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Ausgabe:

1882 Nr. 14

Spalte:

330-332

Autor/Hrsg.:

Schultz, Herm.

Titel/Untertitel:

Predigten, gehalten in der Universitätskirche zu Göttingen 1882

Rezensent:

Löber, Richard

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329 Theologifche Literaturzeitung. 1882. Nr. 14. 330

keif gilt dem Staatsprincip. Was ift aber dies Staats-
princip? Es ift das mehr äufserliche, bürger- |
liehe Leben, die Rechts- und Culturgem ein-
fchaft. Hierin und in Allem, was von der Kirche herüber
in das bürgerliche Leben eingreift, hat die Kirche j
die Pflicht, fich vor der Souveränetät des Staats unbedingt
zu beugen. Hier gilt: .Gebt dem Kaifer, was des |
Kaifers ift!' (S. 201). Diefe Forderungen find unzweifelhaft
richtig, fchlimm ift nur der Umftand, dafs Rom in
neuefter Zeit mehr und mehr auch die gemifchten kirchlichen
Angelegenheiten zu den reinen sacris rechnet, da- j
durch den Culturkampf heraufbeschworen hat und kein
gröfseres Intereffe haben kann, als ihn zu erhalten.
Denn es befindet fich dem Staate gegenüber immer in
der angenehmen Lage, behaupten zu können, dafs er
mit feinen Gefetzen hineingreife in die eigentlichen
Sacra der Kirche und fomit ein sacrilegium begehe.
Das Volk aber glaubt diefe Darftellung, fo grundfalfch
fie fein mag, feinen Geiftlichen auf's Wort und wendet
fich mehr und mehr vom Kaifer ab und dem
Papfte zu. Das hat auch Küchlcr richtig gefehen, wenn 1
er S. 253 fchreibt: ,Das ift der grofse tragifche Knoten
am ganzen Problem, dafs die Verhältnisse der Völker j
allgemach fich fo verwickelt und verwirrt haben, dafs !
man den Glauben unterdrücken, die Gewiffensfreiheit |
verletzen mufs, um den Glauben und die Gewiffensfreiheit
retten zu können. Und diefen Wahn nähren
die lefuiten. Daher der grenzenlofe Fanatismus,
daher die fchreckliche Verirrung und bodenlofe
Verworfenheit, zu der das katholifche Volk aus
lauter Frömmigkeit kommt' (S. 253). .Wenn die
Sachen aber fo liegen, darf dann der Staat zurück?
Nimmermehr! Sein Gewiffen verbietet es ihm! Er
mufs als moralifche Gemeinfchaft feine gottge- |
ordnete Souveränetät wahren, koftees, was es I
wolle! Es ift ein Act der Nothwehr' (S. 254). Ebenfo j
wahr ift es, wenn auf S. 246 gefagt wird: ,Der Staat
kann und darf die Gewiffensfreiheit nicht laf-
fen, die neukatholifche Kirche fie nicht anerkennen
. Hier liegt der Kernpunkt des Streites'. Sie
wird fie, fügen wir hinzu, nie und nimmer anerkennen,
weil fie fich felbft damit den Todesftofs geben würde, j
.Hätte diefe (die römifche Curie) die weltliche Macht des I
Staates, wir wären längft Alle fpurlos vom Erdboden I
verfchwunden' (S. 249). Darum ftellt der Verf. mit voll-
ftem Rechte die kräftige Forderung: ,Der Staat hat
einfach zu verlangen, dafs fein Gebiet intact
bleibe, und die umverteile Gewiffensfreiheit der katho-
lifchen Kirche fich in ihr Mafs und Gebiet zurück- j
ziehe und die umverteile Gewiffensfreiheit des
Staates und die individuelle Gewiffensfreiheit
der Bürger refpectire! Und von diefem Rechte
darf der moderne Staat kein Jota weichen, keine
einzige Conceffion machen, komme, was da t
wolle! Es gehe auf Leben und Tod!' (S. 250).
Leider ift man gegenwärtig, geblendet durch den angeb- |
liehen Nothftand der römifch-katholifchen Kirche, weiter,
als je, davon entfernt, mit eiferner Confequenz die
Rechte des Staates zu wahren. Faft wehmüthig lieft es
fich daher, wenn der Verfaffer S. 254 und 255 fchreibt:
..Einmal mufs es ja doch zur Entfcheidung kommen,
mag man diefe auch noch fo lange aufhalten. Ja, je
länger der Staat wartet, defto fchwerer die Löfung, defto
fchmerzlicher die Kataftrophe, defto länger die Tragödie. |
„Seien Sie unbeforgt, meine Herren, wir gehen nicht mehr 1
nach Canoffa!" Dies Wort Bismarck's ift die klaffifche
Formel und Lofung für den modernen Staat geworden.
Kein Schritt zurück! .... Aber auch kein Schritt un-
befonnen vorwärts! Aber — und die Verletzung des
Gewiffens des katholifchen Volkes? Dafür ift der
Staat nicht verantwortlich,—^/?« publica suprema
lex estol — fondern die römifche Curie felbft, diefe
hat den Conflict heranfbefchworen!' (S. 235).

