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Ausgabe:

1882 Nr. 14

Spalte:

325-327

Autor/Hrsg.:

Rogge, H.

Titel/Untertitel:

Samuel Wilhelm Rogge. Ein Lebens-, Amts- und Familienbild aus einem schlesischen Landpfarrhause 1882

Rezensent:

Lemme, Ludwig

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Theologifche Literaturzeitung. 1882. Nr. 14.

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in jene Bahnen. Ein intereffantes Beifpiel unter andern
ift die Kreuzzugsbewegung des Jahrs 1309; auch hier
geben die kirchlichen Gedanken den Anftofs, fofort aber
ftürzt lieh maffenhaftes Gefindel, heimat-, brod- und arbeitslos
in die Sache: die Juden werden maffenhaft erfchla-
gen, Schlöffer erftürmt und verbrannt, mit Gewalt werden
Almofen erprefst, Kirchen und Geiftlichkeit bedroht und
beraubt. Auch hier find fogar Geiftliche betheiligt und
fchliefslich verläuft fich die Fluth ähnlich wie bei den
Geifslerzügen, nachdem die Kreuzträger von der Kirche
verdammt, von den Herren und Fürften erfchlagen, in
Hunger und Elend verkommen find (die Hauptquellen
diefer in den meiften zeitgenöffifchen Chroniken erwähnten
Vorgänge find: Gcsta abbat. Tmd. in MG. SS. 10,
412. Contin. Florian, ib. 9, 752. Ann. 'fiel, ib 24, 26u.a.m.).
Und bei der ganzen Bewegung wird ausdrücklich von
allen Seiten hervorgehoben, dafs fie ohne alle Führer
verlaufen fei. Es find offenbar Schaaren von Gefindel,
die unter dem Schutz des Kreuzes raubend durch das
Land ziehen: aber fo wenig man hier von einer orga-
nifirten focialen Revolution reden kann, ebsnfo wenig ift
dies auch bei jenen Geifslerzügen zuläffig. Der Vergleich
mit jedem Bauernaufftand des Mittelalters — um
von dem des 16. Jahrh. zu fchweigen, könnte davon
uberzeugen. — Wenn ich von dem fo vielfeitig anregenden
Buche hiermit fcheide, fo kann ich doch zum
Schlufs den Wunfeh nicht zurückhalten, es möchte bald
die dankenswerthe, aber mühevolle Arbeit unternommen
werden, das focialpolitifche Programm der revolutionären
Kreife des 13.—15. Jahrh. einmal feftzuftellen und in
feine vielen Verzweigungen genauer zu verfolgen. Auf
die allgemeine Entwicklung diefer letzten Zeiten des
Mittelalters und ihren directen Zufammenhang mit den
fc'nwärmerifchen und focialiftifchen Bewegungen des
fechzehnten Jahrhunderts würde fo gewifs reiches neues
Licht fallen.

Berlin. Karl Müller.

Rogge, Superint. Oberpfr. H., Samuel Wilhelm Rogge. Ein

Lebens-, Amts- und Familienbild aus einem fehlen-
fchen Landpfarrhaufe. Breslau 1881, Dülfer. (VII,
230 S. m. 2 Lichtdr. gr. 8.) M. 3. 50.

Sam. Wilh. Rogge (1790—1870I machte feine Studien
in Königsberg in der Blüthezeit des Rationalismus,
aber ein ftark confervativer Sinn, fupranaturaliftifche
Glaubenselemente, die er aus feiner Kindheit mitgebracht
und fich ffets gewahrt hatte, die Einwirkung des Bi-
fchofs Borowski und die biblifche Zucht des Amts führten
ihn allmählich in die geradezu entgegengefetzte
Richtung. Durch die Einwirkung feines Bruders (des fpä-
ter in Folge asketifcher Nahrungsenthaltung geftorbenen
Tübinger Profeffors) wurde er von dem Wellenfchlage der
in Königsberg durch Olshaufen und Ebel vertretenen
Bewegung mit ergriffen. Die Beziehungen zu den fchle-
fifchen Confeflionellen vollendeten dann feine Fortentwickelung
zu einem orthodoxen Pietiften, wie er fich
felbft gelegentlich nennt. Ein eifriger Vorkämpfer für
den Confeffionalismus geworden, hat er doch den Austritt
aus der Landeskirche nicht mitgemacht, hat vielmehr
befürchtet, dafs ,das verketzernde unfelige Dogma
des Romanismus von der alleinfeligmachenden Kirche,
das unter den Separirten immer mehr Platz greife',
,endlich einen todten, ftarrenOrthodoxismus herbeiführen
müfste', aber er hat eine Reihe von Jahren hindurch als
das Haupt der landeskirchlichen Lutheraner in Schlehen
gegolten. Der Kampf für die lutherifche Confeffion, fo
wie er fie verftand, und der Kampf gegen die Alkoholvergiftung
nach der Kranichfeld'fc'hen Theorie: alles
Giftige, im Unterfchied vom blofs Schädlichen, habe
feinen Urfprung vom Satan, der die Gefchöpfe und Gaben
Gottes verderbe, und unter diefen Giften fei das

