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Ausgabe:

1882

Spalte:

209-213

Autor/Hrsg.:

Hoehne, Emil

Titel/Untertitel:

Kant‘s Pelagianismus und Nomismus. Darstellung und Kritik 1882

Rezensent:

Gottschick, Johannes

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20g Theologifche Literaturzeitung. 1882. Nr. 9. 210

in der Ehe (letztere befonders durch Stuart Mill ver- j
treten) befprochen. Wie in dem allen keineswegs die
geradlinige Fortfetzung des mit der Reformation eingetretenen
Culturproceffes, vielmehr nur eine Reihe krankhafter
Abirrungen zu erkennen ift, welche freilich, wenn
nicht der fittliche Geift des Evangeliums fich zu kräftiger
Gegenwirkung zufammenfafst, den focialen Körper
mit Zerftörung bedrohen, tritt Einem ohne ausdrücklichen
Hinweis aus der fachkundigen Darftellung des
Verf.'s einleuchtend entgegen. Die Auseinanderfetzun-
gen mit den Gegnern find überall treffend. Dem Peffi-
mismus werden die inneren Widerfprüche, worin er fich
felbft aufhebt, überzeugend nachgewiefen. Gegenüber
dem Darwinismus unternimmt der Verf. nicht den vergeblichen
Verfuch, die biblifche Urgefchichte als ge-
fchichtliche Wirklichkeit zu erweifen: um fo überzeugender
ift der Nachweis, dafs der chriftlichen Weltan-
fchauung,insbefondereder chriftlichen Anfchauung von der
Ehe auch von diefem Gegner keine wirkliche Gefahr drohe.
,Wir haben gefunden', fo fafst der Verf.feine Erörterungen
zufammen (S. 258) — ,dafs auch der Darwinismus die
chriftliche Anfchauung der Ehe nicht umzuftofsen vermag.
Denn die Refultate der Urgefchichtsforfchung über die
urfprünglichen Gefchlechtsfitten der Menfchen find noch
fehr unficher und fchwankend, die Berechtigung des Verfahrens
diefer Forfchungen, bei welchem das Leben der
heutigen Wilden den Mafsftab abgeben mufs für die
Zeichnung des urzEtlichen menfchlichen Lebens, wird
noch mit ftarken Gründen beftritten, und der Darwinismus
als blofse Theorie wird fo lange gegen eine ur-
fprüngliche, fpecififch-menfchliche Ordnung des -ge-
fchlechtlichen Lebens, die, falls fie nicht auch der Form
nach mit der Monogamie angefangen haben follte, fo
doch ficher nur in der Monogamie ihre Vollendung findet,
vergeblich ins Feld geführt werden, als es demfelben nicht
gelingt, das fpecififch Menfchliche aus der Thierwelt mit
genügender Begründung abzuleiten. Und auch als Gottesordnung
wird die monogamifche Ehe dem Darwinismus
gegenüber flehen bleiben'. Was im letzten Ab-
fchnitt über die verfchiedenen praktifch-focialen Beftreb-
ungen zur Befeitigung der chriftlichen Ehe vorkommt,
giebt einerfeits einen geradezu erfchreckenden Einblick
in den Abgrund fittlicher Verkommenheit, an dem wir •
ftehen, mufs aber andererfeits in jedem Unbefangenen
die Ueberzeugung erwecken, dafs das fociale Heil auch
nach diefer Seite hin allein in den fittlichen Kräften des
Chriftenthums gefunden werden kann. Möge dem Buch
die Beachtung in weiten Kreifen nicht fehlen, die es
verdient.

Fricdberg. K. Köhler.

Hoehne, Gymn.-Prof. Lic. Dr. Emil, Kant's Pelagianismus
und Nomismus. Darfteilung und Kritik. Leipzig 1881,
Dörftling & Franke. (VII, 157 S. gr. 8.) M. 3. -

Nach einer Einleitung, die die pofitiven Berührungspunkte
zwifchen Kant und der evangelifchen Theologie
erörtert — Verf. hebt befonders hervor K.'s energifche
Betonung des Ethifchen, der allgemeinen Sündhaftigkeit,
des Chriftus in uns — erhalten wir eine Darftellung und
Beurtheilung I. des Kantifchen Pelagianismus unter den
Titeln 1. Das radicale Böfe, 2. Die menfchliche Freiheit,
3. Die Autonomie der praktifchen Vernunft, 4. Die Autarkie
der praktifchen Vernunft, II. des K.'fchen Nomismus
unter den Titeln 1 Religion und Sittlichkeit, 2.
Offenbarung, der hiftorifche Chriftus, die Kirche. Diefe
Dispolition erweckt kein günftiges Vorut theil, fie ift falfch
angelegt; denn die unmittelbar zufammengehörigen Lehren
von Freiheit und Autonomie find die Vorausfetzung
aller übrigen, fie machen die ethifchc Principienlehre K.'s
aus und mufsten wenigftens mit einem Theile des Ab-
fchnittes über Religion und Sittlichkeit verbunden werden
. Die übrig bleibenden Abfchnitte bilden wiederum

