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Ausgabe:

1882 Nr. 11

Spalte:

249-250

Autor/Hrsg.:

Hilgenfeld, A.

Titel/Untertitel:

Hermae Pastor 1882

Rezensent:

Harnack, Adolf

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Seite 1

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249 Theologifche Literaturzeitung. 1882. Nr. 11. 250

Hilgenfeld, A., Hermae Pastor. Graece e codicibus Si-
naitico et Lipsiensi scriptorumque ecclesiasticorum
excerptis, collatis versionibus latina utraque et aethio-
pica, libri clausula latine addita, restituit, commen-
tario critico et adnotationibus instruxit, Elxai libri frag-
menta adjecit. Editio altera emendata et valde aucta.
Lipsiae 1881, T. O. Weigel. (XXXII, 257 S. gr. 8.)
M. 8. —

Hilgenfeld verdankt man die editio princeps des
Hirten in der Grundfprache (1866). Elf Jahre fpäter hat
von Gebhardt (1877) den Text conftituirt und viele
auch von Hilgenfeld gebilligte Verbefferungen gegeben
. Diefer hat nun in vorftehender Publication feine
Arbeit revidiren können. Die Differenzen zwifchen der
neuen Ausgabe und der Gebhardt'fchen find nicht fehr
erhebliche (f. p. XIX sq.). Da Hilgenfeld ganz felb-
itändig den Text aufs neue durchgearbeitet hat, fo ift
diefer Thatbeftand eine erfreuliche Bürgfchaft für die relative
Sicherheit des hergeftellten Wortgefüges. Gebhardt
legt der im Sinaiticus enthaltenen Ueberlieferung
ein etwas gröfseres Gewicht bei als H., und er ift vorfichtiger
in der Annahme von Corruptelen: hieraus erklären fich
zumeift die Differenzen, welche übrig geblieben find1).
Dankenswerth ift, dafs fich H. an die Verseintheilung
der Gebhardt'fchen Ausgabe angefchloffen hat.

Der neuen Ausgabe ift ein umfangreicher Commen-
tar (p. 138—225) beigegeben. Zieht man aber von dem-
felben ab, was der Herausgeber Cotelier, Funk und
namentlich den Anmerkungen des Referenten entnommen
und forgfältig als fremdes Gut bezeichnet hat, fo J nicht der Bruder, fo doch der Zeitgenoffe des römifchen
bleibt nicht viel felbftändiges übrig. Es fragt fich doch j Bifchofs Pius.

wohl, ob es angemeffen und nöthig war, in diefer Weife Es foll nicht geleugnet werden, dafs einige Beob-

zu verfahren. Dafs der Herausgeber meinen ganzen i achtungen zu der Hypothefe, der Hirte fei nicht als ein
Commentar zum Hirten einer weiteren Verbreitung für j einheitliches Buch zu betrachten, auffordern (namentlich
werth geachtet hat, kann mir ja nur erfreulich fein; in- unterfcheiden fich die Vifionen einerfeits von den Man-
defien geftehe ich offen, dals es mir erwünfchter ift, ; daten und Similitudines andererfeits). Allein die Zahl
wenn meine Arbeit auch mit dem Rahmen, den fie er- j der identifchen Züge in allen Theilen des Werkes ift eine
halten hat, verbunden bleibt. Immerhin aber kann fich j fehr grofse, und man hätte erwarten dürfen, dafs Hil-
H. auf den Vorgang der alten Commentatoren berufen, 1 genfeld fie allem zuvor forgfältig zufammengeftellt und

dungsgefchichte des Kanons zurückführen. Das zweite
Capitel giebt zu Bemerkungen keinen Anlafs. Mit bekannter
Sorgfalt hat Hilgenfeld die Handfchriften und
Editionen verzeichnet und beurtheilt. In Bezug auf den
alten Lateiner hat er das von Gebhardt gebotene Material
nicht vermehren können. Hoffentlich erhalten wir
in Bälde von diefem eineRecenfion des Hirten der Abendländer
. Erneute Bemühungen haben gezeigt, wie er-
ftaunlich verbreitet derfelbe gewefen ift. In dem dritten
Capitel hat Hilgenfeld neben feiner bekannten Anficht,
der Hirte fei ein judenchriftliches Buch — wir anderen,
die wir das nicht anerkennen können, werden mit dem
Namen ,Antifemiten' bedacht — eine neue Hypothefe
über den Urfprung des Werkes vorgetragen. H. fucht
jetzt nachzuweifen, dafs drei Verfaffer an demfelben gearbeitet
haben (vgl. die Hypothefe von Champagny,
PP. App. Opp. cdit Ups. III p. LXXII1). Er unterfchei-
det erftens den Abfchnitt Vis. V. — Sä». VII. als das
urfprüngliche Buch {Hermas pastoralis). Diefes fei unter
Trajan vor dem Jahre 112 gefchrieben von einem ftreng-
judaiftifchen Chriften. Es folgte der Abfchnitt Vis. I—IV.
{Hermas apocalypticus), gefchrieben von einem milder ge-
finnten Judenchriften zur Zeit Hadrian's, der fich für den
von Paulus gegrüfsten Hermas ausgegeben habe. Endlich
fchrieb ein dritter um das Jahr 140 {Hermas secundarius)
Sim. VIII—X., der zugleich die beiden früheren Werke
mit feiner Arbeit verbunden und durch kleine Interpolationen
(fo in Vis. V, 5 etc.) ein Ganzes herzuftellen verbucht
hat. jllcrmas secundarius Antisemitis iam morem
gessit . . . Judaismum christianum iam in catholicae eccle-
siae castra transeuntem repraesentat1. Er war, wenn auch

