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Ausgabe:

1882 Nr. 2

Spalte:

39-40

Autor/Hrsg.:

Andersen, Fr. Wilhelm

Titel/Untertitel:

Ethische Betrachtungen und Studien mit besonderer Berücksichtigung der christlichen Ethik 1882

Rezensent:

Lemme, Ludwig

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39

Theologifche Literaturzeitung. 1882. Nr. 2.

40

Verf. daran gewandt hat. Indeffen ift es unzweifelhaft
von Werth, ein fo eigenartiges und bedeutfames Ge-
dankenfyftem wie das des Katholicismus in feinem inneren
Gefüge eingehend zu erkennen; forgfältige Einzel-
forfchuugen, wie der Verfaffer fie bietet, find dazu in hohem
Mafse dienlich. Das Ganze gewinnt dadurch, dafs die einzelnen
Lehren immer im Zufammcnhang mit der treibenden
Grundidee erfcheinen, einen über das nächfte fachliche In-
tereffe hinausreichenden Werth. Von diefem Gefichts-
punkte erfcheint der beharrliche Fleifs, womit der Verf.
lieh gelegentlich in die Irrgänge einer theilweife recht
unerquicklichen Cafuiftik vertieft, nicht verloren. Die
Objectivität, womit der Verf. unter Zurückftellung des
eigenen Urtheils feinem Gegenftande gerecht wird, ift zu
loben, wenn man auch eine Auseinanderfetzung mit den
vorgetragenen Lehren vom proteftantifchen Standpunkt,
namentlich eine Beurtheilung der behaupteten Schriftbegründung
derfelben nicht ungern gefehen hätte. Wenn
der Verf. (S. 85) die von manchen feiner Vorgänger erhobene
und mit etwas fragwürdigen fcholaftifchen Auskunftsmitteln
erledigte Frage, warum denn die Kirche,
wenn fie auf die Reinheit des Ehefacramentes bei den
zu Weihenden fo grofses Gewicht lege, nicht den Vollzug
des Sacramentes diefen allgemein zur Pflicht mache?
als eine müfsige Schulfrage abweift, fo ift nicht recht
erfichtlich, ob das nur aus dem Princip des dargeftell-
ten Syftems heraus oder als feine eigene Anficht von
ihm ausgefprochen ift. Es handelt fich um viel mehr.
In der That befteht zwifchen der ,ünnlich-myftifchen'
(S. 85) Emporhebung der Ehe zum Sacramente und dem
Cölibatgebote ein durch keine fcholaftifche Kunft zu
hebender verhängnifsvoller Widerfpruch. Denfelben aus
der Grundidee des Katholicismus zu erklären, wäre eine
intereffante, indeffen über den Rahmen der vorliegenden
Arbeit allerdings hinausgehende Aufgabe.

Der Titel des Buchs zeigt eine feiten vorkommende
Verbindung akademifcher Grade, der Verf. ift in drei
Facultäten promovirt. Auch feine Arbeit läfst eine
glückliche Vereinigung juriftifcher und theologifcher Ge-
lehrfamkeit erkennen, welche zu der Erwartung noch
weiterer tüchtiger Leiftungen auf dem fo glücklich von
ihm betretenen Gebiete des Kirchenrechts berechtigt.

Friedberg. K. Köhler.

Andersen, Propft Hauptpred. Dr. Fr. Wilh., Ethische
Betrachtungen und Studien mit befonderer Berückfich-
fichtigung der chriftlichen Ethik des Bifchofs Dr.
Martenfen. Aus dem Dänifchen überfetzt von C.
von Levctzow. Gotha 1881, Beffer. (V, 193 S.
gr. 8.") M. 2. 80.

Martenfen hat immer Recht! das ift — trotz Abweichungen
im Einzelnen — der Refrain diefes Lobliedes
eines getreuen Schülers auf das theologifche
Hauptwerk feines Lehrers (in den 6 Strophen .Allgemeine
Betrachtungen', in denen auch fchon Einzelfragen
befprochen werden, ,Die Ethik und die autonome Humanität
', ,Die Ethik und die Anthropologie', ,Die Ethik
und die focialen Verhältnifse', ,Der Ethiker und der
Prediger', ,Der Ethiker und der Aefthetiker'). Marten-
fen's Meinung wird vertheidigt auch da, wo diefer verdiente
Theologe nach der Anficht des Ref. entfehieden
in die Irre geht, fo wenn M. den Ausgangspunkt der
Ethik in der Lehre vom Gefetz nimmt, eine alttefta-
mentlich-katholifche, unevangelifche Auffaffung, — wenn
er die Ethik in einen allgemeinen und fpeciellen Theil zerlegt
, eine Theilung, die in Wegfall kommen müfste,
wenn die chriftliche Ethik klar als wiffenfehaftliche Be-
fchreibung der aus dem religiöfen Leben erwachfenden
Sittlichkeit gefafst wäre, — wenn er die Ethik der
autonomen Humanität für unfähig erklärt, nach einem
gewiffen Princip das Sittliche inhaltlich beftimmen zu

