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Ausgabe:

1882 Nr. 3

Spalte:

53

Autor/Hrsg.:

Baumstark, Reinhold

Titel/Untertitel:

Thomas Morus 1882

Rezensent:

Tschackert, Paul

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53

Theologifche Literaturzeitung. 1882. Nr. 3.

54

Baumstark. Reinhold, Thomas Morus. Freiburg i/Br.
1879, Herder. (V, 259 S. 8.) M. 2. —

Diefe Schrift bildet einen Band der ,Sammlung
hiftorifcher Bildnifse', welche in der rührigen katholifchen
Verlagshandlung von Herder in Freiburg erfcheint. Der
vorliegende Theil befchäftigt fich mit dem edlen Engländer
Thomas More, deffen Leben mit den Anfängen
der englifchen Reformation verflochten ift und fchon
deshalb dem Freunde der Kirchcngefchichte Intereffe
abnöthigt. Unter den wenigen Charakteren, die es ver-
fchmähten, dem blutdürftigen Wollüftling Heinrich VIII.
als fervile Creaturen gefällig zu fein, fteht neben Bifchof
Fisher von Rochefter der edle Thomas Morus obenan. Er
war ein Mann von tadellofer katholifcher Frömmigkeit und
Sittlichkeit, der fich nicht fträubte, für feine Ueberzeug-
ung den Märtyrertod zu erdulden (f 1535); er beftieg
das Schaffot, weil er die Ehe Heinrich's und Katharina's
von Aragonien nicht für ungültig erklären und den König
nicht als das höchfte Haupt der Kirche Englands
anerkennen konnte. So fiel der Lordkanzler Englands,
ein Opfer der fchmutzigften Leidenfchaft feines Königs.
Aber nicht diefes tragifche Gefchick ift es allein, wel
ches fein Andenken aufrecht erhält: Thomas Morus ge-
nofs bei feinen Zeitgenoffen als humaniftifcher Schrift-
fteller europäifche Berühmtheit, wie denn gerade Erasmus
zu feinen Freunden zählte. Als Latinift ftand er
in England zu feiner Zeit unübertroffen da, und als
Schriftfteller feffelte er bald durch feinen nie verfiegen-
den Humor, bald durch die Reinheit und Tiefe feiner
Gedanken. In den Tagen der .focialen Frage' endlich
dürfte es nicht unintereffant fein, daran zu erinnern, dafs
der erfte focialiftifche Staatsroman der Neuzeit aus feiner
Feder gefloffen ift, wir meinen feine Schrift ,Utopial vom
Jahre 1515. Der Ausfpruch des neueren franzöfifchen
Socialiften Proudhon .Eigenthum ift Diebftahl' erfcheint
bereits in diefer Schrift als leitender Gedanke; auf diefer
Grundlage wird ein Staatswefen erbaut, in welchem fich
jeder Socialdcmokrat des 19. Jahrhunderts wohl fühlen
könnte, zumal darin auch für Religionsfreiheit geforgt
ift. Dafs Morus diefe Schrift blofs in humaniftifchem
Scherz gefchrieben haben follte, fcheint mir nicht annehmbar
; durch und durch unpraktifcher Idealift, wird er
das Bedürfnifs gehabt haben, fich nach den fchauder-
haften englifchen Erbfolgekriegen in .utopifche' Ideal-
zuftände zu flüchten. In fpäteren Lebensjahren hätte er
felbft feine ,Utopia' am liebften verleugnet; und wären
wir heut nicht mitten in focialen Irrungen befangen, fo
würde es keinem Menfchen einfallen, darauf zurückzukommen
. Auch ohne fie bleibt jedoch Thomas Morus
unferes Andenkens werth. Deshalb freue ich mich, dafs
das Lebensbild diefes Mannes einem weiteren Lefer-
kreife zugänglich gemacht ift. Wenn der Verf. nur feine
groben Ausfälle gegen den Proteftantismus unterlaffen
und fich durchgängig einer edlen Sprache befleifsigt
hätte, fo würde man feiner frifchen Darftellung von Anfang
bis Ende mit Intereffe folgen können. Das Bild
des berühmten Lordkanzlers und Märtyrers dürfte im
allgemeinen richtig gezeichnet fein; da indefs der Verf.,
dem populären Zwecke feines Buches entfprechend, auf
jeden wiffenfehaftlichen Quellennachweis verzichtet hat,
fo ift eine weitere Auseinanderfetzung mit ihm nicht
erforderlich.

Halle a,S. Paul Tfchackert.

Henning, Karl, Johan Conrad Dippels vistelse i Sverige

samt Dippdianismen 1 Stockholm 1727—1741. Up-
sala 1881, Edv. Beding. (II, 164 S. 8.)

