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Ausgabe:

1882 Nr. 4

Spalte:

84

Autor/Hrsg.:

Jüngst, Johs.

Titel/Untertitel:

Die evangelische Kirche und die Separatisten und Sektierer der Gegenwart 1882

Rezensent:

Kattenbusch, Ferdinand

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Seite 1

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Theologifche Literaturzeitung. 1882. Nr. 4.

84

dings viel fchwieriger, aber fein Buch überhaupt erft
einem gröfserem Leferkreife zugänglich geworden, während
mit der vorliegenden Biographie eigentlich nur der
kleinen Günthergemeinde ein Dienft erwiefen ift. Den
anfprechendften Theil des Buches bildet die dasfelbe eröffnende
SelbftbiographieGünther's, die fich über die Jahre
1781 —1828 erftreckt, intereffant für den Culturhiftoriker,
unerläfslich für denjenigen, der einen Blick in die Ge-
nefis der Günther'fchen Philofophie thun möchte. Diefe
Philofophie kann in ihrem pofitiven Gehalt auf folche,
die mit ihren philofophifchen Ueberzeugungen in der
durch Kant eröffneten Geiftesbewegung flehen, den Lindruck
machen, als wenn fie aufserhalb des modernen
Geifteslebens Deutfchlands ftände. Und doch wieder ift
die Rückfichtnahme auf die Grundgedanken der Kant'-
fchen Philofophie unverkennbar. Diefe Selbftbiographie
giebt die befte Löfung. Drei Schriften nennt Günther
hier als in feinem Leben Epoche machend, nämlich
Schubert's Anflehten von der Nachtfeite der Naturwiffen-
fchaften, Loffius' Wörterbuch über Kantifche Philofophie
und Adam Müller's Vorlefungen über die neue
Staatskunft, das erfte wegen feiner Aeufserungen zu
Gunften des pofitiven Chriftenthums, das dritte wegen
der hier vorliegenden Auffaffung des Staats (nach dem
Gedanken: ,dafs Chriftus auch für das Wohl des Staats
geftorben fei') und noch mehr wegen der ihm hier dargebotenen
Unterfcheidung von ,ldee' und .Begriff, die
fpäter (als qualitative, nicht quantitative gefafst) zu einem
der treibendften Grundgedanken der Günther'fchen Philofophie
geworden ift. Kant's Syftem hat Günther, was
höchft charakteriftifch ift, wefentlich kennen gelernt aus
Tiedge's Urania, und in jenem Wörterbuch von Loffius
glaubte er deffen ganzen Inhalt und fogar noch den
heften Schlüffel dazu zugleich vor fich zu haben. Eine
Bemerkung, dafs G. die Kant'fchen Kritiken im Zufam-
menhang durchgearbeitet habe, habe ich nicht gefunden.
Ich finde aber auch nicht, dafs es G. je Ernft damit ge-
wefen fei, fich mit dem Kant'fchen Syftem abzufinden,
fondern die Frage ift von vornherein für G. immer nur
die gewefen, wie von gewiffen philofophifchen Prämiffen
zu dem, was er unter pofitivem Chriftenthum verftand,
namentlich alfo der creatio ex nildlo, weiterzukommen
fei. Sein Intereffe ging eben auf das, was die Kant'-
fche Kritik des Erkenntnifsvermögens aufhebt, auf die
Begründung des chriftlichen Dogma's durch die Mittel
einer objectiven Speculation, alfo eine theologifche
Metaphyfik oder, wie G. es anfah, auf die Begründung
einer chriftlichen Weltanfchauung durch die
fpeculative Philofophie. In der That, es ift völlig rieh

fchaft die Methode der Begründung. Dafs in der Günther
'fchen Methode der Begründung vom Selbftbewufst-
fein aus ein ihr fremdes Princip lag, hat fie fcharf herausgefühlt
, und hat die Gefchichte der letzten Jahrzehnte
bewiefen.

Breslau. L. Lemme.

Jüngst, Pfr. Johs., Die evangelische Kirche und die Separatisten
und Sektierer der Gegenwart. Gotha 1881, F. A.
Perthes. (III, 60 S. 8.) M. I. —-