können, was ihm eine Kenntnifs der englifchen und Her-
bart'fchen Moralphilofophie widerlegt hätte, — wenn er
den Lebensnerv des Liberalismus im allgemeinen Stimmrecht
fieht, während diefes doch nur die abgeleitete
Folge des naturaliftifchen Individualismus ift, der nur
mechanifche Gröfsen, keine fittlichen Werthe kennt, —
wenn er die Beftreitung der Vivifection für ein noth-
wendiges Poftulat chriftlicher Sittlichkeit hält, obgleich
von diefer das Thier niemals als felbftändiges Subject
fittlicher Forderungen an den Menfchen anerkannt werden
kann. In einzelnen Fällen wagt A. mit der Vorficht
der Pietät ergänzende Correcturen am Werk des
Meifters, und da zeigt er fich als echter Schüler desfeB
ben an feinem ethifchen Sinn, edler Weitherzigkeit und
gründlicher Tiefe der Betrachtungsweife, fo in den trefflichen
Bemerkungen über das Verhältnifs der chriftlichen
Liebe zur Freiheit, deren Zweiklang bei Martenfen (als
,chriftliche Tugenden') er zur Einheit führt. Wo er lieh
aber entfeheidend von Martenfen trennt, hat er auch
meiner Anficht nach völlig fehlgegriffen, fo in der Beftreitung
des nationalen Charakters der Kunft auf S. 190 ff.

j und noch mehr in der felbftändig ausgeführten Studie:

! über ,die Sünde wider den heiligen Geilt' S. 85 ff. A.

j erklärt nämlich die Sünde wider den heiligen Geift für
die höchfte Stufe des Abfalls der Wiedergeborenen; ganz
abgefehen aber von der Frage nach der Möglichkeit
derfelben fcheitert diefe Auffaffung fchon exegetifch
daran, dafs der Herr das Wort von der Läfterung des
Geiftes gefprochen hat zur Warnung der fich gegen ihn

I verhärtenden Pharifäer. Anderfen's Lehre von der
Taufe, wonach diefe das Böfe als Naturprincip im einzelnen
Menfchenleben vernichtet, .welches nicht ausfchliefst,

I dafs es nachher als Willensprincip im Menfchen auftreten
kann', und in phyfifcher Weife eine göttliche onogä in
des Menfchen Natur legt, ift nicht biblifch, fondern ka-

| tholifch. Die Unterfcheidung einer phyfifchen Wiedergeburt
(in der Taufe) und einer ethifchen Wiedergeburt
bei A. findet fich bei M. nicht, ift aber durch M. mit
veranlafst dadurch, dafs diefer an der Wiedergeburt eine
phyfifche Seite der Sache (,im höheren, geiftigen Sinne
genommen', der bei A. wegfällt) und eine ethifche Seite
unterfcheidet (Individuelle Ethik S. 176 f.).

Breslau. L. Lemme.

Pfarrleben in einem Gebirgsdorfe. Kulturgefchichtliche Bilder
von einem heffifchen Geiftlichcn. Leipzig 1881,
Teubner. (VII, 163 S. 8.) M. 1. 80; geb. M. 2. 40.

Wie Kügelgen's köftliche Jugenderinnerungen eines
alten Mannes' zu einer ganzen Reihe von Jugenderinnerungen
' Anregung gegeben haben, fo haben auch
Büchfel's .Erinnerungen aus dem Leben eines Landgeilt-
lichen' in gar manchem feiner Amtsbrüder die Luft geweckt
, auch etwas aus dem Schatze feiner Erfahrungen
andern zu Nutz und Freud' darzubieten. Dafs fich dazu
auch in den einfachften und befcheidenften Verhältnifsen
Stoff genug findet, wenn der Pfarrer nur ein offenes Auge
und ein warmes Herz für des Volkes Art und Wefen hat,
wenn es ihm nicht an Sinn für die eigenartige Ausprägung
I des in Fehlern und Tugenden, in Freud und Leid gleichen
Menfchenwefens fehlt, wenn er andererfeits wieder
verfteht, auch unter der rauheften Hülle dem göttlichen
Funken, der fich zum Lichte emporringt, nachzugehen,
davon legt das befprochene Büchlein Zeugnifs ab. Der
Verf. befitzt jene Gaben in hohem Mafse. Mit liebevollem
Sinn und feinem Verftändnifs hat er in aller
Schlichtheit ein gar treues und anziehendes Bild von Art
und Sitte des Volkes im heffifchen Vogelsberg und von
dem Leben und Wirken des Pfarrers unter ihnen gezeichnet
. Werden fich daran zunächft feine heffifchen
Amtsbrüder erfreuen, fo darf das Büchlein doch auch in
j weiteren Kreifen auf Anklang rechnen. Einmal lieft es
I fich aufserordentlich angenehm. Gut gefchrieben — nur