dem Reiche Gottes gefährlichfte der künftlich erzeugte
Alkohol) bezeichnet fein vorwiegendes Intereffe. Doch
empfangen wir auch das wohlthuende Bild eines tüchtig
und treu in der eigenen Gemeinde wirkenden Geiftlichen,

| der die Aufgaben feines Amts mit heiligem Ernft erfafst,

I namentlich in der Seelforge unermüdlich ift, deffen Erfolg
freilich in demfelben Mafse leidet, als er vorwiegend
von agitatorifchem Treiben in Anfpruch genommen wird.
Der Entwickelungsgang, wie ihn S. W. Rogge durch-

I gemacht hat, ift kein feltener gewefen. Und der Verf.
hat nicht einmal befondere Aufmerkfamkeit darauf verwandt
, uns diefen Entwickelungsgang vorzuführen und

i verftändlich zu machen. Zur Abfaffung diefer Biographie
fcheint hauptfächlich das Intereffe der weitverzweigten
angefehenen und tüchtigen Familie den Anlafs

I gegeben zu haben. Wenigftens lieft fich das Buch in
vielen Partien als ein für die Nächftbetheiligten berechneter
fummarifcher Ueberblick über die Familienchronik.
Die Frage, die manche aufgeworfen haben, welche den
im J. 1870 Heimgegangenen Pfarrer von Grofstinz per-
fönlich gekannt haben, ob diefes Leben innerlich und
äufserlich bedeutend genug gewefen fei, um eine eigene
Biographie zu rechtfertigen, beantwortet der Verf. durch
den Hinweis auf feinen Antheil an den confeflionellen
Bewegungen, denen er eine hohe fördernde Bedeutung
für unfere gefammte kirchliche Entwickelung zufchreibt.
Freilich beftätigt diefe Biographie wenigftens jene Anficht
in keiner Weife. Sie beweift ihrerfeits von Neuem,

1 in wie fundamentalem Irrthum fich diejenigen befanden,

j welche im Kampf gegen die Union ein Intereffe des

I Glaubens oder des Chriftenthums zu vertreten meinten.
Die Gegenftandslofigkeit und Inhaltsarmuth diefer Bewegung
gerade in Schienen tritt befonders ftark da hervor
, wo das Hangen der Gemeinden an überlieferten
agendarifchen Formen und Formeln als das Ausfchlag-
gebende erfcheint. Aufserdem zeigt fich hier klar, dafs
es felbft bei den Führern der Bewegung an einem genügenden
Verftändnifs für den fpeeififchen Werth der
lutherifchen Confeffion gebricht: die Confeffion ift hier

I weiter nichts als der confervative Hort der Vergangenheit
, an den das Intereffe der pofitiven Frömmigkeit anknüpft
als an feine gefchichtlich gegebene Exiftenzbafis.
In der Erneuerung der durch die kirchliche Tradition geheiligten
und in ihrem ßeftande gefchützten Confeffion
fucht diefer ,orthodoxe Pietismus' die Gewähr des eigenen
Beftandes, ohne die Bekenntnifsfchriften, auf denen
er fufsen möchte, nur einmal genügend zu kennen. In
merkwürdigem Contraft zu dem Geftändnifs Rogge's,
dafs er feit Antritt feines Pfarramts zu ernftlichen Stu-

) dien über den Katechismus hinaus nicht gekommen fei,
fleht darum die von ihm im Einklang mit feinen Gefin-
nungsgenoffen abgegebene, die ftricte Uebereinftimmung
von Schrift und Symbol behauptende Erklärung S. 115 ff.,

| welche die gefetzliche Verbindlichkeit des Worts der
Bekenntnifsfchriften in der extremften Form des qnia

j geltend macht. Und ergötzlich geradezu ift der auf S.
144 ff. mitgetheilte Verfaffungsvorfchlag Meydorn's, eines
Freundes Rogge's, der im Wesentlichen darauf hinauskommt
, dafs der echte bekennlnifstreueLutheraner nichts
vorfchlagen dürfe, abgefehen von einer höchft unklaren
und haltlofen Schwärmerei für die bifchöfliche Verfaffung
der alten katholifchen Kirche, — alfo im -directen, aber
offenbar unbewufsten Widerfpruch mit der Augustana.
Freilich ift ja leider auch in der Gegenwart die Zahl derjenigen
nicht gering, welche fich für echte Lutheraner

j halten und fich auf diefe Selbftbezeichnung hin einer
diefes Namens werthen Kenntnifsnahme Luther's und der
lutherifchen Bekenntnifsfchriften entfchlagen zu dürfen
meinen.

Viel intereffanter Erzählungsftoff wird von dem Verf.
nur angedeutet, häufig mit dem Bemerken, dafs die eng
bemeffenen Grenzen des Buchs für die Ausführung nicht
j Raum liefsen. Dem Verf. Rheinen hier von dem Ver-