Der Verf. diefes Schriftchens, jetzt Pfarrer in Vier-
fen, früher in Siegen, hat fich fchon durch mehrere Arbeiten
literarifch als Kenner der fectirerifchen Bewegungen
in Deutfchland, namentlich der methodiftifchen,
bekannt gemacht. Er bietet in diefem Vortrage, den er
im Mai vorigen Jahres auf der niederrheinifchen Predi-
gerconferenz in Düffeldorf gehalten und auf einmüthigeu
Wunfeh zum Drucke befördert hat, eine Art Ueberfchau
über das Ganze jener Bewegungen. Zwei Arten .aufser-
kirchlicher Frömmigkeit' werden von ihm unterfchieden,
die feparatiftifche und die fectirerifche. Erftcre
wird bei den in Deutfchland felbft entfprungenen ,Ge-
meinfehaften', die meift noch in den Landeskirchen verbleiben
, conftatirt, letztere bei den von aufsen, befon-
ders von Amerika, eingedrungenen. Der Verf. behandelt
a) unter dem Titel der Separatsten befonders die
Böhmeaner, den Brüderverein, den Verein für Reife
predigt und die evangelifche Gefellfchaft — lauter Vereinigungen
, die befonders im bergifchen und fiegenfehen
Lande vorkommen, (die fchwäbifchen Gemeinfchaften
werden im Hinblick auf Palmer's bekanntes Werk nur
kurz berührt); b) unter dem Titel der Sectirer befonders
die Methodiften in vier Unterarten (englifche Wes-
leyaner, amerikanifche bifchöfliche Methodiften, evangelifche
Gemeinfchaft der Albrcchtsbrüder und die vereinigten
Brüder), ferner die Baptiften, Swedenborgianer,
Irvingianer, Darbyften. Beiden Arten von Gegnern des
kirchlichen Chriftenthums gegenüber erörtert der Verf.
die Aufgabe der Kirche refp. befonders der Pfarrer.
Vieles ift dabei beherzigenswerth, weil von Erfahrung
und mafsvollem Urtheil eingegeben. Verf. ift gegenüber
den Separatsten begreiflicherweife viel milder geftimmt,
als gegenüber den Sectirern. Betrachten befonders die
Methodiften und Baptiften die deutfehe evangelifche
Kirche wie ein Miffionsgebiet ,nicht anders als China und
Polynefien', fo regt fich dawider mit Recht fchon das
natürliche Selbftgefühl eines Mannes, der fein kirchliches
Amt eben als folches liebt. Auch das deutfehe
tig, was auf S. 270 Bd. 1 diefer Biographie gefagt wird, Bewufstfein redet mit. Aber die Pofition des Verf.'s ift

diefe Philofophie, die im Wefentlichen eine metaphy- keine günftige. Er fieht wenigftens in den Separatiften
fifche Begründung des chriftlichen Dogma's fein will, j durchweg .lebendige', oft faft ,die lebendigen' Vertreter
und die fich auch Creationstheorie nennt, ift — katho- : ,evangelifcher Frömmigkeit', von denen er nur bedauert
hfch. Wie G., deffen Kampfesftellung wefentlich gegen , dafs fie fich abf0ndern, ftatt als Salz in der Kirche
den Pantheismus gerichtet ift, und der von feinem Dua- j dienen zu wollen. Der Pietismus ift der Boden jener
hsmus aus faft die ganze Theologie unter dem Vorwurf feparatiftifchen Vereinigungen. Der Verf theilt das wie
des Pantheismus und Semipantheismus befaffen mufste, 1 ein felbftverftandlich.es auftretende Urtheil fo weiter

zur Reformation ftand, ift daraus erfichtlich, dafs nach
feiner Meinung ,in der Reformation das pantheiftifche
Element aus der alten Kirche herausgetreten ift, um
nach dem Willen der Vorfehung fich freier zu entwickeln
und feine letzten Confequenzen herauszuftellen
und dadurch fich felber zu antiquiren' (Bd. 1, S. 334).
Wenn die römifche Kirche ihn trotzdem von fich ge-
wiefen hat, fo gefchah es darum, weil fie den Anfpruch
diefes philofophifchen Dualismus, ihrem Dogma allererft
eine haltbare Stütze zu geben, nicht anerkennen durfte.
War doch auch der Ausgangspunkt der Günther'fchen
Speculation das autonome menfehliche Selbftbewufstfein,
und die Autonomie des Menfchengeiftes kann die römifche
Kirche auch dann nicht ertragen, wenn fie fich
in ihren Dienft ftellen will. Sie fchreibt dem Glauben
nicht blofs das Dogma vor, fondern auch der Wiffen-

Kreife, dafs der Pietismus eine durch und durch evangelifche
Erfcheinung fei. Aber wie ift's möglich, den
katholifchen Einfchlag der pietiltifchen Frömmigkeit zu
verkennen! Solange jenes erftere Urtheil über den Pietismus
im Gange bleibt, werden die .Separatiften' und
,Sectirer' in unferer Kirche immer ein fette Trift haben.
Das kirchlich-evangelifche Ideal (Confessio August. II, 6,49)
ift ein qualitativ anderes, als das pietiftifche und lieft
unendlich höher! Diefes mufs wieder von der Kirche
verkündet werden; das ift das Heilmittel gegen Separatismus
und Sectirerei. Es geht nicht an, dafs man nur
die Symptome der Krankheit bekämpft.

Giefsen. F. Kattenbufch.