Soviel zur Charakteriftik des Hauptinhalts der vorliegenden
Schrift, die in klarer Gruppirung vortreffliche,
mit männlichem Muthe ausgefprochene Gedanken darbietet
und dadurch den Lefer feffelt. Einige Ueber-
fchwänglichkeiten, wie fie z. B. auf S. 15 und 121 fich
finden, hätten wir im Intereffe der Sache gern vermieden
gefehen. Mehrere, fofort in die Augen fpringende
Druckfehler wie chaldäifch ft. culdeifch (S. 161), Sava-
narola ft. Savonarola (S. 62), Wattergeufen ft. Watergeu-
fen (S. 70), spiriti saneti ft. Spiritus saneti (S. 122) u. ä.
feien nur im Vorübergehen erwähnt, unrichtig aber ift
es, wenn die Hinrichtung von Jean Calas in das Jahr
1672 ft. 1762 gefetzt (S. 71), wenn Secki ft. Secchi (S.
27D gefchrieben, wenn die Infchrift der Krone Rudolfs
von Schwaben mit den Worten: ,Petrus dedit Petro u.f. w.
ft. ,PetrU dedit Petro u. f. w.' angeführt, und der wahr-
fcheinlich erft von Rupertus Meldenius herrührende
Spruch: ,bi necessariis unitas u. f. w. (R.-E. IX, 305
noch dem Auguftin zugefchrieben wird (S. 293). Ferner
mufs fowohl auf S. 237, als auch auf S. 241, ft. Boni-
facius III., der einer der harmlofeften Päpfte gewefen ift,
Bonifacius VIII. gelefen werden. Auch kann Ref. durchaus
nicht beipflichten, wenn der Conflict des grofsen
Kurfürften mit Paul Gerhardt S. 187 als warnendes
Beifpiel dafür angeführt wird, dafs der Staat fich hüten
müfle , ,das Gewiffen der Religionsdiener nicht auf brutale
Weife zu ängften'. Von Brutalität war bei dem
ganzen Streite auf Seiten des grofsen Kurfürften überhaupt
keine Rede, insbefondere aber nicht Paul Gerhardt
gegenüber, der feine fchliefsliche definitive Abfetzung
vom 4. Februar 1667 fich vollftändig auf feine Rechnung
zu fetzen hatte, da ihm die berühmte, mündliche Zu-
ficherung feines Fürften abermalige und zwar gänzlich
unbegründete Gewiffensbedenken erregte.

Crefeld. F. R. Fay.

Schultz, Herrn., Predigten, gehalten in der Univerfitäts-
kirche zu Göttingen. Gotha 1882, F. A. Perthes.
(VIII, 339 S. gr. 8.) M. 6. —; geb. M. 7. -

Wenn der Verfaffer mit diefen Predigten die Erbauung
der Gebildeten zu fördern hofft, fo hat er fich
den Kreis feiner Lefer zu eng gedacht. Denn feine kernhafte
und volksthümliche Predigtweife wird einen ver-
ftändnifsvollen Wiederhall finden auch in dem Herzen
des fchlichten Mannes, dem der einfältige Sinn durch
.Bildung' noch nicht verdorben worden. Junge und alte
Theologen können von diefem Univerfitätsprediger lernen,
dafs die reiffte Frucht eindringenden Studiums edle
Einfalt ift, an der fich Gebildete und Ungebildete erquicken
und ftärken. Hier ift männliche Beredtfamkeit,
die auf weiblichen Wort- und Bilderfchmuck und auf
eitle Selbftbefpiegelung verzichtet, aber mit überlegner
Kraft die Gewiffen packt, dunkle Anfechtungen an-
fchaulich fchildert und tiefe Heilserfahrungen zum fchlichten
und ergreifenden Ausdruck bringt.

Im ungefuchten Anfchlufs an die betreffenden Texte
und mit fcharfer tief eindringender Menfchenkenntnifs
legt der Verf. blofs den Zuftand des in nichtiger Schein-
religiofität dahinfiechenden Lebens; nur' nehmen folche
Schilderungen oft einen zu grofsen Raum ein im Ver-
hältnifs zu der Botfchaft des Heils, die ja allein ein
wahrhaftes Leben erzeugen kann. Diefes unerbauliche
Mifsverhältnifs tritt befonders ftark hervor in der Adventspredigt
p. 21 und in der Weihnachtspredigt p. 61.
Und felbft da, wo die Botfchaft des Heils ganz und voll
zum Ausdruck kommt, ift fie, wenn auch nicht in der
nörgelnden Weife von Tobias Beck, dermafsen verclau-
fulirt , dafs die fchöpferifche Wirkung derfelben ge-
fchwächt wird. Statt den Lichtftrahl des Heils von den
Giftpflanzen ängftlich abzufperren, follte man ihn erft
rein und ungehemmt wirken laffen, damit überhaupt
etwas Lebensfähiges wachfen kann. Wenn das .ganze