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Ausgabe:

1882 Nr. 22

Spalte:

522-524

Autor/Hrsg.:

Claassen, Johs.

Titel/Untertitel:

Gotthold Ephraim Lessings Leben und ausgewählte Werke im Lichte der christlichen Wahrheit. 1. Bd. Das Leben. 2. Bd. Theologie und Philosophie 1882

Rezensent:

Lindenberg, H.

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Theologifche Literaturzeitung. 1882. Nr. 22.

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diefer Einzelabhandlungen find vortrefflich und die Behandlung
geht in die Tiefe, wie in die Weite, indem fie
für alles die Beziehungen in der Gefchichte der Philo-
fophie und im Zeitbevvufstfein nachzuweifen bemüht ißt;
nur dafs die Wurzeln der ethifchen Anfchauungen Hart-
mann's, wie fie in feiner fonftigen Philofophie liegen,
klarer hätten aufgedeckt werden follen. Allein wenn
das völlige Verftändnifs des Verf.'s ebenfo, wie die Gerechtigkeit
gegen feinen Gegner erfordert, die betreffenden
Partien des Hartmann'fchen Buches jedesmal vor-
auszulefen, fo ift dies bald ermüdend, und der Nutzen,
den man davon hat, fleht mit dem Aufwand an Zeit und
Kraft nicht in Verhältnifs. Ref. bekennt, es etwa bis in
die Mitte des Buches fertig gebracht zu haben , andere
Lefer werden die Vergleichung wohl eher aufhören
laffen; damit hat ja doch das Buch bei diefer feiner Anlage
einen grofsen Theil feines Werthes verloren. Ebenfalls
in der Anlage ift der noch fchwerere Nachtheil
begründet, dafs fleh der Verf. den Gang feiner Unter-
fuchung vom Gegner dictiren laffen mufs, nur auf die
Defenfive befchränkt, flatt in felbftändiger Entwickclung
ihn zu widerlegen. So kommt z. B. die für die chrift-
liche Ethik fo bedeutungsvolle ,Liebe' nur in Reih und
Glied mit andern verhältnifsmäfsig bedeutungslofcn ,Mo-
ralprincipien'zurBefprechung, und was für eine ,Liebe', im
Sinne Hartmann's, trotz des Panegyricus, den diefer ihr an-
ftimmt! Statt deffen mufs er fleh an der Kette der Hartmann
'fchen Kategorien und Principien von den ver-
fchiedenen Egoismen an bis zum ab/bluten Moralprincip,
welches wieder einen verkappten Egoismus auf den
Thron fetzt, durch die ganze Arbeit hindurchfchleppen
laffen. Möchte doch der überaus reiche Inhalt eine
entfprechendere Form gefunden haben!

DiefeForm hat ohne Frage die Sommer'fche Schrift,
eine von denen, mit welchen Juriften die apologetifche
Literatur befchenkt haben, ein würdiges Seitenftück zu
dem, wie es fcheint, trotz alles Lobes zu wenig bekannten:
,Der chriftliche Glaube und die menfehliche Freiheit'.
Der Verf. ift ein Schüler Lotze's. Er beginnt mit einer
umfarfgreichen Auseinanderfetzung des Wefens der Sittlichkeit
und des Wefens des Peffimismus, mit einander
weit über die Hälfte des ganzen Buches. Es liegt im
Wefen des Sittlichen, dafs wir dem, was wir follen,
einen ganz unbedingten Eigenwerth zufchreiben, fo-
wohl an fleh, als für den Weltprocefs, welcher durch
die Erreichung unferer individuellen fittlichen Lebens-
beftimmung irgendwie gefördert werden mufs. Der
Peffimismus geht fchon in feiner metaphyhifchen Grundlage
darauf aus, alle Eigenwerthe zu eliminiren
und alles auf rein formelle Beflimmungen, zuletzt auf
Wille und Vorftellung zurückzuführen, und fpricht fodann
a priori, wie a poste7-iori dem Weltprocefs im Ganzen
und allem Einzelnen darin feinen Werth ab. Damit ift
die Unverträglichkeit von Sittlichkeit und Peffimismus
von vornherein gegeben. Gleichwohl wird die von Hartmann
auf Grund des Peffimismus neu und, wie er behauptet
, erft wahrhaft aufgebaute Ethik in einem dritten
Abfchnitt noch einer fcharfen Kritik unterzogen, deren Er-
gebnifs ift, dafs die Hartmann'fche Ethik fchon in ihrem
Anfang alles Ethifche im Menfchen ertödtet, indem fie den
Egoismus und den auf Befriedigung der finnlichen Luft
gerichteten Willen zum Ausgangspunkt, überhaupt die
Luft und deren Befriedigung zum Mafsftab der Werth-
fchätzung nimmt. Und das höchfte Moralprincip? Wenn
der Menfch nur fich felbft im Allgemeinen fucht und
fördern will, nach dem Princip der Wefensidentität, fo
ift das nichts weiter, als Kryptoegoismus; ganz abge-
fehen von den Ungeheuerlichkeiten und Ungereimtheiten
im Einzelnen, ganz abgefehen davon, dafs die Confe-
quenz feiner Anfchauung den Selbftmord fein mufs.