eine eigene Gruppe, fie haben es mit der empirifchen
Verwirklichung des Ethifchen zu thun. Beides mufs aber
für eine gerechte Würdigung K.'s ftreng auseinander gehalten
werden. Der Verf. interpretirt nun Kant fo, dafs
er die transfcendentale Freiheit als ethifch neutrale Willkür
verlieht, die Autonomie als Erklärung des Urfprungs
des Sittengefetzes fafst, den homo nonmenon als mythi-
fche Wirklichkeit hinter dem homo p!iaeno»ienon anfleht,
K. das radicale Böfe aus einem vorzeitlichen Sündenfall
des präexiftenten Menfchen ableiten läfst, und legt dann
ein langes Sündenregifter der Widerfprüche an, die K.
gegen feine eignen Lehren, gegen die Erfahrung, gegen
die chriftliche Weltanfchauung fich hat zu Schulden kommen
laffen, ein Regifter, das er mit einem reichen Schatz
von Belegen aus alten und neuen Theologen und Philo-
fophen ausgeftattet hat. Formalismus, Dualismus, herzlofer
Gehorfam, die Confequenz der Autonomie Selbftbewun-
derung, ja Selbftanbetung, Egoismus das Princip der Frei-
heitsbethätigung im Sinne Kant's, atomiftifche Zerfplitter-
ung der Menfchheit in Einzelindividuen u. f. w., das find
einzelne der zahlreichen Vorwürfe. Kant's Verkennung
des Werthes der pofitiven Religion des Chriftenthums bei
aller Anziehung, die fie für ihn hat, wird dann mit Recht
als Confequenz der ethifchen Principienlehre, wie Verf.
fie einmal gefafst hat, beurtheilt. Aber nach Cohen, Kant's
Begründung der Ethik, und Herrmann, die Religion im
Verhältnifs zum Welterkennen und zur Sittlichkeit, die
man freilich in dem Citatenfchatz des Verf.'s vergeblich
fucht, nach Thilo, den er kennt, und nach Ritfehl, deffen
Urtheile er zu Beftätigung der feinigen mehrfach anzieht,
müfste doch das Recht jener Interpretation Kant's erft
erwiefen werden. Doch den Verf. hat auch der Aus-
fpruch Ritfchl's nicht bedenklich gemacht, ,wer den pe-
lagianifchen Begriff von der Freiheit und den Kantifchen
nicht zu unterfcheiden vermag, dürfte wenig geeignet
fein, fein Urtheil in diefer Sache abzugeben'.

Soll nun Ref. feinen Widerfpruch gegen des Verf.'s
Darftellung und Beurtheilung der Lehre K.'s motiviren,
fo kann das bei der Knappheit des Raums und dem
Reichthum des Stoffes nur in apodiktifcher Form ge-
fchehen, für die er auf Nachficht rechnen mufs. Zunächft
die ethifche Principienlehre. Hat die chriftliche Begründung
des Sittengefetzes auf den Willen Gottes nicht
den Sinn, dafs fein Werth auf der phyfifchen Ueber-
macht eines göttlichen Gefetzgebers ruhe, deffen inhalt-
lofer Wille ebenfo gut den entgegengefetzten Inhalt
hätte als Gefetz proclamiren können, fo mufs doch Inhalt
und Recht des Sittengefetzes unabhängig von der
Gottesidee aufgewiefen weiden. Damit ift nicht im minderten
ausgefchloffen, dafs das, worin der Menfch feinen
höchften Endzweck erkennt, zugleich Gottes eigner
Zweck und Weltzweck ift und als lolcher religiös betrachtet
wird. Und gerade die chriftliche Idee des Guten
hat zum Prädicat die Unbedingtheit des Werthes.
Diefe regulative Idee eines unbedingten Soll ift nun
identifch mit der transfe. Freiheit und mit der Autonomie
in Kant's Sinn; beides find Formeln für den Inhalt
des Sittengefetzes, das da fagt, handle frei, autonom
. Indem der Menfch das unbedingte Soll als für
fich gültig anerkennt und nach ihm handelt, gewinnt die
,Vernunft' in ihm Caufalität — Vernunft und die Idee
des Unbedingten find für K. dasfelbe. Dann liegen aber
feine letzten Motive nicht mehr in dem gegebenen Datei
n, zu dem er vermöge feiner finnlichen und geiltigen
Natur in Beziehung fleht, fondern er unterfcheidet fich
von der Phänomenalwelt und ihrem Caufalnexus als
Glied einer intelligiblen Welt, als ,Ding an fich', als felb-
ftändige Perfönlichkeit, als Selbftzweck, fo jedoch, dafs
er eben damit als Glied in das Reich der gleichartigen
Perfönlichkeiten fich einordnet; nur indem er in den ge-
meinfamen Zwecken feinen Selbftzweck findet, darf er
fich als Selbftzweck betrachten. Höhne beftreitet nun
I S. 105, dafs der Menfch Zweck an fich felbft fei, er fei