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Ausgabe:

1881

Spalte:

148-153

Autor/Hrsg.:

Bestmann, H. J.

Titel/Untertitel:

Geschichte der christlichen Sitte. I. Thl.: Die sittlichen Stadien in ihrer geschichtlichen Entwickelung 1881

Rezensent:

Harnack, Adolf

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Thcologifche Literatur:

148

Gegenftänden, die es als wechfelnde beobachtet, Leben
zufchrcibt, wird doch wohl die Menfchheit im Kindesalter
auch ihrerfeits gethan haben. Vom Himmel her
Thau und Regen, Licht und Wärme empfangend, glaubte
fie ein Lebendiges dort oben als Spender diefer Gaben
und dachte als feine Erfcheinung, fei es als feinen
Körper oder als fein Gewand oder feine Wohnung, die
blaue Wölbung. Uann geht allerdings der Gottesbegriff,
wie es M. Müller will (S. 43), nicht in der Naturerfchein-
ung auf und findet in diefer nur feinen Anhalt; .nicht
als Himmel fondern durch den Himmel ift das Göttliche
erkannt worden'. Wie ich fomit meine, dafs jene erfte
Stufe des Verf.'s ganz zu ftreichen fei, fo wcifs ich auch
mit der Unterfcheidung der Gottheit als Naturfeele und
Naturgeift im Sinne des Verf.'s nichts anzufangen und
finde diefe Unterfcheidung bei ihm felbft fehr fliefsend
und unklar. Es ift freilich richtig, dafs der Himmelsgott
Zeus, deffen Eigenfchaften über die des Himmelsgewölbes
weit hinausgehen, ein fehr anderer ift als etwa der Va-
runa der alten Arier, das befeelt gedachte Firmament.
Diefe Verfchiedenheit beruht aber darauf, dafs die Vor-
ltellung von jenem die Gottheit von der Naturerscheinung
zu löfen und in das rein geinige Gebiet zu übertragen
beginnt, was bei dem Gott der alten Arier noch
nicht der Fall ift. Innerhalb der Naturreligion ift nur
ein fortschreitendes Streben erkennbar, Gottheit und
Natur zu trennen; es läfst fich aber dasfelbe nicht zerlegen
in jene drei oder in irgendwelche andere deutlich
begrenzte Phafen. Nahezu an der Grenze jener
Trennung fteht die Religion Zarathuftra's, in anderer
Weife auch der Brahmanismus; überfchritten hat fie in
der vorchristlichen Zeit — fofern der Buddhismus keine
Theologie hat — allein die Religion Ifrael's, und hier
allein finden wir ein wefentlich Neues. Innerhalb der
Naturreligionen laffen fich Claffificirungen aufstellen
Schwerlich mit Rückficht auf die Verfchiedenheit der
Gottesbegriffe, fondern wohl nur mit Bezug auf die durch
Verfchiedenheit der Volksthümlichkeit oder Cultur bedingte
verfchiedene Stellung des Menfchen zu dem
in der Natur Verehrten.

Mufs ich trotz diefer Differenzen das Beftreben des
Verf.'s anerkennen, die Religionsgefchichte von dem
Aufsenwerk auf den religiöfen Kern zu lenken, fo darf
ich doch nicht hoffen, dafs feine Schrift den fprachver-
glcichenden Mythologen imponiren wird. Auf Begriffe
Werth zu legen, iS löblich; Religionsgefchichte aus Begriffen
conftruiren ohne ficheres philologifches Fundament
verderblich. Den Verf. kann jeder Anfänger im
Hebräifchen belehren, dafs der Name des affyrifchen
Gottes Santas (t:ö) unmöglich verwandt fein kann mit
Schamajim (S. 66). Wenn auf Grund der unbeweisbaren
Annahme urfprünglichen Zufammenhangsdes Semitifchen,
Aegyptifchen und Arifchen (S. 59) Behauptungen aufgestellt
werden wie die, dafs der femitifche Gottesname
Bei oder Baal verwandt fei mit ruflifchem belyi ,weifs',
mit dem flavifchen Gottesnamen Beibog und dem
deutfehen Bal-der (S. 51), dafs der babylonifche Gott
Nebo (,der Himmel'?!) zufammenzuftellen fei nicht nur
mit der ägyptifchen Göttin Neb-ti, fondern auch mit
Nep-tunus, Nebel, Niflheim etc. von einer Wurzel nap
,feucht fein' (S. 59) — fo weifs jeder Sprachkundige,
was von Solchen Identificirungen zu halten iS.

Ein zweiter Theil der Schrift iS nur angehängt, anscheinend
in der Abficht, in der Darfteilung des Hermes
S. 68 ff., der Heftia S. 84 und der Pallas Athene S. 85
ff. muftergiltige Proben mythologischer Darfteilung zu
liefern, Ein ,Nachtrag' S. 100—107 nimmt Bezug auf
M. Müller's neuefte Schrift: ,Vorlefungen über den Ursprung
und die Entwickclung der Religion'. Der Verf.
hätte wohl gethan, aus diefem Buche fich belehren zu
laffen über die Unnahbarkeit des Axiomes vom Fetischismus
und damit feine Darftellung von den Anfängen
der Religion fallen zu laffen, denn diefe find bei ihm

nichts Anderes, als was man neuerdings unter Fetischismus
im weiteren Sinne zu verftehen pflegt, obgleich der
Verf. fich gegen diefe Bezeichnung fträubt.

