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Ausgabe:

1882 Nr. 26

Spalte:

624-626

Autor/Hrsg.:

Fricke, Friedr. Wilh.

Titel/Untertitel:

Erziehungs- und Unterrichtslehre 1882

Rezensent:

Strack, Carl

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Theologifche Literaturzeitung. 1882. Nr. 26.

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die er bis an's Ende feftgehalten hat. Ihr Grundgedanke,
dafs die thatfächlich gegebene Welt unferer Erfahrung,
die wir nach dem Gefetz der mechanifchen Caufalität
erklären muffen, und deren allgemeinfte Formen die
Metaphyfik (Ontologie, Kosmologie, Pfychologie) behandelt
, doch nur ein nothwendiges Mittel ift zur Rea-
lifirung der wahrhaft wirklichen Welt, der Welt der
Werthe, d. h. des Guten, welches in der Gemeinfchaft
des unendlichen perfönlichen Geiftes und der endlichen
perfönlichen Geifter zu Stande kommt und genoffen
wird, diefer ihr Grundgedanke bringt die allgemeine
Weltanfchauung des Chriftenthums zum Ausdruck, fo
wenig Lotze die Abficht hat, ex officio ,chriftliche' Philo-
fophic zu treiben, während alte und neue ,cfirittliche'
Philofophen und Theologen nur zu oft mit dem Heidenthum
die Ethik als Specialfall der Kosmologie behandelt
haben. Plat nun auch Lotze die Aufgabe der Philofophie
in der felbftändigen Aufftellung einer fittlich-religiöfen
Weltanfchauung gefehen, die nun einmal nur auf dem
Boden einer auf pofitive Offenbarung fich gründenden
religiöfen Gemeinfchaft möglich ift, fo hat er doch die
Annahme von der Angelegtheit des Geiftes auf die fittlich
-religiöfen Ueberzeugungen fo vertreten, dafs er für
die gefchichtliche Entwickelung derfelben Raum liefs
und dadurch der Theologie die Möglichkeit eröffnete, j
mit dem Nachweis der Abhängigkeit derfelben von der ]
gefchichtlichen Offenbarung einzufetzen. Ja, er hat feine |
pofitiven fittlichen und religiöfen Ueberzeugungen empi-
rifch aus dem Chriftenthum aufgenommen und fie nie
aus der ,Natur' des Geiftes abgeleitet, und es tritt nicht
feiten deutlich hervor, wie empfänglich er für die Anerkennung
eines fpecififchen Werthes der Perfon Chrifti 1
für unfer fittlich-religiöfes Leben ift, fo wenig er auch
der dogmatifchen Formulirung diefes Werthes hat Ver-
ftändnifs abgewinnen können.

Der Inhalt des vorliegenden Pleftes ift folgender.
L. unterflicht zunächft, wie der Geift durch feine theo- j
retifchen Bedürfnifse genöthigt werde, zu der Anfchau- |
ung der Erfahrungswelt eine Ergänzung durch die Annahme
einer überfinnlichen Welt hinzuzufügen. Er führt !
den kosmologifchen Beweis für das Dafein Gottes auf j
das Princip der Naturwiffenfchaft hinaus, dafs dem Dafein
bedingter Wefen und Erfcheinungen eine Mehrheit
felbftändiger, in urfprünglicher Bewegung und Wechfel-
wirkung beftehender Wefen zu Grunde liege, und zeigt,
wie die von der Annahme des Aufeinanderwirkens der
Dinge vorausgefetzte Sympathie derfelben ftatt der plu- I
raliftifchen eine moniftifche Weltanficht fordere. Aber 1
er hebt hervor — und das unterfcheidet ihn von der gewöhnlichen
philofophifchen und theologifchen Specula-
tion, dafs das ,Abfolute', deffen Einheit die Caufalität
begreiflich macht, gar kein für fich zu vollziehender
Gedanke ift, fondern feinen Inhalt erft durch das reli-
giöfe Bedürfnifs bekommt. Doch weifs er dem That-
beftand der Erfahrung, die durch dies Princip erklärt
werden foll, zur näheren Beftimmung der formalen Natur
des letzteren noch weitere Ergebnifse abzugewinnen.
Nach treffender Kritik des Materialismus und eines Monismus
, der Geift und Materie aus einer gemeinfamen
Wurzel ableitet, zeigt er, wie die materielle Welt mit
ihrer Räumlichkeit und ihren Verhaltungsweifen, von der
metaphyfifch nothwendigen Annahme der Idealität des
Raumes aus, fich fehr wohl als Erfcheinung einer abge-
ftuften geiftigen Welt im Innern der Geifter verliehen
läfst. Der Widerfpruch, der in dem Begriff eines unendlichen
unbewufsten Geiftes liegt, wird fcharffinnig
aufgewiefen, und der Einwand, dafs Perfönlichkeit nicht I
als Prädicat des höchften Wefens gedacht werden könne,
wird in allen feinen Geftalten einer gründlichen Wider- |
legung unterzogen. Unter den Titeln der Schöpfung, I
Erhaltung, Regierung wird das zwifchen Gott und Welt 1
begehende Verhältnifs, immer noch metaphyfifch d. Ii-
vorläufig, zergliedert. Der bereits hier ftark hervortre- I

tende Gedanke eines einheitlichen Weltplanes, den Lotze
als höheres Princip der fog. ewigen Wahrheiten betrachtet,

