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Ausgabe:

1881

Spalte:

529-531

Autor/Hrsg.:

Zahn, Detlev

Titel/Untertitel:

Die natürliche Moral, christlich beurteilt und angewandt auf die Gegenwart in Kirche, Schule und innere Mission 1881

Rezensent:

Wendt, Hans Hinrich

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Theologifche Literaturzeitung. 1881. Nr. 22.

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Zahn, Paft. Detlev, Die natürliche Moral, chriftlich beurteilt
und angewandt auf die Gegenwart in Kirche,
Schule und innerer Miffion. Gotha 1881, Schloefs-
mann. (XII, 240 S. gr. 8.) M. 3. 60.

Die Darftellung der natürlichen Moral, welche der
erfte Theil der Schrift enthält, hat der Verf. ganz felb-
ftändig entworfen. Er hat nicht einfach die Moral vor-
chriftlicher Denker darfteilen wollen, weil es ihm darauf
ankam, die im Bewufstfein der Gegenwart herr-
fchende natürliche Moral zu bcurtheilen und weil diefe
eine Darftellung in dem Ausdruck und mit den Mitteln
der Gegenwart verlangt; er hat aber auch den gegenwärtigen
Philofophen eine gehörige Darftellung der natürlichen
Ethik nicht entnehmen können, befonders deshalb
hiebt, weil er bei ihnen diefe Darfteilung verbunden fand
mit folchen ftrittigen fpeculativen Vorausfetzungen über
die Gründe und Ziele der Ethik, welche nicht zur natürlichen
Moral gehören (S. 1 ff.). Der Entwurf nun, wel
chen er felbft bietet, kann vielleicht am Beften fo charak
terifirt werden, dafs er den Inhalt eines fittlichen Bewufst

ausreichende Motiv finden. Nun kann freilich gewifs auch
ein Nichtchrift einen Eindruck von dem fittlichen Werthe
folches Liebesverhaltens und die Erkenntnifs gewinnen,
dafs erft in der Forderung diefes Liebesverhaltens die
volle und befriedigende Interpretation der auf die Bewährung
von Freiheit und auf die Herftellung von Ge-
meinfehaft gerichteten natürlichen Gewiffensforderung
gegeben fei, und er kann diefes Liebesverhalten zu feinem
höchften Moralprincip machen, auch wenn er über
die religiös-chriftlichen Vorausfetzungen und Ziele diefes
Verhaltens ,fchweigen' zu müffen meint. Wir müffen
dann nur fagen, dafs ein Solcher trotz jenes theoretifchen
Schweigens eine praktifche Anerkennung der
chriftlichen Gnadenoffenbarung Gottes übt, deren
nicht zu unterfchätzender Werth dem Urtheile Jefu Marc.
9, 40 unterliegt. Voller Chrift ift zwar ein Solcher noch
nicht; wir werden immer bei ihm die eine Seite des rechten
chriftlichen Verhaltens vermiffen, das freudige Vertrauen
nämlich auf die göttliche Heilsleitung in allen
Lebenslagen, weil diefes Vertrauen ohne bewufste Anerkennung
der in Jefu Chrifto offenbarten Gnade Gottes

feins darlegt, wie es fich etwa bei folchen gebildeten und nicht erreicht und nicht behauptet werden kann. Die

ernfldenkenden Männern der Gegenwart findet, welche zwar
auf Grund ihrer Erziehung und ihres Verkehres in ihren
Anfchauungen und praktifchen Lebenszielen wefentlich
durch das Chriftenthum mitbeeinflufst find, fich aber doch
den Glaubensforderungen des Chriftenthumes gegenüber
theoretifch ganz ablehnend verhalten. Die Abficht des
Verf.'s ift es freilich nicht gewefen, die natürliche Moral
fo zu fclüldern, wie fie unter dem Ei n flu ffe des Chriftenthumes
geworden ift. Er hat gemeint, die Gefahr, chrift-
liches Licht der natürlichen Plrkenntnifs unverfehens bei-
zumifchen, ,durch ftrenge Gedankenfolgerung aus den
der natürlichen Moral eigenen Principien' vermeiden zu
können ('S. 2); mir fcheint es nur, als feien die Principien
felbft, welche er der natürlichen Moral zu Grunde liegen
läfst, nicht ganz ,eigene' Principien der natürlichen Moral,
londern als fei bei ihrem Zuftande kommen das Chriftenthum
fchon bedeutend mitbetheiligt gewefen. Als ,Freiheit
in der Einheit' beftimmt der Verf. den Inhalt der
grundlegenden fittlichen Idee der Menfchheit; die Deutung
aber, welche er diefem Einheitftreben der natürlichen
Moral giebt, geht m. E. viel zu weit. Er nimmt an, dafs
als Weg zur Herftellung der Einheit, deren Notwendigkeit
dem Menfchen durch die fchon in feiner Geburt
gegebene Thatfache, dafs er fein Freiheitftreben mit
Vielen gemeinfam hat, nahegelegt werde, von der natürlichen
Moral unmittelbar die Liebe erkannt werde (S. 9),
und ferner, dafs als Ziel diefes Einheitftrebens von der

Anerkennung aber, dafs er in feinem fittlichen Verhalten
gegen die Mitmenfchen wirklich chriftliches Verhalten
übe, dürfen wir einem Solchen nicht verfagen.