Strafsburg i. E. Wolf Baudiffin.

Bestmann, Privatdoc. H. J., Geschichte der christlichen

Sitte. 1. Thl.: Die fittlichen Stadien in ihrer geschichtlichen
Entwickelung. Nördlingen 1880, Beck.
(XII, 461 S. gr. 8.) M. 8. —

Diefer erfte Band einer Gefchichte der chriftlichen
Sitte enthält nach einer Einleitung (Buch I), in welcher
das Refultat der Untersuchungen in fyftematifcher Zu-
fammenfaffung vorangestellt ift, in dem zweiten Buch
(S. 45—227) eine Darfteilung und Kritik der fittlichen
Anfchauungen der Naturvölker (incl. der Chinefen!), der
Culturvölker (der amerikanischen Culturftaaten, Aegypter,
Phöniker, Babylonier, Affyrier, Eranier, Inder), und der
politifchen Völker (Griechen und Römer). Das dritte
Buch (S. 242—337) handelt von der Sitte Ifraels; das
vierte und letzte Stellt die Sittliche Weltanfchauung des
Chriftcnthums dar auf Grund des N. T.'s nach folgenden
Kategorien: 1) das objective chriftliche Ethos (die Grund-
thatfache, die Kirche, die Familie, die Gefellfchaft, der
Staat), 2) die individuelle chriftliche Sittlichkeit (das Ur-
phänomen, die neue Perfönlichkeit, das Sittliche Material-
prineip = der Glaube, das Sittliche Formalprincip =
das Gewiffen, das Princip der fittlichen Einheit = der Beruf
, das Princip der fittlichen Mannigfaltigkeit = die
Freiheit).

Diefes Werk bezeichnet, um es zunächst ganz allgemein
zu charakterifiren, einen Rückfall von der rationalistischen
und dogmatischen Geschichtsbetrachtung zur
mythologifchen. Nach der Vorrede (p. VIII) könnte
ein Leichtgläubiger freilich fchliefsen, dem Verf. fei es
ernfthaft um reine, empirifche Gefchichtsanfchauung zu
thun. In der grofsfprecheriSehen Weife, in der er überall
zu reden liebt, fagt er: ,Ich hoffe, dafs meine Untersuchungen
im Einzelnen darthun werden, dafs ich auf
einen den Thatfachen vorgreifenden Dogmatismus, nichts
gebe .... der Idealismus ift der Ruin jeder unbefangenen
Forfchung, u. f. w.', allein dafs dies eben nur
Worte find, beweift feine Darfteilung faft auf jeder Seite.
Der Verf. macht Thatfachen zu Phantafien, Phantafien
zu Thatfachen und fchaltet in der Gefchichte mit jener
kecken Naivetät, die bei einem ernfthaften Lefer den Ver-
fuch zu einer Auseinandersetzung gar nicht aufkommen
läfst. Dabei zeichnet ihn — und das ift ja die Eigentümlichkeit
aller Mythologen — ein hohes Sclbftbe-
wufstfein und jene .Abfolutheit' der wiffenfehaftlichen
Stimmung aus, zu der allerdings jeder berechtigt ift, der
nirgends mehr eine Lücke gewahrt, der von allen Feffeln
dogmatifcher Vorurteile fich befreit glaubt und bereits
das Glück hat, die Wege der Vorfehung nicht nur für
die europäifche Chriftenheit, fondern auch bei Chinefen,
Mexikanern und im Inkareiche zu überfchauen. Doch
würde man dem Verf. Unrecht thun, wenn man behauptete
, fein Rückfall in die mythologifche Geschichtsbetrachtung
fei ein vollftändiger. Vorrede p. VIII ermahnt
er felbft, ,dafs je gröfser die Summe der einzelnen
Daten ift, die in unfern Gefichtskreis tritt, defto
dringender auch die Notwendigkeit wird, diefe Mannigfaltigkeit
auf gewiffe Urtypen und damit auf ihre Gefetze
zu reduciren.' Alfo ,Gefetze' und ,Urtypen' füllen
doch auch gelten; man foll mithin hinter die Erscheinungen
gelangen; Empirie und Phantalie führen aber
nicht dahinter; alfo wird man gezwungen fein, doch zu
den verlaffencn Pfaden der Speculation zurückzukehren.
Der Verf., der foeben auf p. VIII den Idealismus den
Ruin jeder unbefangeneren Forfchung genannt hat — freilich
in dem Sinne, in welchem etwa die alten Chiliaftcn
den alexandrinifchen Spiritualismus präferibirt haben