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Ausgabe:

1882 Nr. 11

Spalte:

254-255

Autor/Hrsg.:

Reumont, Alfr. von

Titel/Untertitel:

Vittoria Colonna, Leben, Dichten, Glauben im 16. Jahrhundert 1882

Rezensent:

Harnack, Adolf

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Theologifche Literaturzeitung. 1882. Nr. 11.

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bezüglich der Entflehung der Briefe gewinnt, haben ihre
Folgen für die chronologifche Fixirung der Synoden,
von denen jene Briefe berichten. Die hauptfächlichften
find: die Verfetzung des Concilium Gcrmanicum aus dem
Jahre 742 in das Jahr 743, der Wegfall des auftrafifchen
Concils von 744, die Idcntificirung des Concilium Liflimine
mit dem Gefammtconcil des Jahres 745. Bedenklich
ift die erfte diefer Confequenzen, da fie einen Irrthum
in der überlieferten Datirung von Ep. 47, I (Acten
des Concils) anzunehmen nöthigt. Indefs ift dem
Verf. zuzugeben, dafs feine Löfung der Schwierigkeit
immer noch die mindert gewaltfame unter den möglichen
ift. Freilich erfcheint der Einwand, welcher aus dem von
den übrigen Redactionen unabhängigen, aber doch in
der Datirung mit ihnen übereinftimmenden Texte Oth-
lon's zu entnehmen ift, nur ungenügend befeitigt. Denn
dafs üthlon's Text ,ein fchlechter Abdruck desfelben
Archetypus' (foll wohl heifsen einer von demfelben
Archetypus abzuleitenden Handfchrift) fei, ,nach dem die
übrigen Codices entftanden find', kann durch die beiden
Stellen, welche Loofs anführt, durchaus nicht erwiefen
werden. Denn an der erften Stelle ftimmt Othlon nicht
einmal völlig mit den Codices überein (e/tristiana relegio-
ccclcsiastka relegio) und an der zweiten Stelle find wir
durchaus nicht genöthigt, eine allen Redactionen ge-
meinfame Corruptel anzunehmen; dafs wir nicht wiffen,
wer Dadanus gewefen, ift kein Beweis, dafs er nicht
exiftirt hat.

Derartige Einzelheiten können indefs die Zuverläffig-
keit der im Ganzen äufserft methodifchen und fcharfen
Unterfuchungen des Verf.'s nicht beeinträchtigen. Störend
wirkt nur an nicht wenigen Stellen die Abfichtlich-
keit, mit welcher er den logifchen Zufammenhang feiner
Argumentationen hervorzuheben und dem Lefer deutlich
zu machen fucht; er erweckt hierdurch den Eindruck, als
läge ihm mehr daran, uns ein Mufterftück methodifcher
Forfchung vorzulegen, als eine fachliche Bereicherung
unferes Wiffens zu liefern.

Dorpat. Otto Harnack.

SaIfeid7 Paft. Ernft, Luther's Lehre von der Ehe. Synodalarbeit
. Leipzig 1882, Lehmann. (83 S. gr. 8.) M. 1. 20.

Ihne tüchtige und inftruetive Zufammenftellung der
Ausfagen Luther's über die Ehe nach ihrer fittlichen und
rechtlichen Seite. In den umfirittenen Fragen betreffs
der Anfchauungen Luther's über die eheftiftende Kraft
der sponsalia de pracsenti und die Bedeutung des Zu-
fammenfprechens bei der Trauung ift das Urtheil des
Verf.'s unbefangen und, nach des Ref. Meinung, treffend.
Die de pracsenti (d. h. in Luther's Sinne ohne Beifügung
einer, einen Auffchub in fich fchlicfsenden Bedingung)
gefchchene Verlobung ift eheftiftend, weil fie zwifchen
den Verlobten ein zum künftigen Ehevollzug verpflichtendes
Treuverhältnifs von derfelben fittlich bindenden
Kraft, wie die wirklich vollzogene Ehe, zu Stande bringt.
Das Zufammenfprechen des Pfarrers hat declaratorifchen
Sinn und ift, wie überhaupt die kirchliche Plandlung,
nicht nothwendige Bedingung des Zuftandekommens
der Ehe. Richtig erkennt der Verf. die Tendenz Luther
's, überall den Forderungen chriftlicher Sittlichkeit
anftatt des juriftifchen Formalismus Geltung zu ver-
fchaffen. Doch ift nicht zu verkennen, dafs Luther in
feinem! tief ethifchen Streben den Werth und die Bedeutung
fefter Rechtsformen im Eherecht, insbefondere
dem Ehefchliefsungsrecht, wie auch fonft nicht hinreichend
gewürdigt hat; des Verf.'s Urtheil erfcheint hier
zu günftig. Seiner Forderung, dafs die Kirche dem
Leichtfinn in der Schliefsung und Auflöfung von Ver-
löbnifsen entgegegen wirken folle, ift, fo weit es fich um
fittliche Einwirkung handelt, gewifs zuzuftimmen; wenn
er jedoch mit Klicfoth verlangt, dafs wegen Auflöfung
eines früheren anderweiten Verlöbnifses die kirchliche

