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Ausgabe:

1882

Spalte:

255

Autor/Hrsg.:

Jacobi, Justus Ludwig

Titel/Untertitel:

Erinnerungen an den Baron von Kottwitz 1882

Rezensent:

Tschackert, Paul

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Seite 1

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255

Theologifche Literaturzeitung. 1882. Nr. n.

256

die unfichere Erkenntnifs von der Rechtfertigung aus dem ! der Sünde eine irgend wie nothwendige, auch nur ,noth-
Glauben. Dafs aber katholifche Gefchichtsfchreiber die j wendig-freie' Erfcheinung zu fehen, eine Anfchauungs-

evangelifch Gefinnten in Italien vor dem Pontificat
Paul's IV. als die ihren in Anfpruch nehmen, ift fchliefs-
lich nur erfreulich; denn es zeigt, dafs wir uns über das,

weife, welche durch die gefammte Auffaffung des reli-
gionsgefchichtlichen Proceffes vor und in dem Chriften-
thum hindurchwirkt: derfelbe verläuft doch nicht rein

was Chriftenthum ift, doch noch verftändigen können. ! in der ftetigen, gefetzmäfsigen Weife, wie es nach Hol
Giefsen. A. Harnack. ften's Darftellung den Anfchein gewinnt. Dies nur um
_ zu conftatiren, dafs die Zultimmung, welche Ref. den

....Li p r r,,. T t C,!„„.,11B.,„ „„ ja„ D0pn„ r«„et Thefen Holften's im Ganzen rückhaltlos ausfprechen

Jacobi, Prot. Dr. I. L., Er nnerungen an den Baron Ernst , , ,-L. , . r , • r p:n- ,,„„ r ■ ^ e .

' . ., , , 00 ,^0 o Tv/r I mufs, nicht als unterfchiedlofe Billigung aller feiner Satze

von Kottwitz. Halle 1882, Strien. (56 S. 8.) M. 1. gemeint ift. Recht hat Holften darin, dafs er in der
In diefem Schriftchen ift jenem ehrwürdigen Manne göttlichen Offenbarung nicht, wie er es nennt (Th. 23),
ein Denkmal errichtet, der in den erften Jahrzehnten e;ne Infpiration, d. h. die übernatürliche Mittheilung
unteres Jahrhunderts in Berlin als Mittelpunkt der er- emes fertigen Syftems unfehlbarer Wahrheiten erkennt,

weckten Kreife eine tiefgehende Wirkfamkeit ausgeübt j fondern das Hereintreten eines Princips, welches ge-

hat, dem Baron Ernft von Kottwitz. Ein ,Leben' diefes | fchichtlich fortwirkt und fich fortfchreitend entwickelt.

Mannes wird wohl überhaupt nicht gefchrieben werden [ Richtig ift der Begriff der Religion, von dem er Th. 4

können, da er, ein ,Stiller im Lande', über feine eigene j ausgeht: ,In ihrem Werden ift die Religion Gefühlsleben;
Perfon mehr verfchwiegen als mittgetheilt hat; um fo ais menfchliches ift diefes Gefühlsleben ein zum Be-
dankenswerther find diefe .Erinnerungen', mit denen der wufstfein fich erhebendes, zum Handeln fich beftimmen-

Verf. uns befchenkt. Einft durch Neander bei Kottwitz l des', und die durch das Ganze hindurchgehende Grundeingeführt
, hat er als junger Mann noch den vertrauten
Umgang des Greifes geniefsen dürfen und ift fo in der
Lage, mit der Frifche und Zuverläffigkeit eines Augen-
und Ohrenzeugen zu berichten. Kottwitz (1757—1843),
als ,der Patriarch' aus Tholuck's ,Lehre von der Sünde'
bereits bekannt, hatte in der Zeit des Rationalismus die
ihm anerzogene kirchliche Frömmigkeit aufgegeben, war
aber dann hauptfächlich durch Anregungen von Seiten
der Brüdergemeinde wieder zum Glauben gekommen.
So wurde die Form feiner Frömmigkeit pietiftifch, aber
in der edlen Weife, wie bei faft allen lebendigen Chri-
ften in deutfchen Landen am Anfang unferes Jahrhunderts
: er lebte in .lebendigem perfönlichen Verhältnifs
zu Chriftus', aber war frei von allem Bekehrungsmethodismus
und engherziger Gefetzlichkeit. Charakteriftifch
für die Nüchternheit und Freiheit feiner Lebensanfchau-
ungen ift fein Urtheil über das Kartenfpiel: ,er wolle
lieber, fagte er einft, dafs fich eine Gefcllfchaft mit Karten
die Zeit vertreibe, als dafs fie fich damit unterhalte,
von Abwefenden Schlechtes zu fprechen' (S. 49). Kottwitz
bewährte feinen Glauben durch einen bewunderungswürdigen
Dienft der Liebe, der fich befonders in
feiner grofsartigen Wohlthätigkeit zeigte; Hunderte und
Taufende haben dafür zu danken und zu loben gehabt,
und felbft auf durchaus andersartige Charaktere hat