Die vorliegende fchwedifche Monographie über den
viel gefchmähten und wenig gekannten pietiftifchen Aufklärer
dürfte auch in Deutfchland einiges Intereffe finden
. Sie behandelt freilich nur die Invafion Dippel's in

Schweden, die im Winter 1726 auf 27 erfolgt ift. Die
kurze Charakteriftik des Pietismus, welche H. in der Einleitung
giebt, ift charakteriftifcher für die moderne fchwedifche
Orthodoxie, wie für den Pietismus. So haben
die Edzar, Mayer, Löfcher u. A. im Anfang des 18. Jahrhundert
den Pietismus beurtheilt.

Weil fich H. auf die fchwedifche Epifode aus dem
abenteuerlichen Leben Dippel's befchränkt, ift ihm auch
die Bedeutung des merkwürdigen Mannes in jenem
grofsen Umbildungsproceffe des orthodoxen Kirchenthums
aus metaphyfifchem Doctrinarismus in natürliche,
praktifche Religion, aus facramentirlicher Kirchlichkeit
in natürliche Moral und Humanität entgangen. Hätte
er fich an dem Pietiften Dippel überzeugt, wie der Pietismus
die eigentliche Vermittlerrolle zwifchen Orthodoxie
und Aufklärung zu fpielen berufen war, fo würde
fein Urtheil über denlelben freilich noch ungünftiger ausgefallen
fein.

In Schweden ift Dippel's halbjährige Wirkfamkeit
ausfchliefslich dem radicalen Pietismus zu Gute gekommen
. Die aufklärerifchen Keime, welche der Pietismus
in feinem myftifchen Scholse birgt, konnten fich dort
nicht entwickeln, wo die Orthodoxie alsbald die Bewegung
mit den roheften Gewaltmitteln erftickt hat. Anders
in Deutfchland, wo die .Legionen' von Dippelia-
nern, nach dem Zeugnifse Zinfendorf's und Stilling's, als
die eigentlichen Bahnbrecher der religiöfen Aufklärung
auftreten.

Den Ref. haben Studien über die Entftehung der
Aufklärung auf den Pietiften Dippel geführt, an dem fich
wie an keinem Zweiten zeigen läfst, wie in dem radicalen
Pietismus bereits das ganze Programm der Aufklärung
fteckt, fo dafs es nur veränderter hiftorifcher Conjunc-
turen bedurfte, um mit der Abklärung und Ernüchterung
des myftifchen Pietismus die Aufklärung in der
Welt der (paivnusva auftreten zu laffen. Vielleicht gelingt
es ihm, die Fachgenoffen aufs Neue für den Mann
zu intereffiren, wenn er in einer demnächft ericheinenden
Monographie an diefem illuftren Beifpiel die denkwürdige
Metamorphofe des Pietismus in den Naturalismus
veranfehaulicht.

Vorläufig kann Ref. auf Grund eigener archivalifcher
Studien in Stockholm Herrn Henning bezeugen, dafs man
in Schweden niemals daran gedacht hat, den Pietiften,
Alchymiften und Aufklärer Dippel mit der Würde eines
Erzbifchofs von Upfala zu bekleiden.

Bonn. Wilh. Bender.

Gass, Dr. W., Geschichte der christlichen Ethik. 1. Bd.

Bis zur Reformation. Berlin 1881, G. Reimer. (XVIII,
457 S. gr. 8.) M. 7. -

Der gelehrte Verfaffer der Gefchichte der proteftan-
tifchen Dogmatik tritt nunmehr auch mit einer Gefchichte
der chriftlichen Ethik vor das theologifche
Publicum. Er hat fich diesmal nicht auf das Gebiet des
Proteftantismus befchränkt. Der vorliegende erfte Band
feines Werkes behandelt ausfchliefslich die Gefchichte
der katholifchen Sittenlehre. Bei diefer Erweiterung
feines P'orfchungsgebietes war es nothwendig. auch die
ethifchen Grundideen der heiligen Schrift und die
Ethik der hellenifchen Philo Top hie zur Darfteilung
I zu bringen. Denn wie das chriftliche Dogma das Pro-
I duet einer Combination hellenifcher und chriftlicher
i Ideen ift, fo greifen auch in den ethifchen Arbeiten der
Kirche diefe vielfach fo ungleichartigen Factoren auf
allen Punkten ineinander.

Gafs erkennt diefe Thatfache rückhaltlos an; und
er ift geneigt, das Eindringen des Hellenismus als ein
für die Fortbildung des Chriftenthums nach der ethifchen
1 wie dogmatifchen Seite vorwiegend günftiges Ereigniis
zu beurtheilen.