Kommt es nur auf eine Kritik Hartmann's an, fo
ift der Zweck in vorzüglicher Weife erfüllt, indem die
einzelnen Gedanken bis in ihre letzten Wurzeln innerhalb
des metaphyfifchen Syftems, ja darüber hinaus bis
in die Strömungen des Zeitgeiftes, denen der Philofoph
fchmeichelt, verfolgt werden. Aber der Ton follte hier
und da ein anderer fein. Gewifs kann man es Mythologie
nennen, beffer vielleicht Gnofticismus, wenn die ab-
ftracten Begriffe des dummen Willens und der Vorftellung
, das leere Abfolute felbft, wie Perfönlichkeiten
behandelt werden, die lieben, halfen, ftaunen und fich
fürchten, die Zwecke haben und Pläne zu deren Erreichung
fchmieden. Aber warum von .albernen Märchen',
,Spottgeburten' u. dgl. reden? Damit wird der Eindruck
der Polemik nach der anderen Seite hin nicht verftärkt.
Und ift es nicht anderfeits Hartmann zu viel Ehre an-
gethan, wenn man heutzutage bei Peffimismus nur an
ihn denkt? Allerdings beherrfcht diefer Virtuos des
Philofophirens, in dem die krankhaften Richtungen der
Zeit nahezu alle in wunderbarer Verfchmelzung ihren
Ausdruck finden, weite Kreife, aber in dem Mafse, als
unverkennbar feine Schriften matter werden, wird auch
das Intereffe abnehmen und die Phänomenologie dürfte
ihm wenig neue Jünger gewonnen haben. Aber wenn
Hartmann vergeffen fein wird, wenn die Nachwelt fich
vielleicht wundern wird, dafs unfere Zeit an feine Be-
ftreitung fo viel Mühe verwandt hat, wird der Zauber,
den Schopenhauer, und die dem Peffimismus huldigenden
Dichter, wie Byron, Leopardi und die von ihnen, auch
von Hartmann, dem handläufigen Peffimismus gegenüber
vertretene Wahrheit ausüben, fortwirken oder fich
wieder auffrifchen. Zudem ift die Sittlichkeit, die bei
Hartmann endlich zu Tage tritt, eine recht fchaale, keines
wegs ,Nektar und Ambrofia', wie er meint, während bei
jenen anderen fich ein tiefer ethifcher Zug, hier und da
ein Verftändnifs dafür findet, dafs der Uebel gröfstes die
Schuld ift. Wäre es nicht eine dankbare Aufgabe gewefen,
den Gefichtskreis erweiternd, zugleichdas Problem in feiner
ganzen Tiefe zu erfaffen? Jedenfalls ift bei der Befchrän-
kung auf den einen nicht erfüllt, was der Titel ,Der Peffimismus
und die Sittenlehre' verfpricht. —■ Sehr ftörend
wirken, zumal bei der vorzüglichen Ausftattung, die vielen
Druckfehler, deren Zahl durch das Verzeichnifs am Ende
bei weitem nicht erfchöpft ift (vgl. z. B. S. 64. 65).
Der Grund mag darin mit liegen, dafs der Druck aufser-
halb Deutfchlands erfolgt ift. Möchte auf deren Befei-
tigung gefehen werden, wenn eine zweite Auflage der
intereffanten, wenn man fich die Aufgabe auf Hartmann
befchränkt, vortrefflichen und des ertheilten Preifes durchaus
würdigen Schrift nöthig werden follte.

Leipzig. Härtung.

Ciaassen, Johs., Gotthold Ephraim Lessings Leben und ausgewählte
Werke im Lichte der christlichen Wahrheit.

1. u. 2. Bd. [1. Das Leben. — 2. Theologie und
Philofophie.] Gütersloh 1881, Bertelsmann. (XIX,
264 u. XVI, 528 S. 8.) M. 8. —

Eine neue Biographie Leffing's könnte neben den
vielen eingehenden Darftellungen feines Lebens und
Wirkens überflüffig erfcheinen. Der durch feine treffliche
Darftellung Hamann's bekannte Verfaffer ift fich
auch wohl bewufst, dafs er nicht ,allerlei Neues' bringe,
er hat nicht fein Abfehen auf .gelehrte Erörterungen'
gerichtet, er macht auch keinen Anfpruch auf unbedingte
Vollftändigkeit. Was diefe Biographie von andern unter-
fcheidet, ift vielmehr lediglich der Standpunkt, von dem
aus alles Einzelne beurtheilt wird. Es ift ,das heilige
Licht aus der Höhe', das der Verf. .allen Beziehungen
des Lebens und Wirkens' Leffing's angedeihen laffen will.
.Kann man fagen', fo fragt er, ,dafs Leffing, der Menfch,
der Kritiker und Dichter, der Philofoph und Theolog,
bereits in diefem Lichte vor der Nachwelt geftanden
habe?' Mit der Verneinung diefer Frage wird die Berechtigung
der vorliegenden Darfteilung motivirt. Ref.