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Ausgabe:

1881

Spalte:

627-629

Autor/Hrsg.:

Hettinger, Franz

Titel/Untertitel:

Die ‚Krisis des Christenthums‘, Protestantismus und katholische Kirche 1881

Rezensent:

Ritschl, Albrecht

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Theologifche Literaturzeitung. 1881. Mr. 26.

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Heitinger, Dr. Franz, Die ,Krisis des Christenthums', Pro-
teftantismus und katholifche Kirche. Freiburg i. Br.
1881, Herder. (VII, 149 S. 8.) M. 1. 50.

Die Vorrede und die Einleitung erregen die Erwartung
von etwas Anderem, als der Verf. in diefer
Schrift leiftet. Er nimmt von der in dem Titel angedeuteten
neuften Diatribe Ed. von Hartmann's den An-
lafs, in der Vorrede den richtigen Satz auszufprechen:
,Der Geift bleibt ewig arm, wenn es ihm nicht gelingt,
zu einer Alles zufammenfaffenden, einheitlichen Weltan-
fchauung vorzudringen, und diefe, nur unter einem andern
Namen, ift die Religion, die chriftliche Religion,
und nur fie allein'. In der Einleitung kehrt der Gedanke
wieder im Gegenfatze zu der Hartmann'fchen Behauptung
, die katholifche Kirche fei eine Mumie, und der
Proteftantismus der Todtengräber des Chriftenthurns.
Ich follte denken, es wäre für den katholifchen Theologen
eine lohnende Aufgabe, die einheitliche Welt-
anfchauung des Chriftenthurns und feine praktifche Lebensordnung
als den Zweck derfelben mit den Mitteln
feiner Kirche im Gegenfatz gegen die Prätentionen des
peffimiftifchen Philolophen darzuftellen. Vermochte er
es zu zeigen, dafs der Katholicismus den religionsfeindlichen
Phantafien und der widerchriftlichen Lebensanficht
des Gegners überlegen ift, vermochte er wirklich feine
Welt- und Lebensanfchauung als eine Einheit nachzu-
weifen, fo wäre das auch für uns Proteftanten lehrreich
gewefen, und wir hätten dabei geduldig mit in den
Kauf genommen, was etwa zugleich an Mifsdeutungen
unteres Chriftenthurns vorgekommen wäre. Nach dem
grofsen Anlauf der Vorrede und der Einleitung wirkt
es jedoch faft komifch, was am Schlufs der letzteren zu
lefen ift. ,Die unermefslich gro fse Bedeutung der
religiöfen Frage drängt uns, zur Orientirung und Befefti-
gung unferer katholifchen Glaubensgenoffen einen Blick
zu werfen auf die gegenwärtige Lage des modernen
Proteftantismus zunächft in Deutfchland; fodann haben
wir den fundamentalen Charakter (?) des Katholicismus
darzuftellen, endlich den projectirten Neubau einer kurzen
Prüfung zu unterziehen, welcher an die Stelle des
Chriftenthurns treten foll'. Die erfte Aufgabe nimmt
nun den gröfsten Theil des Buches ein, und der Verf.
hat fich diefelbe recht bequem gemacht. Es ift in recht
anftändigen Formen eine kleine Hetzerei gegen die Vermittlungstheologen
der verfchiedenen Schattirungen und
die von Schleiermacher und Hegel abftammenden fpe-
culativen Theologen. Ihnen wird theils die Zerfetzung
der beiden ,Principien des Proteftantismus', theils Verleugnung
der Grundanfchauungen des Chriftenthurns vorgerückt
, und dagegen an das katholifche Glaubensprin-
cip erinnert, welches der Zerfplitterung gegenüber die
Gewähr der Einheit leiftet. Es ift eine Eigentümlichkeit
am katholifchen Syftem, dafs feine Vertreter vor
Allem das Gefüge von menfchlichen und zugleich göttlichen
Garantien der religiöfen Wahrheit betonen, welches
in ihrer Kirche in wirkfamer und vorgeblich un-
tadelhafter Weife dargeboten wird. Die Art, wie der
Verf. in den Streit gegen den Proteftantismus eintritt, macht
es deutlich, dafs er in den ,beiden Principien' desfelben
denjenigen Punkt ergriffen zu haben glaubt, welcher der
Bedeutung des Lehramts in der katholifchen Kirche di-
rect entfpräche. Ich kann diefes nicht zugeben. Der [
Proteftantismus befteht feit mehr als 300 Jahren. Die
berühmten ,zwei Principien' find eine Formel Tweften's
aus dem Jahre 1826, mit welcher die Vermittlungstheologen
ihre Theologie genügend zu bezeichnen und zu
unterbauen überzeugt find. In der Zeitfchr. für Kirchen-
gefchichte I. Band habe ich diefe Thatfache aufgezeigt, I
und meinen Proteft gegen die Brauchbarkeit der Formel
nicht verfchwiegen. Soweit alfo ich zu urtheilen vermag
, trifft der Verf. nicht den Proteftantismus, wenn er J
nachweift, wie eine in ihren Abftufungen doch zufam- |