— ein Gedanke, der übrigens den Monismus Lotze's gegen
den Verdacht eines fubftantiellen Pantheismus fichert,

— bekommt feine Ausfüllung durch die Gemüthsüber-
zeugung, dafs nur das abfolut Werthvolle als Bezeichnung
des höchften Princips zu gelten verdiene und dafs
kein anderer Zweck als die Realihrung der höchften Werthe
das Motiv der Schöpfung und das Princip der Ordnung
in dem Gefchaffenen fein könne. So adoptirt Lotze einfach
den religiöfen Gedanken, welcher in einem Licbes-
willen Gottes den Grund zu einer Schöpfung der Geilter-
welt und der Ordnung der Erfcheinung in ihrem Innern
findet. Nach Vorführung der in der Befchaffenheit des
wirklichen Weltlaufs liegenden Schwierigkeiten, um derer
willen der Peffimismus die religiöfe Weltanfchauung be-
ftreitet, hebt er treffend hervor, wie die Entfcheidung
für die letztere, welche theoretifch unbeweisbar bleibt,
eine Entfchliefsung des Charakters ift, die ihr
Motiv in dem Gebundenfein an die fittlichen Werthe hat.
Auch die Erklärung der letzteren aus dem wohlverltan-
denen Intereffe erklärt er für theoretifch unwiderlegbar;
aber er zeigt, wie für den, welcher die Erfahrung
macht, dafs ein uneigennütziges Handeln nach jenen
Regeln allein werthvoll ift, die Stützpunkte der Nützlichkeitstheorie
, dafs nämlich Befolgung jener Regeln die
gröfste Summe des Glücks erzeugt, und dafs ihr Inhalt
erft durch Erfahrung gelernt wird, der eigenen Würde
und Heiligkeit der fittlichen Gebote keinen Eintrag thun.
Die religiöfe Weltauffaffung befteht ihm dann im Gegenfatz
zur blofsen Verftandesweltanficht in den Sätzen, dafs
die fittlichen Gefetze der Wille Gottes, dafs die fittlichen
Geifter nicht Naturproducte, fondern Kinder Gottes find

— ein ebenfo dem ftoifchen Tugendftolz wie der natu-
raliftifchen Geringfehätzung der Perfönlichkeit entgegengefetzter
Gedanke —, dafs die Wirklichkeit kein blofser
Naturlauf, fondern Reich Gottes ift. Mit diefen Ueberzeugungen
bekennt er fich ausdrücklich zum Chriftenthum
, und, indem er fein Verftändnifs für den einzigen
Werth ausfpricht, den Chriftus für unfer Verhältnifs zu
Gott hat, erklärt er es für ohne Zweifel berechtigt, das
Verhältnifs, in dem Chriftus zu Gott geftanden, nicht
blofs dem Grade, fondern feiner wefentlichen Art nach,
als durchaus einzigartig zu betrachten, wie er denn auch
eine fpeeififeh wunderhafte geiftige Offenbarung an einzelnen
Punkten der Gefchichte als Folge des den ,Natur-
gefetzen' ubergeordneten Weltplanes fchon aus meta-
phyfifchen Gründen für möglich hält. In den letzten
Abfchnitten bekundet er ein offenes Auge für die Noth-
wendigkeit der religiöfen Gemeinfchaft und ihr Bedürfnifs
nach formulirten Glaubensfätzen, fowiefürdie Heilfamkeit
eines religiöfen Fundamentes des Staates.

Giefsen. J. Gottfchick.

1. Fricke, Dr. Eriedr. Wilh., Erziehungs- und Unterrichtslehre
. Mannheim 1882, Bensheimer. (XVI, 840 S
gr. 8.) M. 9. -

2. Leutz, Sem.-Dir. FVrd., Lehrbuch der Erziehung und des

Unterrichts, mit befonderer Berückfichtigung der pfy-
chologifchen Grundlagen, für Lehrer und Lehrerinnen
. 1. Tl.: Die Erziehungslehre. Tauberbifchofs-
heim 1881, Lang. (VIII, 206 S. gr. 8.) M. 2. 50.
Zwei neue Handbücher der Pädagogik, beide auf
dem Herbart'fchen Syftem beruhend, ohne fich fclavifch
an dasfelbe zu binden. Auch können wir nicht fagen,
dafs eins durch das andere überflüffig geworden fei;
beide find nach Inhalt und Darftellung fo verfchieden,
dafs fie recht gut neben einander beliehen können. Am
weitelten nach links geht Fricke, der den liberalen, man
könnte fagen ultraliberalen Standpunkt in der Pädagogik
vertritt, wiewohl er in der Vorrede fagt, er habe