Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1882 Nr. 3

Spalte:

62-65

Autor/Hrsg.:

Bunsen, Christ. Karl Josias Frhr. v.

Titel/Untertitel:

Bunsen‘s Allgemeines evangelisches Gesang- und Gebetbuch zum Kirchen- und Hausgebrauch. In völlig neuer Bearbeitung von Alb. Fischer 1882

Rezensent:

Bertheau, Carl

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2, Seite 3

Download Scan:

PDF

6i

Theologifche Literaturzeitung. 1882. Nr. 3.

62

durch das Blut des Weltheilandes in phyfiologifcher
Wechfelwirkung ernährt werden'. Und auch diefes — wie- j
derholt Lilienfeld (S.73) — ift kein allegorifches Gleichnifs;
die ,Analogie ift eine vollftändig reale'. Wie die Erbfünde
(S. 66) ein .lawinenartiges Anfchwellen der Nervenerregungen
des Gefammtorganismus' in Folge der .Ueberreiz-
ung finnlicher, niederer, thierifcher Triebe' (S.67) im ,pa-
thologifchen Sinne' ift, fo ift die Gefammterlöfung durch
den Einen Weltheiland (nach dem Gefetz der Solidarität)
die ,höchft potenzirte therapeutifch-phyfiologifche lawinenartige
Anfchwellung der Erregungen'. Denn ,auch
die Lehre vom Opfertode Chrifti gründet fich auf einem(r)
lieh ftets wiederholenden Naturprocefs', nämlich ,dem
vitalen Procefs der Zerfetzung, wo ftets ein Verluft von
Stoff und Kraft vor fich geht'. Daher huldigt der Verf.
auch der .focial-embryologifchen Auffaffung der Fleifch-
werdung des Wortes' (S. 109 ff.), fpricht mit Vorliebe
von der .phyfiologifchen Wirkung des Gebetes', definirt
die chriftliche Liebe als ,phyfiologifche Wechfelwirkung
zwifchen Subject und Object', betont die ,reale Analogie
' derfelbcn mit der ,chemifchen Wechfelwirkung' (S.
136) und fchwärmt für die ,phyfiologifche Dreieinigkeit
von Glaube, Liebe, Hoffnung' (S. 165 ff.). Ja, felbft die
orthodoxe Lehre vom dreieinigen Gott ift ihm nichts anderes
als die theologifche Form für die .realen Beziehungen
phyfiologifcher, morphologifcher, tektologifcher
Art in dem Nach-, Neben- und Uebereinander der Dinge'
(S. 329 ff.). Und das Wunder der Heilsoffenbarung ift
ihm nichts anderes als eine Kundgebung des .Naturge-
fetzes der Gnade' (S. 453 ff.). Wie die Sünde ein Stück
.religiöfer Pathologie' ilt (S. 472 ff.), fo mufs auch die
Heilung von Seiten der .Weltfeele', des ,Centraikraftheerdes
' '.Gott) auf naturgefetzlichem Wege vor fich
gehen.

In welch unpräcifer, aller wiffenfehaftlichen Erudition
ermangelnder Form — trotz aufgebaufchter, compilato-
rifch-angehäufter Scheingelehrfamkeit — die Diction des
Verf.'s lieh bewegt, möge — um unter hundert möglichen
Beifpielen eins anzuführen — folgender Paffus
(S. 56) beweifen, in welchem trotz der ausgefprochenen
Scheu des Verf.'s vor ,abfoluten Begriffen' (!!) das von
ihm verpönte Wort einen fchrecklichen Spuk treibt. —
Es heifst dafelbft: .Wenn nun das Chriftenthum die ab-
folute Unabhängigkeit der Wiffenfchaft und Kunft nicht
anerkennen(V) will, fo mufs es fich auch felbft von ihnen
nicht abfolut ifoliren; fonft wird die abfolute Aus-
fcheidung jener zu einer abfoluten Nothwendigkeit.
Dazu(?) kann es aber nur Einen Weg geben, nämlich
den, dafs das Chriftenthum die Relativität)?) feines
eigenen Real-Idealen mit dem Real-Idealen in der Wiffenfchaft
und Kunft anerkennt. Nicht als ob dadurch
zugleich das Abfolute als nichtexiftirend anerkannt
werden foll (11). Im Gegentheil; aber das Abfolute
wird dadurch nicht ausfchliefsliches Eigenthum der Religion
, fondern es wird als' der Untergrund und das
Wefen nicht blofs des Chriftenthums, fondern der ganzen
Erfcheinungswelt anerkannt. Wir wollen das Abfolute
aus der Religion gar nicht ausfeheiden, ebenfo
wenig, wie wir folches in der fittlichen Weltordnung,
in der menfehlichen Gefellfchaft und in der Natur leugnen
. Wir fagen nur, dafs die Offenbarung uns gegenüber
das Abfolute in Symbolen erfcheinen läfst,
ebenfo wie die Erfcheinungswelt uns gegenüber das ihr
Wefen bildende Abfolute durch finnbare Zeichen
elarftellt. Wir fagen aufserdem, dafs die Offenbarung
als relativ Religio fes(!) und das Chriftenthum als
Lehre des Ver hä 11nif ses (!) des Menfchen zu Gott
lieh nach den fe Iben Ge fetzen entwickelt hat, wie
die Erfcheinungswelt' etc. etc.