Der Verf. verfagt diefe Anerkennung und darin liegt
die Hauptdifferenz der Beurtheilung, welche er im zweiten
und dritten Theile feines Werkes giebt, von derjenigen
des Ref. Der Verf. läfst die von ihm dargeftellte, auf
die freie Liebesgemeinfchaft der ganzen Menfchheit abzielende
Moral nur zur ,Geduldsordnung' Gottes gehören:
fie hat ihren Werth, fofern fie zur Erziehung der Menfchheit
für die Glaubens- und Gnadenordnung dient, fofern
fie auch den ruhigen Beftand des Glaubenslebens auf
Erden äufserlich ermöglicht und fofern fie endlich den
natürlich-fittlichen Boden bildet, auf welchen der Chrift
zurückfinkt, wenn er — was täglich gefchieht — durch
die Sünde vom Glauben und von der Gnade abfällt
(S. 120—131); der Chrift mufs fich zwar auf Erden auch
in den natürlich-fittlichen Gemeinfchaften der Geduldsordnung
bewegen und kann fie dadurch, dafs er ihnen
Beziehung auf Gott giebt, heiligen; nie aber werden fie
hierdurch zu eigentlich chriftlichen Gemeinfchaften, zu
Gemeinfchaften des erneuerten Gnadenlebens (S. 148 ff.).
Ref. dagegen meint, dafs ein auf die freie Liebesgemeinfchaft
der ganzen Menfchheit abzielendes, in den parti-
cularen menfehlichen Gemeinfchaftskreifen fich bewährendes
fittliches Verhalten nicht nur zur Geduldsordnung,
fondern direct zur Gnaden- und Glaubensordnung Gottes

natürlichen Moral die freie Liebesgemeinfchaft der gan- gehört, nämlich als ewiger göttlicher Zweck derfelben.

zen Menfchheit erkannt werde (S. 66). Diefer An- Diefe Differenz hat auch eine biblifch-theologifche Seite:

nähme glaube ich nicht zuftimmen zu dürfen. Grundlage der Verf. betont, dafs das Reich Gottes im Sinne der

der natürlichen Moral ift allerdings die Erkenntnifs des Bibel nur ein Königreich der Himmel fei, welches in

Werthes und der Nothwendigkeit eines Gemeinfchafts
Verhaltens der Menfchen; aber die befondere Art diefes

erfter Linie die Erfüllung des ewigen Gnadenrathes Gottes
in der vollendeten Menfchheit, wie diefe mit der

Gemeinfchaftsverhaltens wird zunächft immer nur ein auf j Wiederkunft Chrifti anhebe, darftelle, und dafs es in der

Reciprocität beruhendes Pflichtverhalten fein und das Ziel
diefes natürlich-fittlichen Gemeinfchaftsverhaltens wird
auch bei völligfter Anerkennung der Gleichartigkeit und
Gleichberechtigung aller Menfchen und einer in diefen
Beziehungen vorhandenen Einheit der Menfchheit doch
kein höheres fein, als die Aufrechterhaltung bezw. Hergegenwärtigen
irdifchen Menfchheit nur infofern fchon
eine gewiffe Verwirklichung finde, als es eben Gläubige
auf Erden gebe, welche zur Kirche gehören, deren König
Chnftus jetzt fchon fei (S. 231. vgl. S. 162); Ref. dagegen
urtheilt, dafs das Reich Gottes, welches den Mittelpunkt
der Verkündigung Jefu bildet, nach Jefu Sinne in erfter

Iteaunä""^ Gemeinfchaften wechfelfeitiger Linie die auf Erden lieh verwirklichende Gemeinfchaft

Pflichtbethätilung, in welche fich der Einzelne durch die des dem Liebeswillen Gottes entfprechenden Liebesver-
1 niciuueumu^u ^, weiche er fe nerfe ts be- haltens der Menfchen untereinander fei. Zur näheren

irdifcher Güter j Begründung diefes abweichenden Urtheiles ift hier aber
rriciiL der v-^ll.

Den praktifchen Schlufsfolgerungen, welche der Verf.
von feinen Vorausfetzungen aus zieht, kann man meift
durchaus zuftimmen und fpeciell mit feinem überall zum
Ausdruck gebrachten Abfcheu vor jeder Art gefetzlich-
äufserlichen, politifchen Chriftenthumes fehr fympathifiren,

anknüpft. Für die Anerkennung einer Verpflichtung zu
einem auch ohne Rückficht auf Reciprocität geübten,
zuvorkommenden und verföhnlichen, und zwar auf die
Vereinigung der ganzen Menfchheit abzielenden Liebesverhalten
wird dagegen der Menfch immer nur in religiö-
fer Ueberzeugung, und zwar fpeciell in dem Glauben an

die durch Jcfum Chriftum offenbarte göttliche Gnade, das | auch wenn man von anderem Standpunkte aus eine andere