und es liegt mir daher ferne, mich zu beklagen.

Die Prolegomena zu der neuen Ausgabe zerfallen
in drei Abfchnitte: 1) De Pastoris usu et auctoritate, 2)
de codicibus, versionibus, editionibus, 3) de Pastoris origine
ei indok. In dem erben fetzt fich der Verf. hauptfächlich
mit dem Ref. auseinander. Die ftärkfte Differenz zwifchen
uns dürfte darin beliehen, dafs Hilgenfeld die Ab-
faffung des Hirten durch den im Römerbrief genannten
Hermas als die gemeinfame und nothwendige Meinung
Aller, welche das Buch für infpirirt gehalten haben, bezeichnet
. Diefe Anficht, welche direct durch Nichts zu
belegen iff, fufst auf Vorausfetzungen über die Entfteh-
ung des Kanons des N. T.'s, welche Ref. für unrichtige
hält. Eine prophetifche Schrift — und eine folche ift
der Hermas — brauchte zunächft keine apoftolifche Legitimation
, um wirklich für infpirirt und regulativ zu gelten
. Erft Origenes hat ihr eine folche gegeben in einer
Zeit, wo die Form der Schrift fie nicht nur nicht mehr
fchützte, fondern ihrem noch immer beftehcnden Anfehen
fogar fchädlich fein konnte. Es ift daher völlig ver-
ftändlich, dafs die Hypothefe, der Hermas des Paulus
habe das Buch verfafst, erft im 3. Jahrhundert auftaucht.
Auch fonft aber laffen fich faft alle Differenzen zwifchen
dem Verf. und dem Ref. in Bezug auf die Beurtheilung
der Testimonia auf verfchiedene Anflehten über die Bil-

1) An ein paar Stellen fcheint mir H. den Gebhardt'fchen Text wirklich
verbeffert zu haben. Dagegen vermag ich an die Conjectur ov nuv-
xote os (öc &eiav (für Ü-stzv) >)yrjoantjV {Vis.l, 1, 7) nicht zu glauben.
Mag d-eav auch anftöfsig fein — unerträglich ift es nicht; aber die
Phrafe an die ehemalige Herrin des Hermas ,habe ich dich nicht ftets
wie eine Tante geachtet', wäre gewifs auch fchon im 2. Jahrhundert als
eine Seltfamkeit empfunden worden.

erwogen hätte. Ferner hat er feine neue Hypothefe
nicht nach allen Richtungen hin durchgedacht und nicht
alle Fragen, die fich unter ihrer Vorausfetzung noth-
wendig erheben, zu beantworten verfucht. So ift im
Einzelnen Ref. manches Wichtige in der Auffaffung Hil-
genfeld's, über das man Auskunft wünfeht, unklar geblieben
. Endlich ift die Berufung auf die Gefchichte
der Ueberlieferung nichts weniger als ficher. H. behauptet
, Athanafius und Pfeudoathanafius hätten nur den genuinen
Hermas gekannt. Selbft unter der Vorausfetzung
der Richtigkeit der neuen Hypothefe vom Urfprung des
Buches ift dies an fich fchon unwahrfcheinlich. Die Möglichkeit
aber, dafs vielmehr nachträglich die Vifionen
von dem Buche abgefchnitten worden find, fo dafs das-
felbe nun mit Aland. I begann, hat H. gar nicht erwogen.
Und doch wäre in Hinficht auf den Gefchmack der fpäteren
griechifchen Kirche ein folches Verfahren nicht befremdend
. Ref. hat in dem vergangenen Winterfemefter im
kirchenhiftorifchen Seminar lediglich den Hirten bearbeiten
laffen und zwar unter fteter Berückfichtigung der
neuen Hypothefe. Er hat fich fchliefslich von der Richtigkeit
derfelben nicht überzeugen können — namentlich
die Widerfprüche, die H. in den verfchiedenen Theilen
des Werkes gefunden zu haben glaubt, find entweder
nur fcheinbare oder doch erträgliche —; aber er möchte
den Verf. hiermit auffordern, feine Hypothefe an einem
anderen Ort ausführlicher noch einmal zu begründen.
Die Discuffion derfelben kann dem Verftändnifse des
Buches nur zu Gute kommen.

Giefsen. A. Harnack.