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Ausgabe:

1882 Nr. 1

Spalte:

19-20

Autor/Hrsg.:

Haupt, Erich

Titel/Untertitel:

Die Kirche und die theologische Lehrfreiheit 1882

Rezensent:

Harnack, Adolf

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Seite 1

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Theologifche Literaturzeitung. 1882. Nr. 1.

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an der h. S. fei lediglich die ,Be-ftimmtheit des religiöfen
Gefühls', ,das unmittelbare religiöfe Bewufstfein' der
biblifchen Schriftfteller. Ich kann nicht finden, dafs die
Theologie, wenn fie diefen verkehrten Satz annimmt,
fich einer gröfseren Willkür überlaffe, als wenn fie auf
die Weifungen des Verf.'s hörte. Der Schaden ift in
beiden Fällen gleich grofs. Wie aber jemand fich bei
diefer Thatfache beruhigen kann, der in dem Hochgefühl
einer fichern Pofition das Recht der theologifchen Parteien
in der Kirche beurtheilt, das ift mir nicht verftänd-
1 ich. Der Verf. mufs doch felbft fühlen, dafs unter diefen
Umfländen die freundliche Nachficht, die er z. B.
mir beweift, etwas kränkendes haben mufs. Ich würde
überhaupt nicht mehr Theolog fein wollen, wenn mir
die Autorität der gefchichtlichen Offenbarung ebenfo
unficher geworden wäre wie dem Verfaffer. Wenn er
auf derfelben Seite, welche das Eingeftändnifs bringt,
die Grenzen des Autoritativen in der Schrift feien unficher
, von der ,unbeftreitbar und anerkanntermafsen
kl aren Hauptmaffe der zu diefer infallibeln Lehre gehörenden
Anfchauungen' redet, fo ift diefes ,unbeftreit-
bar und anerkanntermafsen' in dem Munde eines Theo- 1
logen, der fich dabei beruhigt, das volle Eingeftändnifs
des theologifchen Unvermögens. Denn jene Hauptmaffe
ift nichts Anderes als ein vor dem jeweiligen Bewufstfein
einzelner Gläubiger oder weiterer Kreife der Gemeinde
fchwebendes Bild, welches für diefe felbft keine
ganz ficheren Grenzen und auf keinen Fall ein unanfecht- I
bares Recht auf Allgemeingültigkeit für die ganze Gemeinde
hat. Das ift alfo nicht die Autorität für uns,
fondern foll vielmehr felbft an der Autorität der Offenbarung
regulirt werden. Aus der Urkunde der gefchichtlichen
Offenbarung felbft mufs das Gefetz erkannt
werden können, nach welchem fich die religiöfe Welt-
anfehauung des Chriften aus dem biblifchen Stoff nor- I
mal geftaltet. Der Theolog, der diefes Gefetz nicht
kennt, hat die Wohlthat der Reformation fich noch
nicht zu eigen gemacht, und ift trotz aller Bcgeifterung
für die Schrift ebenfo wenig befugt, die allgemeingültige
Lehre der Kirche zu vertreten, wie die frommen Laien-
kreife, welche fich durch die Einfälle, die ihnen bei der
Schriftlectüre kommen, der Kirche entfremden laffen. —
Ich hatte ein ftarkes Intereffe, von dem Verf. zu erfahren
, was ,pofitive Theologie' fei, da er mich mög-
lichft nahe an die Grenze derfelben herangerückt hat.
Nach der Leetüre feiner Schrift bedauere ich, fagen zu
müffen, dafs ich als Theolog einer folchen Annäherung j
gar nicht fähig bin. Denn nach des Verf.'s Ausführung
find die Pofitiven die Wohlmeinenden, welche nicht
genau zu fagen wiffen, was fie meinen. In der Wiffen-
fchaft aber fuchen wir doch wohl nicht nur die Gemein-
fchaft der Wohlmeinenden, fondern ebenfo wohl die
der Einfichtigen und Verftändigen.

Marburg. W. Herrmann.

Haupt, Prof. Dr. Erich, Die Kirche und die theologische
Lehrfreiheit. Kiel 1881, Homann. (IV, 64 S. gr. 8.)
M. 1. 20.

Die Brofchüre von Haupt bietet zweierlei. Erftens
einen Vortrag über die Kirche und die Freiheit der
theologifchen Facultäten, der auf der Berliner Paftoral-
Conferenz im Jahre 1881 gehalten worden ift, fodann
(S. 38 f.) eine Erörterung der Frage nach der Grenze
der Lehrverpflichtung für das geiftliche Amt, zu welcher
der Vortragende durch den Gang der Verhandlungen j
Veranlagung erhielt. Die Ausführungen fufsen, wie der j
Verf. felbft noch einmal im Vorwort conftatirt, auf dog-
matifchen Vorausfetzungen, welche diejenigen anerkennen
müffen, die ihm das Wort gegeben haben, aber fie
tührten zu Ergebnifsen, welche den Tendenzen der
herrfchenden kirchlichen Strömung in Preufsen fchnur-
ftracks zuwider laufen. Dem Verf. ergab nämlich eine |

