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Ausgabe:

1882 Nr. 6

Spalte:

136

Autor/Hrsg.:

Ziemer, Thdr.

Titel/Untertitel:

Die streitende Kirche. Licht- und Schattenbilder aus der Gegenwart 1882

Rezensent:

Köhler, Karl

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Seite 1

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Theologifche Literaturzeitung. 1882. Nr. 6.

136

die einzelnen Landesregierungen das Patent publicirten !
(fo namentlich das oberöfterreichifche, datirt Linz den
13. üctober 1781) wohl zu unterfcheiden. Durch Frank's
Unterfuchungen ift ferner feftgeftellt, dafs das Toleranzpatent
auch dem Tiroler Gubernium unterm 31. October
zugefertigt und von diefem durch Circular vom 6. November
1781 fämmtlichen Ordinarien, kaiferlichen und
ftädtifchen Beamten, der Landfchaft, Univerfität u. f. w.
bekannt gegeben worden ift. Die Bifchöfe wurden auch
hier veranlafst, das Patent ihrem Klerus zu publiciren,
was, wenn auch hie und da nicht ohne Widerftreben,
wirklich gefchehen ift.

Von befonderem Intereffe ift, zu fehen, wie energifch
Kaifer Jofeph II. gegenüber der Widerfpenftigkeit feiner
Hofkanzlei, die immer wieder mit neuen Gegenvorftel-
lungen kam, und vieler untergeordneter Behörden, welche
der Ausführung des Patentes alle möglichen Schwierigkeiten
in den Weg ftellten, feinen Willen aufrechtzuerhalten
und durchzuführen wufste. Im Staatsrathe ftanden ihm in '<
feinen Beftrebungen namentlich Fürft Kaunitz und derCon- i
vertit Freiherr von Gebler mannhaft zur Seite. Dennoch
wurden einige Befchränkungen gegen den urfprünglichen
Willen des Kaifers durchgefetzt, z. B. die Fortzahlung
der (fpäter auf Trauungen und Beerdigungen befchränk-
ten) Stolgebühren an die katholifchen Pfarrer, fowie die
Feftftellung eines Präclufivtermins, bis zu welchem Anmeldungen
einheimifcher ,Akatholiken' zugelaffen werden
follten. Ein gewiffes Schwanken in der Haltung des
Kaifers ift in Einzelheiten unverkennbar. Nachdem ein
Ah. Handfehreiben vom 9. December 1782 den Präclufiv-
termin auf den 31. December des Jahres fixirt hatte, ge-
ftattete ein Hofdecret vom 21. Febraur 1783 auch nachträgliche
Anmeldungen, führte aber dafür im Wider-
fpruche zu dem Hofdecrete vom 31. März 1782 einen
fechswöchentlichen katholifchen Unterricht der Ueber-
tretenden ein. Auch in der Friedhoffrage fah fich der
Kaifer gezwungen, gegen die urfprüngliche, noch in einer
fehr energifchen Refolution vom 16. Juni 1783 aufrechterhaltene
Intention die Einrichtung eigener Begräbnifs-
plätze für die ,Akatholiken' zu ,geftatten' (Hofdecret vom
17. Nov. 1783).

Intereffant find auch die Nachrichten über die ,Or-
ganifation des evangelifchen Kirchenwefens'. Als es fich
um 'die Einführung evangelifcher Gefangbücher handelte,
befchäftigten fich die Mitglieder des kaiferlichen Staatsraths
gelegentlich felbft mit Redaction der Texte oder
äufserten ihre Bedenken gegen ,die elenden und unfinnigen
Lieder' des Porfffchen Gefangbuchs, freilich auch
gegen das Lutherlied ,Eine fefte Burg'. In dem Liede j
.Erhalt' uns Herr bei deinem Wort' änderte fchon Gebler
die Worte ,Und fteur' des Papft und Türken Mord'
in ,Und fteure deiner Feinde Mord'. Die von Jofeph
ebenfalls beabfichtigte Einführung eines gemeinfamen
Confiftoriums für die beiden evang. Kirchen A. C. und
H. C. wurde durch den Widerfpruch der (czechifchen)
Reformirten vereitelt. Im kaiferlichen Staatsrathe bemerkte
Martini : ,die helvetifche ift weniger tolerant als
die augsburgifche Confcffion'. Bald genug begannen die
erbärmlichen Zänkereien Zwilchen A. C. und H. C, welche
bis heutigen Tags eine .berechtigte Eigentümlichkeit'
der biederen Czechen in Böhmen und Mähren geblieben
find.

