Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1882 Nr. 3

Spalte:

58-62

Autor/Hrsg.:

Lilienfeld, Paul v.

Titel/Untertitel:

Gedanken über die Socialwissenschaft der Zukunft. 5. Thl.: Die Religion, betrachtet vom Standpunkte der real-genetischen Socialwissenschaft, oder Versuch einer natürlichen Theologie 1882

Rezensent:

Oettingen, Alexander

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2, Seite 3

Download Scan:

PDF

57

Theologifche Literaturzeitung. 1882. Nr. 3.

58

ftik und des Auguftinismus feien noch einige Be- 1 Werkes anzuregen. Der Fortfetzung feiner verdienft-
merkungen geftattet. vollen Arbeit werden ohne Zweifel Viele mit Intereflc

entgegenfehen.

Bonn. Wilh. Bender.

Lilienfeld, Paul v., Gedanken über die Socialwissenschaft

der Zukunft. 5. Thl.: Die Religion, betrachtet vom
Standpunkte der real-genetifchen Socialwiffenfchaft,
oder Verfuch einer natürlichen Theologie. Hamburg
1881, Gebr. Behre. (XLVII, 592 S. gr. 8.) M. 10. —

Es giebt gewiffe Bücher, von denen man Notiz nehmen
mufs, obwohl man kaum etwas Pofitives aus ihnen
lernen kann. Als Zeichen der Zeit oder als mehr oder
weniger pathologifche Erfcheinungen wollen fie — wie
grofse Warnungstafeln etwa — ins Auge gefafst fein.

In diefe Kategorie gehört auch das merkwürdige
Buch Lilienfeld's, deffen neuefter Theil dem Ref. vorliegt
. Dafs man fünf ftarke Bände hindurch immer und
immer wieder diefelben ,Zukunfts-Gedanken' über eine
u. E. ganz unmögliche — halb darwiniftifche, halb chrift-
liche, halb naturaliftifche, halb theofophifche, halb ratio-
naliftifche, halb myftifche, halb pantheiftifche, halb thei-
ftifche — Socialwiffenfchaft in breitfpuriger Weife wiederholen
kann; dafs man, unbeirrt durch den Wider-
fpruch der Kritik, mit grofser Zuverficht und faft be-
neidenswerther Sicherheit in einer petitio prineipii fich
bewegen, dafs man bildliche, fchwankende, aber ftarr feft-
gehaltene Gleichnifsrede für exaet-wiffenfehaftliche Methode
halten und ausgeben kann — das verdient eine
gewiffe Bewunderung. Denn Confequenz ift eine gute
Sache. Wenn fie nur nicht auf eine Utopie fich richtetel
Die erften vier Bände des genannten Werkes berühren
die theologifche Lefewelt weniger. In denfelben
glaubt der Verf. ,den Beweis geliefert zu haben, dafs
zwifchen Natur und menfehlicher Gefellfchaft nur ein
potentieller (gradueller?) Unterfchied vorhanden ift', dafs
beiden ,diefelbe Ge f etzm äfsigk ei t zu Grunde liegt'.
Die menfehliche Gefellfchaft in ihren wirthfehaftlichen,
geiftigen, fittlichen und religiöfen Intereffen ift ihm nur
,eine Fortfetzung (1) der Natur'.

In dem uns vorliegenden fünften Bande will nun der
Verf. darthun, dafs ,in Hinficht auf die Entwickelung
der religiöfen Gemeinfchaften und des religiöfen Be-
wufstfeins der Menfchheit die Gefetzmäfsigkeit ein und
diefelbe fei mit der grofsen Erfcheinungswelt'. Nach
der ,real-verglcichenden Methode' auf Grund durchgehender
,Analogien' zwifchen Natur- und Geiftesleben
foll der ,Verfuch einer natürlichen Theologie' gemacht
werden. Vom Standpunkt der ,real-genetifchen Sociales
die Kirche ift, um die fich alle ethifchen Arbeiten, I wiffenfehaft' wird das geoffenbarte Chriftenthum, ja die
praktifcher und literarifcher Art, drehen. Der richtige fpeeififeh lutherifche Orthodoxie fammt der Trinitäts-
doctrinäre Proteftant freilich fleht in den Kämpfen des J und Verföhnungslehre als mit der darwiniftifchen Entheiligen
Auguftinus nur ,Lehrftreitigkeiten'. Aber diefer I wickelungstheorie vollkommen fich deckend aufgefafst
geniale Kopf, diefer feurige Charakter ift der Begründer und dargethan.