unbefangene Prüfung unfer kirchlichen und theologifchen
Zuftände, 1) dafs die Kirche auf jedes Eigenthumsrecht
an den theologifchen Facultäten heutzutage verzichten
müffe. Sie mufs ihnen vollftändige Selbftändigkeit gewähren
, unter dem ausdrücklichen Vorbehalt, dafs fie
für diefelben keine Bürgfchaft übernimmt und fie in
keiner Weife als ihren Mund betrachtet: fie kann aber
auch verlangen, dafs mindeftens ein kirchlich gefinnter
Docent bei jeder Facultät angeheilt werde. 2) Die Grenzen
der Lchrverpflichtung für das geiftliche Amt anlangend
, fo fucht der Verf. nachzuweifen, dafs die einzig
mögliche Verpflichtungsweife heutzutage darin beliehen
könne, den Geiftlichen anzuhalten, nicht wider das Be-
kenntnifs zu lehren, d. h. feine Abweichung vom Be-
kenntnifs der Kirche nie zum Gegenftande feines amtlichen
Handelns zu machen. So foll allem Schwanken
und allen Glaubensexamina vorgebeugt, die Kirche und
der einzelne Geiftliche fichcrgeftellt werden. — Man
kann dem Redner, der von den Thatfachen fich hat
weifen laffen und der Wahrheit eine Gaffe gebahnt hat,
nur aufrichtig Dank wiffen. Diejenigen, welche die
Hauptforderung des Verfaffers — wirkliche Lehrfreiheit
für die theologifchen Docenten und gründlichere prak-
tifche und kirchliche Vorbereitung der Candidaten für
den Kirchendienft — anerkennen, werden mit ihm zwar
mancher feiner Ausführungen wegen zu rechten haben,
aber ihm nicht abfprechen, dafs er aus warmer Theil-
nahme für die Kirche gesprochen und die Anfprüche
der Wiffenfchaft frei bekannt hat. Was den zweiten
Punkt betrifft, fo gefleht Ref. dem Verf. gerne zu, dafs
mit diefer Forderung im Princip das Richtige getroffen
ift; aber es wird zuviel von ihrer Durchführung erwartet.
Im ftricteften, gefetzlichen Sinn kann auch diefer Grund-
fatz ohne Härte und Schädigung der evangelifchen Freiheit
nicht durchgeführt werden. Die Entfcheidungen der
Kirchenregimente von Fall zu Fall unter voller Berück-
fichtigung der Situation werden darum nicht völlig aus-
gefchloffen fein.
Giefsen. Adolf II arnack.

Evers, Pfr. Dr. Carl, ,Siehe, ich verkündige euch grosse
Freude'. Predigten. 2. Sammlung. Leipzig 1881,
Teubner. (VIII, 338 S. gr. 8.) M. 4- —

Der erfte Band diefer Predigten erfchien 1877. Diefer
zweite enthält neben 17 Predigten an gewöhnlichen
Sonn- und Fefttagen 5 Predigten bei befonderen Gelegenheiten
, namentlich an Guftav-Adolfs- und Miffions-
Feften, eine Anfprache bei dem Gottesdienfte nach dem
Attentate auf den Kaifer und einen Vortrag über die
Bedeutung des Sonntages. Geift und Form aller diefer
Reden haben viel Anfprcchendes. Aufser bei jenen befonderen
Gelegenheiten find die Texte faft alle den im
Königreiche Sachfen verordneten Perikopen entnommen.
Es pflegt ihnen ein kurzes Gebet vorauszugehen. Die
nachfolgenden Einleitungen, in welchen zuweilen die
Stellung des Tages im Kirchenjahre fcharffinnig dargelegt
wird, find lang, während ziemlich kurz aber gut und
mit Wiederholung der Partition gcfchloffen wird. Die
Themata erfcheinen meift der Form nach bündig und
fchön ausgedrückt, dem Inhalte nach weit, mehr nur
Ueberfchriften. Auch die Partitionen haben eine fehr
knappe, ebenmäfsige, überhaupt wohlgelungene Form.
Doch gilt dies mehr von andern als von den gereimten.
Nur feiten fällt einmal der Inhalt nicht fcharf auseinander
, wie in der dritten Predigt das dreifache Hoffen
1) Im Leben auf Gottes Güte, 2) Im Leiden auf Gottes
Hülfe, 3) Im Sterben auf Gottes Gnade. Die jetzt herr-
fchende thematifch- (oder fynthetifch-) analytifche Dis-
pofitionsweife wird von dem Verf. mit viel Gefchick angewendet
, und zwar fo, dafs er oft weniger eine ganz
genaue Befprechung des ganzen Textes erzielt, als ein
glückliches Herausgreifen folcher Punkte, auf welche fich