menhängende Gruppe von Theologen mit dem vorgeblichen
Formalprincip abgewirthfchaftet hat. Die Urkunden
des Proteftantismus erklären die heil. Schrift für
die Norm der theologifchen Lehre und der kirchlichen
Dogmen. Allein diefe auch von H. citirten Sätze haben
nicht den Sinn, welcher ihnen von den Vermittlungstheologen
beigelegt wird. Sie find in den fymbolifchen Büchern
umfafst und bedingt durch die Behauptung, dafs die
Kirche die Gemeinfchaft der Gläubigen, welche getragen
ift von der Gnadenoffenbarung Gottes durch Chriftus,
und diefelbe weiter trägt, immer da ift, dafs fie auch
unter den Verderbnifsen der Vorzeit dagewefen ift, und
durch die Reformation nur gegen diefelben frei geftellt
wird, dafs diefe Gemeinde der Gläubigen, indem fie
nach menfchlich-gefchichtlicher und zugleich göttlicher
Weife die Sündenvergebung durch Chriftus als Bürg-
fchaft und fpecififchen Grund der Seligkeit jedem ge-
währleiftet, der als Gläubiger zu ihr gehört, die entfpre-
chende Anleitung und Autorität dazu durch die amtlichen
Diener des göttlichen Wortes ausübt. Diefer Zu-
fammenhang ift dadurch hergeftellt, dafs das Wort Gottes
auch im Munde der kirchlichen Beamten den durch »
Chriftus offenbaren Gnadenwillen Gottes zum Inhalte hat,
nicht aber ein Syftem von Lehren und theoretifchen Er-
kenntnifsen, welche ihrer Art nach kein zureichendes
j Motiv zu dem Vertrauen auf Gott find, auf das Alles
l ankommt. Ein folches Lehrfyftem ift nur ein für die
| Verkündigung der göttlichen Gnade nöthiges Mittel; und
indem diefes an den deutlichen und übereinftimmenden
Zeugnifsen des N. T. zu normiren ift, ergiebt fich erft die
Seite am Proteftantismus, auf welche H. feine Aufmerk-
! famkeit allein gerichtet hat. Seine Ueberfchätzung diefes
Punktes und demgemäfs die Schiefheit feiner Beur-
theilung desfelben ift namentlich an folgendem Punkte
greifbar. Er fpielt folgende Worte Hartmann's gegen
uns aus: ,Die Reformatoren merkten es gar nicht, dafs
ihr Glaube an die Unfehlbarkeit der kanonifchen Schriften
ganz ausfchliefslich auf dem Glauben an die ihn
(fie) bezeugende Unfehlbarkeit der Kirche beruhte;
darum ahnten fie gar nicht, dafs fie mit dem Proteft hie-
gegen den Boden der erfteren unterhöhlten' (S. 7. 8).
Hartmann beweift hiedurch, dafs er von der Sache
nichts verlieht; bekanntlich ift es der Fluch der Theologie
, dafs Jeder, ohne in ihr gelernt zu haben, Männlein
und Weiblein, in Ihr urtheilen wollen. Hettinger
hätte aber als Controverfift wohl wiffen dürfen, dafs die
Reformatoren und ihre Nachfolger fo ohne Ueberlegung
nicht gewefen find, wie es fich der neufte Philofoph
und theologifche Dilettant vorftellt. Der Bibelkanon ift
als Norm der Lehre in demfelben Sinne für uns giltig,
in welchem die Kirche ihn vom 2. bis 4. Jahrhundert
ohne alle Prätention von Unfehlbarkeit in diefer Hinficht
gefammelt und abgegrenzt hat, und zwar ift er für
uns giltig gemäfs dem gefchichtlichen Zeugnifs der
Kirche jener Epoche, welche nicht minder der Vorfahre
unferer wie der griechifchen und römifchen Kirche ift.
Ich erhalte überhaupt den Satz aufrecht, dafs die uns
im 16. Jahrhundert aufgenöthigte Kirchenbildung ihre
Vorausfetzungen in der lateinifchen Kirche des Mittelalters
ebenfo hat, wie die tridentinifche Kirche, und
dafs nicht diefe, gefchweige denn die Kirche des vati-
canifchen Concils, einfach identifch ift mit der Kirche,
die bis zur Reformation beftanden hat. — Die Polemik,
welche in der vorliegenden Schrift geübt wird, ift von
der gewöhnlichen Art; unfere Mängel und Schäden werden
mit Behagen blofsgelegt, die Schäden, welche das
römifche Syftem auf einem andern Punkte hat, werden
verfchwiegen. Ich erlaube mir, die Darftellung des
Verf.'s in diefer Hinficht zu ergänzen. L>ie Ungebunden-
heit in der Theologie, welche feit dem Auftreten des
Pietismus die Fühlung mit der Bedeutung der Kirche
mehr und mehr verloren hat, weil der Pietismus in
Deutfchland die Frömmigkeit von der Kirche abgelöft