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Ausgabe:

1881

Spalte:

140

Autor/Hrsg.:

Kraus, Franz Xaver

Titel/Untertitel:

Synchronistische Tabellen zur christlichen Kunstgeschichte 1881

Rezensent:

Harnack, Adolf

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139

Theologifche Literaturzeitung. (881. Nr. 6.

140

Auge behalten. Die Welt des Glaubens, welche er als
folche von dem Standpunkte der fittlichen Aufgabe aus
verliehen will, hat leider fehr oft das Ausfehen einer
Erweiterung der Natur. Diefe kann man aber nicht
,moralifch aneignen', fondern man kann nur hoffen, dafs
man fie einftmals, wenn auch nicht mit Fernrohr und
Mikrofkop, fo doch vielleicht mit anderen, jetzt noch
verborgenen, Erkenntnifsmitteln werde aneignen können.
Ob das aber gefchehen werde, oder nicht, ift für das
echte Seligkeitsintereffe, welches der religiöfe Glaube
füllt, ganz gleichgültig. Sehr bedenklich ift mir namentlich
erfchienen, wenn der Verf. meint, dafs die geiftige
Schranke der naturfeligen Zeitgenoffen fallen werde, wenn
erft einmal die Thatfachen bekannter würden, welche
von dem Hereinwirken einer Geifterwelt in das finnliche
Dafein Zeugnifs gäben. Wenn der Verf. Recht hat, dafs
vor der gefammelten Kraft diefer Thatfachen kein menfch-
liches Denken Stand halten werde, fo wäre damit für
das Evangelium doch nichts gewonnen. Denn die Ob-
jecte, denen uns dasfelbe nahe bringen will, find etwas
Anderes als die Natur, mag diefe nun aus greifbarem
Stoff oder aus fogenanntem Geift beliehen. Vielleicht
wäre die Haltung des Verf.'s in diefem Punkte ficherer
geworden, wenn er der Führung der kantifchen Ethik
mehr gefolgt wäre, als er es thut. Dafs es fich im Sittlichen
und Religiöfen um Geltungswerthe ganz anderer Art
handelt als beim Erkennen, hätte er fich gerade aus der
kantifchen Ethik klar machen können, wenn er, anftatt
über die Nichtachtung diefer Disciplin feitens der Neukantianer
zu klagen, das darauf bezügliche Buch von H.
Cohen ftudirt hätte, an den man doch wohl vor Allen
denkt, wenn von Neukantianern geredet wird. Daraus
würde er auch die richtige Einficht gewonnen haben,
dafs die Allgemeingültigkeit des Sittengefetzes im Sinne
Kant's nicht das Angeborenfein desfelben, oder fein Dafein
in jeder menfehlichen Vernunft bedeutet, wie er
felbft fälfehlich annimmt. Der Fehler des Verf.'s ift,
dafs er den Glauben, welchen er dem Menfchen in
feiner fittlichen Beflimmtheit vindicirt, doch wieder auf
eine wunderbare Naturwelt anweift, welche nur von der
gewöhnlichen durch eine tiefe Kluft weislich gefchieden
fei. Diefer Fehler aber hängt bei ihm mit einem feiner
gröfsten Vorzüge zufammen. Er hat fich den gefunden
Sinn dafür bewahrt, dafs ein Chriftenthum nicht lebensfähig
ift, welches in dem Erlöfer nur das Vorbild achtet
und der Meinung leben möchte, dafs das Licht des in
ihm repräfentirten religiöfen und fittlichen Ideals ausreiche
, um das immer gleiche Ereignifs, das Aufkeimen
der religiöfen Gefühle, welche ihn auch bewegten, zu
veranlaffen. Der Verf. ift vielmehr der richtigen Ueberzeug-
ung, dafs nur der bewufste Rückblick auf die Thatfachen
der evangelifchen Gefchichte felbft, nicht aber der Eindruck
eines von ihnen abftrahirten Ideals, den Glauben
möglich macht, auf welchen es fchliefslich für den
Menfchen als fittliche Perfon ankommt. Nun ift aber
jener gefchichtliche Grund unferes Glaubens uns in un- i
löslichem Zufammenhange mit folchen Berichten über-
liefert, deren Inhalt bei dem gröfseren Theile des heutigen |
Gefchlechts den Glauben nicht fowohl anregt, als hindert,
weil unvermeidlich der Conftict mit der geläufigen Na-
turanfehauung entlieht. Unter dem Eindruck diefes
Gegenfatzes läfst fich der Verf. dazu verleiten, dasfelbe
Verhältnifs auf alle Objecte des Glaubens auszudehnen,
während diefelben, richtig verftanden, nicht zur Natur
in Gegenfatz flehen können, fondern zum fündigen
Willen. Dafs jener Ausweg dem Apologeten willkommen
erfcheint, ift begreiflich, aber ebenfo, dafs er vermieden
werden kann und mufs. Denn gerade wenn das Vorhandenfein
jener Gefchichte in unferer Welt foviel für
uns bedeutet, fo hat man nicht nöthig, dafs man, um
die Unbegreiflichkeiten derfelben zu fchützen, die Objecte
des Glaubens felbft in eine höhere Natur verfetzt, welche
nur von den Ahnungen des Glaubens und der Meta-

