lebens. [Aus: ,Mitthlgn. u. Nachrichten f. d. ev.
Kirche in Rufsland'.] Riga 1881. (Dorpat, Karow.)
(49 S. gr. 8.) M. 1. 20.

Die vorgehende Abhandlung, aus einem Vortrage
entftanden, ift die letzte Arbeit des am 5. December
1881 entfchlafenen Verfaffers. Aus einer reichen und
gefegneten Wirkfamkeit ift er uns entriffen worden: fein
Heimathland hat an ihm den beften Patrioten, die evan-
gelifche Kirche im ruffifchen Reiche den verehrteften
Lehrer und treueften Berather verloren. In den Herzen
feiner Schüler, die nach vielen Hunderten zählen, hat
er fich ein bleibendes Denkmal aufgerichtet. Wer ihm
je nahe treten durfte, dem haben fich die Züge diefes
chriftlichen Charakters unauslöfchlich eingeprägt. Auch
der Unterzeichnete darf fich zu den Schülern des Entfchlafenen
rechnen: den kirchengefchichtlichen Vorlef-
ungen von Engelhardt's verdankt er die Grundlage
feiner theologifchen Bildung. Aber der Einflufs, den
v. E. ausgeübt, ging weit über das gewöhnliche Mafs
des Einfluffes akademifcher Docenten hinaus. Wie er
mit feinen Schülern gearbeitet hat, fo hat er auch mit
ihnen und für fie gelebt. Er kannte keine Scheidung
zwifchen dem Theologen und dem Menfchcn, und er
felblt zeigte an feiner Perfon und in feiner Arbeit, dafs
evangelifcher Glaube und ehrliche theologifche Forfchung
zusammengehören. ,Was wahr ift, mufs gefagt werden,
und follten auch wir und was wir gebaut darüber zu-
fammenbrechen'. Weil er ein Gott vertrauender Chrift
war, war er ein befcheidener und ein tapferer Mann.
Er hat nie grofs von fich und feiner Arbeit gedacht,
aber die Sache, der er diente, war ihm eine grofse und
heilige. Er hat nicht ohne Beforgnifs den Gang der
Entwicklung der kirchlichen und politifchen Verhältnifse
in deutfehen Landen verfolgt, aber nie hat ihn Jemand
kleinmüthig oder verzagt gefehen. Immer wieder hat er
es auf's tieffte beklagt, dafs unfere Kirchenpolitik von der
Angft und der Ungeduld lebe, dafs man das Vertrauen
auf die göttliche Leitung der Gefchichte einzubüfsen in
Gefahr fei. In ihm war etwas von der grofsen Zuverficht
Luther's, dafs das Evangelium allein, das Wort
Gottes, alles ausrichten müffe. In folcher Zuverficht und
durch feine peinliche Gewiffenhaftigkeit, wo es zu handeln
galt, ift er denen oft unbequem geworden, die
fchncll fertig fein wollten, um fchnell Hand anzulegen.
Er ift zeitlebens bei aller Fertigkeit in Gefinnung und
Charakter ein Werdender gewefen, und darum gab es
keinen dankbareren Mann als ihn. Sein letztes gröfseres '

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Werk, die Monographie über Juftin, bezeugt, wie er bereit
gewefen ift, von Jedem zu lernen, der etwas Erhebliches
erarbeitet; dafs er aber felbft in diefem Buche uns
Vieles gelehrt hat, kann nur ein Voreingenommener be-
ftreiten. Eine Monographie über Irenaus follte folgen.
Mehrere Briefe an den Unterzeichneten zeigen, mit welcher
Umficht und Hingebung von Engelhardt die
neue Aufgabe bereits in Angriff genommen hatte. Es
ift nicht zu hoffen, dafs aus den nachgelaffenen Papieren
etwas Abgefchloffenes veröffentlicht werden kann. Die
vorftehende Abhandlung mufs als kleiner Erfatz dienen.
In ihr wird ein Gedanke durch die alterte Gefchichte der
Kirche illuftrirt, der dem Verf. ftets einer der wichtigften
im Bereiche der Dogmengefchichte gewefen ift. Es handelt
fich um die Einficht, dafs die katholifche Askefe
Folge einer unvollständigen refp. falfchen Auffaffung von
der göttlichen Gnade gewefen ift, fofern an die Stelle
des Gedankens der Stetigen, gnädigen Gefinnung
Gottes die Auffaffung von einzelnen Thaten und
Gnadenwirkungen Gottes, und an die Stelle des
Gedankens der Aufhebung der Sündenfchuld, der andere
von der Befreiung aus der Macht der Sünde
getreten fei. An der Gefchichte der Kirche bis zur Entstehung
des Mönchthums wird dies in grofsen und kräftigen
Zügen nachgewiefen, wobei befonders hervorgehoben
wird, wie die Umfetzung der religiöfen Auffaffun-
gen in die moraliftifchen einerfeits zu Separationen
führte, andererfeits von der Kirche felbft vollzogen wurde,
die deshalb aber auf eine neue Weife ihren eigenen
Werth und den Umfang und Spielraum des religiöfen
Factors feftftellen mufste. Gewifs find die Bewegungen,
um die es fich hier handelt, unter dem angegebenen
Gefichtspunkte nur unvollständig zu erfaffen; aber dafs der-
felbe ein richtiger ift, fteht aufser Zweifel. Der ent-
fchiedene evangelifche, refp. antikatholifche Standpunkt
des Verf.'s kommt auch in diefer Abhandlung, wie in
der Monographie über die Anfänge der katholifchen
Glaubenslehre, zu deutlichem Ausdruck. Derfelbe hat
bekanntlich diejenigen am meiften befremdet, bei welchen
man auf die gröfsten Sympathien hätte rechnen
follen. Aber das war nicht auffallend; denn der Verf.
hat in feinen .Anfängen' die auch heute noch gefchätz-
teften angeblich evangelifchen Auffaffungen als Entlehnungen
aus den Naturreligionen und aus der philofophi-
fchen Myftik aufgedeckt. Gegenüber einem folchen Attentat
wird auch die entfchloffenfte Vertretung der luthe-
rifchen Rechtfertigungslehre als Mafsftab für die Beur-
theilung der katholifchen Dogmenbildung dort nicht in
Anfchlag gebracht.

Giefsen. A. Harnack.