Ich denke: sapienti sat. Mit bilderreichen Phrafen
in wiffenfehaftlich klingendem Jargon wird die Wahrheit
nicht gefördert. Durch die Emphafe der Behauptung
und durch fugenartige Wiederholung derfelben unklaren

Gedanken wird nur jene .Methode des Wirrwarrs' gefördert
, vor welcher der Verf. felbft warnt (S. XXXVI).
Bene doeet qui bene distinguit. Die Unterfcheidungsgabe
ift aber nicht Jedermanns Sache.

Dorpat. AI. v. Oettingen.

Bunsen's, Dr. Chrift. Karl Jofias Frhr. v., Allgemeines
evangelisches Gesang- und Gebetbuch zum Kirchen- und
Hausgebrauch. In völlig neuer Bearbeitung von Alb.
Fifcher. Gotha 1881, F. A. Perthes. (XXIII, 753 S.
gr. 8.) M. 6. —
Der Herausgeber diefes Gefangbuches, der Superintendent
a. D. und Oberpfarrer zu Grofs-Ottersleben Albert
Friedrich Wilhelm Fifcher, hat fich durch fein vor
einigen Jahren in demfelben Verlage erfchienenes Kirchenlieder
-Lexikon als ein fo gründlicher Kenner unferer
hymnologifchen Literatur erwiefen, dafs wir ihn fchon
im voraus für den geeigneten Mann halten werden, nun
auch eine .Anthologie Ideutfcher] evangelifcher Kirchenlieder
' (vgl. Vorwort S. III) erfcheinen zu laffen. Das
vorliegende Werk rechtfertigt diefe Vorausfetzung vollkommen
. Dafs für ein folches Werk, in welchem Auswahl
und Redaction der Lieder völlig ohne Rückficht-
nahme auf die Anforderungen und Wünfche einer be-
fondern Provincial- oder Landeskirche und darum auch
unbeeinflufst durch ,Zuitimmung und Abneigung von
Gemeinden, Synoden und Majoritäten, die der Schrecken
fo mancher Gefangbuchsredactoren find' (vgl. Vorwort
S. XVII), nach rein fachlichen und wiffenfehaftlichen
Gründen (ebenda S. I u. XI) vorgenommen werden kann,
in der That eine Nachfrage unter uns fein wird, fcheint
uns aufser Frage zu fein; ,ein Handbuch für tiefer for-
fchende Freunde des Kirchenliedes und ein Quell- und
Studienbuch für Gefangbuchsredactoren' (ebenda S. XI),
das dem heutigen Stande der hymnologifchen Forfchung
entfpricht, ift bis jetzt nicht vorhanden gewefen; Fifcher
hat fich die Aufgabe geftellt, ein folches zu liefern, und
hat diefe Aufgabe im Wefentlichen, wie uns fcheint,
vortrefflich gelöft.

Der Anfchlufs der vorliegenden Arbeit an den bekannten
im J. 1833 erfchienenen .Verfuch eines allgemeinen
evangelifchen Gefang- und Gebetbuches zum
Kirchen- und Hausgebrauche' (Hamburg bei Perthes) von
Bunfen ift infofern ein zufälliger, als der Wunfeh der
Verlagshandlung, eine neue Ausgabe des Bunfen'fchen
Gefangbuchcs zu beforgen, mit dem Vorfatze Fifcher's,
,eine Anthologie der gedachten Art vorzubereiten' (Vorwort
S. III), zufammentraf. Auf die fpäter erfchienene
Bearbeitung des Bunfen'fchen Werkes, welche zuerft im
J. 1846 und fodann in zweiter Auflage im J. 1871 in der
Agentur des Rauhen Haufes zu Hamburg herauskam,
hatte F. dabei keine Rückficht zu nehmen; im Vorwort
S. VI f. befpricht er das Verhältnifs diefer Bearbeitung
zum urfprünglichen Bunfen'fchen Werke. Da die Verlagshandlung
dem neuen Herausgeber für die Umge-
ftaltung des alten Bunfen die denkbar gröfste Freiheit
liefs, fo brachte ihm die Anlehnung feines Werkes an
das Bunfcn'fche keine lältige Feffel, fondern gewahrte
ihm den Vortheil eines gefchichtlichen Anfchluffes, wie
er ihm zur Controlle der eigenen Arbeit gerade er-
wünfeht fein konnte, und läfst nun deutlich hervortreten,
dafs das neue Werk im J. 18S1 ungefähr gerade das
leiden will, was das alte vor einem halben Jahrhundert
fich als die von ihm zu erfüllende Aufgabe gedellt
hatte. Der Unterfchied beider id fchon äufscrlich grofs
genug; die frühere Abtheilung des Ganzen in ein Kirchenbuch
und ein Hausbuch id aufgegeben, hingegen
id nun das Gebetbuch vom Gefangbuch gänzlich getrennt
; die Lieder find abgefehen von einzelnen ausgeladenen
Verfen volldändig aufgenommen, während früher
aus einer fehr grofsen Anzahl nur einzelne wenige Verfe