phyfik bisweilen geftreift werde. Es wird vielmehr, da
es fich um Leben und Seligkeit handelt, Alles darauf
ankommen, dafs man das, was uns an jenen Thatfachen
in dem vom Verf. bezeichneten Sinne verftändlich wird,
fich felbft aneignet und Anderen auffchliefst. Bei jedem,
der fo verfährt, ift das Uebrige an der evangelifchen
Gefchichte von felbft gegen frivole Nichtachtung ge-
fchützt. Denn es wird ja gerade dann als die von Gott
gewollte Faffung deffen hingenommen, worauf der Chrift
als fittliche Perfon feine Exiftenz in der Welt allein zu
gründen vermag. Was aber fo angefehen wird, das
bekommt dadurch den Charakter eines heiligen Geheim-
nifses, ohne dafs der Gläubige deshalb nöthig hätte, zu
vergeffen, dafs die Hauptfache, welche auch jenem Ge-
heimnifse allein feinen Adel verleiht, für die fittliche Perfon
verftändlich ift, oder moralifch angeeignet werden
kann. Es ifl durchaus zu billigen, wenn fich der Verf.
den wunderbaren Schleier über der evangelifchen Gefchichte
, der die Phantafie des Glaubens anregt, aber
die Entftehung des Glaubens hemmt, aus der erziehenden
Abficht Gottes erklärt: die Freiheit der Entfcheidung
wäre unmöglich, wenn das Göttliche mit unwiderfprech-
licher Gewalt auf den Menfchen eindränge. Aber daneben
darf nicht vergeffen werden, dafs fittliche Freiheit
ebenfalls nicht mit dem Glauben zu vereinigen wäre,
wenn nicht das klare Verftändnifs der Glaubensobjecte
als der Exiftenzbedingungen unferes fittlichen Lebens
den Nerv des Glaubens bildete. Denn Willkür ifl nicht
I'Veiheit.

Der Verf. mufs überall in der evangel. Kirche ebenfo
lebhaft erwärmen, als Widerfpruch wachrufen. Das ungewöhnliche
Intereffe, welches er bereits gefunden hat.
ifl daher wohl verdient. Es ifl feit langer Zeit nichts
über diefe Fragen gefchrieben worden, was fo fehr ein
Recht gehabt hätte, die Theilnahme auch von Nicht-
theologen zu beanfpruchen, wie diefes Buch.

Marburg. W. Herrmann.

Kraus, Prof. Dr. Frz. Xav., Synchronistische Tabellen zur
christlichen Kunstgeschichte. Ein Hülfsbuch für Studierende
. Freiburg i. Br. 1880, Herder. TU, 280 S. gr. 8.)
M. 4. 50.

Diefe Tabellen umfaffen die gefammte Kunft-
gefchichte vom Anfange unferer Zeitrechnung bis zum
,Franzöfifchen Culturkampf, Austreibung der Orden' 1880.
Eingetheilt find fie in 6 Columnen (Allg. Zeit- und Cul-
turgefchichte — Architectur — Sculptur — Malerei —
Technifche Künfte — Kunftgefchichtliche Literatur).
Das gebotene Material ifl ein fehr reichhaltiges und
zweckmäfsig geordnetes. Bei hervorragenden Künftlern
werden die wichtigsten Daten ihres Lebens, fowie ihre
Hauptwerke mitgetheilt und letztere kurz charakterifirt.
Das Buch ifl überhaupt kein dürres Namen- und Zahlen-
regifter, fondern foll gleichfam das Knochengerüft zu
einer vergleichenden, die Momente des Culturlebens be-
rückfichtigenden Kunftgefchichte liefern. In der erflen
Columne läuft freilich recht bunter, oft wunderlicher
Stoff mit unter. Die Bosheit, zum J. 1483 ,Thomas de
Torquemada, fpan. Grofsinquifitor' zu fetzen, hätte fich
der Verf. fparen können. Ref. erlaubt fich betreffs der
älteften chrifllichcn Kunftgefchichte das Bedenken aus-
zufprechen, ob der Zuftand unferer Kenntnifse derfelben
eine chronologifche Behandlung bereits zuläfst (beiläufig
fei auf den Verfuch von Louis Lefort, Chronologie des
Peintures des catacombes Romaincs in der Reo. archeolog.
1880 Sept. Octob., verwiefen). Dem Verf. gebührt für
diefes neue, brauchbare Hülfsmittel zum Studium der
chriftlichen Archäologie und Kunftgefchichte Dank.

Giefsen. Adolf Harnack,