Aus dem Abfchnitte ,Gegner und Förderer der Toleranz
' (S. 122 ff.) fei nur zum Ehrengedächtnifs jener
Zeit hervorgehoben, dafs unter den Männern, welche
in patriotifcher Freude die grofse That Jofeph's II. feierten
, fich zahlreiche katholifche Geifüiche, wie der Ex-
jefuit Hafchka, der Linzer Domher C. Joh. Huber, der
Wiener Profeffor der Theologie Bartholotti, der Pfarrer
Wittola u. A. befanden. Ehrende Erwähnung verdienen
auch der geiftliche Rathgeber Jofeph's, der Abt zu Braunau
Franz Stephan Rautenftrauch und eine ganze Reihe
von Kirchenfürften, die in echt chriftlichen Hirtenbriefen

ihrem Diöcefanklerus die Toleranz einfehärften. Dahin
gehören der Erzbifchof von Salzburg Hieronymus Jofeph
Graf Colloredo-Mansfeld, die Fürftbifchöfe von Gurk,
Brixen und Laibach, Jofeph Franz Anton Graf von
Auersperg, Jofeph Philipp Graf von Spaur und Jofeph
Karl Graf von Herberftein, der Bifchof von Königgrätz
J. Leop. von Hay und die Bifchöfe von Padua, Verona
und Mantua. Der Hirtenbrief des Erzbifchofs von Salzburg
wurde vom Kaifer felbft in Taufenden von Exemplaren
verbreitet; andere Bifchöfe wurden von ihm ausdrücklich
belobt. Wo find die Zeiten hingerathen, in
denen folche Gefinnungen im katholifchen Klerus gepflegt
wurden!

Einen Anhang der dankenswerten Schrift bildet
ein Perfonalverzeichnifs der Mitglieder der beiden Con-
fiftorien (feit 1861 des Evangelifchen Oberkirchenraths)
und fämmtlicher Superintendenten in den deutfch-flavi-
fchen Ländern von dem Toleranzedicte ab bis auf die
Gegenwart.

Jena. Lipfius.

Ziemer, Paft. Thdr., Die streitende Kirche. Licht- und
Schattenbilder aus der Gegenwart. Halle 1881, Strien.
(40 S. gr. 8.) M. —. 75.

Der Verf., welcher fich als Mitglied der Evangelifchen
Vereinigung' einführt, will ,nicht eine allfeitigc
Beleuchtung, nur Streiflichter auf die ftreitende Kirche
und ihre Beziehungen zu der Welt der Gegenwart fallen
laffen'. Ohne ftrenge Gedankenordnung wird eine Reihe
der wichtigften einfchlagenden Fragen, nicht alle, in Betracht
gezogen: das Civilftandsgefetz und die Synodal-
verfaffung mit ihren Wirkungen, die Unkirchlichkeit der
gebildeten Stände, die Befeitigung der Stolgebühren, die
jüdifche Prcffe und Stöcker's antifemitifche Agitation,
das Verhältnifs von Chriftenthum und Wiffenfchaft, der
Culturkampf u. A. Es geht ein frifcher, wohlthuender
Hauch durch die Ausführungen des Verf.'s. Die Sage
von der guten alten Zeit erkennt er in ihrer Nichtigkeit
und weifs, ohne fich gegen die tiefen Schäden der Gegenwart
zu verfchliefsen , die Zeichen der Zeit zu verliehen
, welche zu der Hoffnung Grund geben, dafs die
Krifis, in der wir uns befinden, nicht zum Tode aus-
fchlagen werde, fondern zum Leben. An guten Bemerkungen
fehlt es nicht, z. B. über die Grenzen der
Naturforfchung und der philofophifchen Gefchichtswiffcn-
fchaft, die Rathlofigkeit der materialiftifchen Wiffenfchaft
in ihrer heutigen Situation, den keiner Vermittelung
fähigen Gegenfatz, der uns von der römifchen Kirche
trennt, und den blinden Unverftand Derjenigen, die ein
Bündnifs mit diefer gegen den Staat oder gegen den
Unglauben anrathen, die innere Verwandtfchaft zwifchen
dem Judenthum und dem Papftthum (die jüdifche und
die römifche Frage feien die beiden Lebensfragen der
Gegenwart, heifst es treffend S. 36), das Verhältnifs von
Kirche und Reich Gottes. Die Kirche fei nach evangelifcher
Idee nicht das Reich Gottes, follte aber ,das
Centrum, das fchlagende Herz in dem grofsen Organismus
des Reiches' bilden, die Centralfonne, von der alle
Strahlen ausgehen bis in die fernfle Peripherie (S. 13).
Nur die evangelifche Kirche fei im Stande, diefe Stellung
auszufüllen; dafs fie ihr verloren gegangen, fei das Unglück
der Zeit, fie wieder zu erringen die grofse Aufgabe
. Man wird das Schriftchen nicht ohne dankenswerte
Anregung aus der Hand legen.

Friedberg. K. Köhler.

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