i Trauung zu vertagen, bezw. Gutmachung jenes Aerger-
i nifses durch Uebernahme einer kirchlichen Cenfur zu
fordern fei, fo mufs das der heute herrfchenden Sitte
gegenüber doch ernftes Bedenken erregen. Es ift nicht
ohne gutes flttliches Recht, wenn dem modernen Be-
wufstfein das Verlöbnifs als ein, zwar eine fittliche und
Ehrenpflicht begründendes, jedoch bona gratia lösbares
Verhältnifs gilt; die Kirche würde fich vergeblich dem
widerfetzen und zu einer Anfchauungsweife zurückftre-
ben, welche vor 30x3 Jahren möglich war. Nicht jede
zurückgegangene Verlobung fchliefst einen ,muthwilligen
Treubruch' in fleh (S. 81).

Friedberg. K. Köhler.

Reumont, Alfr. von, Vittoria Colonna. Leben, Dichten,
Glauben im 16. Jahrhundert. Freiburg i/B. 1881,
Herder. (XVI, 288 S. 8.) M. 4. —

Reformation und Contrareformation haben namentlich
in Italien gemeinfamc Wurzeln gehabt. Solange das
Papftthum in feiner Verweltlichung verharrte, ftand ihm
eine Partei gegenüber, die eine Reform der Kirche oder
vielmehr der Chriften erfehnte, verlangte und betrieb,
deren pofitive Ziele aber noch unflehere und fchwankende
waren. Zu diefem Kreife gehörte Vittoria Colonna, die
hohe Frau, in deren Haus und Leben die Weltgefchichte
gewiffermafsen fichtbar eingegriffen hat. A. v. Reumont
hat ihr in dem vorliegenden Bande eine ebenfo anziehende
wie lehrreiche Darftellung gewidmet. Aber er
mufste fich von Benrath (Augsb. Allg. Ztg. 1882 Nr. 4
fagen laffen, dafs er eine Reihe von Quellen nicht benutzt,
refp. abfichtlich bei Seite gefchoben habe, welche die
religiöfe Stellung der Frau in einem anderen Lichte er-
fcheinen laffen, als in welchem der Biograph diefelbe
gefehen hat. Nach Benrath war Vittoria eine evangelifche
Frau, welche nicht die Kraft gehabt hat, mit der römifchen
Kirche zu brechen. A. v. Reumont replicirte (a. a. O.
Nr. 46): er bedauerte, die von Benrath bezeichneten
Quellen nicht benutzt zu haben, wies aber den Vorwurf
auf abfichtliches Verfchweigen als unberechtigt zurück.
Die neuen Quellen haben den katholifchen Gelehrten in
feiner Beurtheilung Vittoria's übrigens nicht zu erfchüt-
tern vermocht: ,Vittoria ift eine Katholikin, die in der
Sehnfucht und dem Bewufstfein der Nothwendigkeit
kirchlicher Reform mit den Edelften ihres Volkes gegangen
, aber gleich den bei weitem Meiften derfelben
diesfeit der Grenze flehen geblieben ift, welche innere
Stimme und Freundes Unterweifung ihr fleckten'. Benrath
hat (a. a. O. Nr. 54) noch einmal geantwortet. Er fuchte
zu zeigen, dafs feine Annahme, der Verf. habe abfichtlich
gewiffe Quellen nicht benutzt, unvermeidlich gewefen

j fei. ,Weit entfernt davon, dies zu einem perfönlichen
Vorwurfe für den nach fo vielen Seiten hin hochverdienten
Forfcher machen zu wollen, erblicke ich darin
nur einen Beweis dafür, dafs der feiner Kirche ergebene

1 Katholik feine Gründe hat, von der Erörterung der be-

I züglichen Fragen Abftand zu nehmen, zumal im Hinblick
auf dasjenige Publicum, welchem er und fein Verleger
diefes Lebens- und Glaubensbild haben vorlegen wollen'.
Aber ift es kein perfönlicher Vorwurf, wenn man einem

j Hiftoriker vorwerfen mufs, aus gewiffen Gründen unlieb-
fame Beobachtungen verfchwiegen zu haben? Was nun die

| Sache betrifft, fo hat vielleicht v. Reumont doch mehr
Recht als Benrath. Wer nicht ,die Kraft gehabt hat', mit
der römifchen Kirche zu brechen, ift Katholik, fo gewifs
diedeutfchenBifchöfe fämmtlich Infallibiliften find. Wenn
man den Bruch mit der alten Kirchenform nicht benimmt
als wefentliches Merkmal am Proteftantismus
anerkennt, fo mufs man wenigftens für das Stück Kir-
chengefchichte im Menfchenalter 1525—1555 auf jede
fefte Terminologie verzichten. Die üppofition gegen die

I Werkgerechtigkeit legitimirt eine religiöfe Denkweife in

I vortridentinifcher Zeit ebenfowenig als ,evangelilch' wie