des kirchlichen Abfolutismus. So wenig wie im monta- Der Verf., deffen aufrichtig gläubige Gefinnung aller

niftifchen Streit hat es fich ihm in dem pelagianifchen Achtung werth ift, bringt es nicht ohne ein gewiffes dia-
Streite um blofse Lehrfragen gehandelt. Durch den pe- I lektifches Gefchick fertig, das Widerfprechendftc zu ver-
lagianifchen Optimismus wurde die Abfolutheit der kirch- einigen, die äufserften Gegner unter Einen Hut zu famlichen
Gnadenvermittlung ebenfo bedroht wie durch den ! mein. Das vermag er freilich nur dadurch, dafs er aller
Montanismus. Für diefe ift er in dem einen wie in dem ; klaren Erkenntnifstheorie Valet fagt und die ,figürlichen'
andern .Lehrftreit' eingetreten. — Die Verfuche, den ge- ; Ausdrücke in realem, die ,realen' in idealem Sinne

nimmt. Insbefondere wird mit den doppelfinnig gefafs-
ten Begriffen ,Natur' und .Organismus' ein graufames
Spiel getrieben; Ich brauche zum Erweife meiner Behauptung
nur einige Hauptgedanken des Buches zu re-

Der Herr Verf. will das Mönchthum aus den inneren
Bedingungen der alten Kirche und aus der asketi-
fchen Tendenz, welche fchon die neuteftamentliche Sittlichkeit
beherrfcht, erklären. Aber erklären fich daraus
auch die fetten Organifationen, welche fich das
chriitliche Mönchthum gegeben hat?

Wichtiger für das Verftändnifs der katholifchen
Ethik ift die Rolle, welche das Mönchthum in der
Kirche gefpielt hat. Denn das Mönchthum ift doch
nicht nur eine Epifode in der Sittengefchichte der Kirche,
wie es nach der Darfteilung des Herrn Verfaffers
Rheinen könnte. Er unterfcheidet ganz richtig drei
ethifche Grundrichtungen im Katholicismus: die fac-
ramental-klerikalifche, die asketifch - mönchifche und
die bürgerliche Laienmoral. Die Verfolgung diefer
Richtungen würde zu einer Gefchichte der fittlichen Ideale
des Katholicismus ' geführt haben. Aber das domini-
rende fittliche Ideal ift das mönchifche, welches in der
abendländifchen Kirche die lähmende Bundesgenoffen-
fchaft der Myftik abftreift und in den Dienft der kirchlichen
Weltherrfchaft tritt. Seit Gregor VII. wird die
mönchifche Reformation des Klerus durchgeführt, fpä-
ter verfuchen die grofsen Bettelorden das Laienthum
nach demfelben Ideale zu reformiren und fomit die
Spaltung, welche die Moral der consilia und praeeepta
zwifchen Laienthum und Klerus herbeigeführt hatte,
wieder aufzuheben. Jene moralifche Trinität wird alfo
durch das dominirende Hervortreten des mönchifchen
Lebensideals wenigftens verfuchsweife zu einer Einheit
zurückgeführt, an welche die vorreformatorifche Myftik
anknüpfen konnte.

Freilich ift die Askefe den Myftikern nur Mittel zum
Zwecke. In dem Ueberfpringen aller weltlichen und
kirchlichen Mittel der fittlichen Bildung ift die Myftik
zugleich der Kirche und der Welt gegenüber gleichgültig
. Sie hat aber mit ihrem ,unmittelbaren Schauen und
Fühlen der Gottheit' doch nicht nur ein äfthetifchea oder
pathologifches Intereffe. Sie ift ein eminent wichtiger
hiftorifcher Factor bei der Ueberwindung des rituellen,
asketifchen und dogmatifchen Mechanismus des Kirchenthums
. Sie ift zugleich der eigentliche Bahnbrecher der
religiöfen Freiheit des Individuums. Infofern wird fie
auch in der Gefchichte der Sitte zu verwerteten fein,
während ihre Verdienfte um die Wiffenfehaft vom Sittlichen
gleich Null find.

Die ethifch intereffantefte Erfcheinung der alten
Kirche ift ohne Zweifel der Auguftinismus, den Gafs
denn auch mit befonderer Aufmerkfamkeit behandelt
hat. Aber auch hier tritt wieder deutlich zu Tage, wie

waltigen Realiften für den Proteftantismus zu reclamiren,
dürften füglich aufgegeben werden. Es ift keine Zeile in
den Schriften des Auguftin zu lefen, in welcher die
Gnade von der Kirche und ihren Heilsmitteln getrennt

würde. Die Erfindung eines von der Kirche unabhäng- produciren, wobei ich mich möglichft an die Ausdrücke
igen abftracten .Gnadenprincips' mufs man ihm nicht i des Verf.'s halten will

zumuthen wollen.

Doch genug der begleitenden Bemerkungen, mit
welchen Ref. die von Gafs empfangene Anregung dankbar
bekunden möchte, um Andere zur Leetüre feines

Lilienfeld will in dem vorliegenden Buche den .Beweis
' liefern, dafs die ,real-genetifche Behandlung der
Socialwiffenfchaft' nicht blofs in keinem Widerfpruche
mit Religion und Chriftenthum flehe, fondern dafs im