anfchauung, wonach das ,aus der inneren Lebenserfahrung
der waltenden Lebensmacht im Lebensgefühl' hervorgehende
religiöfe Bewufstfein und dieFunction des denkenden
Geiftes von vorn herein zur harmonifchen Einigung angelegt
find und folche Einigung im beiderfeitigen Intereffe
fördern. Richtig ift die Verhältnifsbeftimmung zwifchen
beiden Factoren in Th. 18: ,Das Denken in der Wiffen-
fchaft ift kein Moment des religiöfen Lebens. Aber weil in
dem Chriftenmenfchen der Lebenstrieb auch zum Wahrheitstrieb
und der Wahrheitsbefitz zum Lebensverlangen
geworden ift, und weil die Wahrheit zur Gcwifsheit endlich
nur durch felbfterworbene Erkenntnifs wird, fo ift das Erkennen
des denkenden Geiftes für den Chriftenmenfchen,
der nicht ein Unmündiger in Chrifto ift, die nothwendige
Vorausfetzung für das Leben des Gemüthes in der Ge-
wifsheit, in der Wahrheit, daher ift das crfte Moment
im Chriftenglauben dasWiffen der Erkenntnifs, das zweite
die Zuftimmung der Gewifsheit, das dritte das Vertrauen des
Gemüthes auf die gewufste und gewifs gewordene Wahrheit
. Die Einigung aber aller dreier Momente im Ge-
müth ift das Leben des Glaubens, ift der lebendige Chri-
ftenglaube', — womit die vielberufene doppelte Buchführung
hinfällt. Die Erfahrung im frommen Gefühl bedarf
zu ihrer vollen Öelbftgewifsheit der Erprobung
durch den denkenden Geift, fowie umgekehrt alle ver-

diefes praktifche Chriftenthum Einflufs ausgeübt. Als j ftandesmäfsig erworbene Erkenntnifs der vollen Leben-
Fichte zum Beifpiel einmal hörte, dafs Kottwitz täglich j digkeit und Kräftigkeit entbehrt, wo die innere Lebens-
fechshundert Arme mit Brod verborgen follte und fich | erfahrung fehlt. ,Das proteftantifche Gewiffen — heifst
nur durch Gebet zu helfen vvufste, hat der Philofoph | es mit Recht Th. 36 — fordert, dafs die fubjectivc Ge-
des kühnften Selbftvertrauens die Thränen nicht zurück- j wifsheit des in fich befriedigten Lebensgefühls zur ob-
halten können und zu Kottwitz gefprochen: Ja, lieber jectiven Gewifsheit des in fich begründeten Denkens fich
Baron, dahin reicht meine Philofophie nicht' (S. 40). vollende'. So gewifs aber dem denkenden Geift die
Der Verf. hat das Schriftchen mit derfelben pietäts- j Bewufstfeinsforrnen für den Inhalt des frommen Lebens-
vollenGefinnunggefchrieben.welcheereinftdemLebenden 1 gefühls nicht ein für allemal von aufsen her gegeben,
entgegengebracht; durch diefen warmen Hauch der j fondern von ihm in ftetiger Arbeit zu produciren find'
Dankbarkeit wird es, ganz abgefehen von feinem Quel- j f0 gewifs unterliegen fie einer ftetig fortgefetzten Rei

lenwerth, zu einer erquickenden Leetüre

Halle a/S. Paul Tfchackert.

Holsten, Prof. C, Die protestantische Kirche und die theologische
Wissenschaft. 54 Thefen, für den XIII. Pro-
teftantentag aufgehellt. Berlin 1881, Haack. (29 S.
gr. 8.) M. —. 50.
Man müfste ein Buch fchreiben, um fich mit diefen
Thefen aus einander zu fetzen, wie fie es nach der Fülle
und der Bedeutung des in knapper Form darin zufam-
mengedrängten Inhaltes werth find; nicht einmal den
gefammten Inhalt nach feinen Grundzügen wiederzugeben
ift auf dem hier gebotenen Raum möglich. Es fehlt
nicht an Sätzen, welche principiellen Widerfpruch herausfordern
. Ref. vermag nicht mit Holften (Th. 17) in

nigung und Erneuerung im Zufammenhang einerfeits mit
der fortfehreitenden Reinigung und Vertiefung des religiöfen
Lebens, andererfeits mit den dem Geifte anderweit
zugänglich gewordenen Erkenntnifsmomenten (Th.
16). Eine Ahnung diefer Wahrheit hat die katholifche
Kirche in ihrer Lehre von der Tradition. Das Falfche
derfelben erkennt Holften mit Recht darin, dafs nach
ihr ,das Werdende in der Offenbarung Gottes (lediglich)
ein Zuwachs zu dem von Anfang Bcftehenden' ift: ,in
der unveränderlichen, das Gewordene wie Gewefene erhaltenden
Ueberliefcrung der Kirche wird dies nur bejahende
Verhältnifs des Werdenden zum Beftehenden
dargeftellt', wogegen ,der chriftlichen Erfahrung nur eine
Anfchauung vom Werden der Offenbarung Gottes ent-
fpricht, in welcher das neu in das Bewufstfein Tretende
mit einer Ausfcheidung und Umbildung des Vergäng-