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Ausgabe:

1881 Nr. 2

Spalte:

506-507

Titel/Untertitel:

Wissenschaftliche Vorträge über religiöse Fragen. 4. Sammlung 1881

Rezensent:

Krauss, Alfred

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Theologifche Literaturzeitung. 1881. Nr. 21.

Vaters und feiner Freunde, unter denen der feiige Dr.
Petri in Hannover obenan ftand, ungehindert auf mich
wirken und gewann das Ideal einer Kirche, die als freigeborene
Tochter des Himmels hoch erhaben über den
fie beengenden und knechtenden irdifchen Mächten fleht,
das Abbild der heiligen Jungfrau, des mit der Sonne
bekleideten Weibes in der Offenbarung, die den Sohn
Gottes trägt und gehcimnifsvoller Weife bei fich verborgen
hält in der Brotsgeftalt des Sacraments. Nie
hatte ich eine andere Vorftellung von der Kirche, als
diefe mir durch den geinigen Verkehr mit jenen Männern,
ohne dafs ich mir über das wie? Rechcnfchaft geben
könnte, allmählich eingeprägte und gleichfam in Fleifch
und Blut übergegangene'. Neben Petri traten Stahl,
Vilmar und Löhe als die Männer, die für E. mafs-
gebend wurden. Es find die Richtpunkte klar, denen
E. als .Lutheraner' gefolgt ift. .Freiheit der Kirche', das
war die erfle Parole. Das Landeskirchenthum, der Territorialismus
, das ift der Grundfchade. E. hatte dabei die
tieffte Abneigung gegen das Synodalwefen, das ihm noch
heute erfcheint ,als eine nur fcheinbarc Conceffion des
Territorialismus an den falfchen Liberalismus zurgemein-
fchaftlichen Knechtung der Kirche, wobei aber erfterer
in fehr realer Weife den Daumen oben behält'. Das
.Königliche' Confiflorium hat auch kein Vertrauen von
feiner Seite genoffen. E. fchüttet feinen ganzen Hohn
aus über eine Behörde, die nur den als einen richtigen
Pfarrer betrachtet, der fich .liebend einlebt' in die .Synodalordnung
' und daneben in ,fog. innerer Miffion'
macht. Er hat gefchwärmt für eine .freie lutherifche
Bifchofskirche'. ,Die Sacramentskirche', das ift dann
das zweite Ideal, das er als Lutheraner verfolgt hat. Der
Pfarrer als .Prediger', die Sacramente als .Bräuche', unter
diefen Titeln trat ihm innerhalb der Kirche felbft
der Grundfchade entgegen. Das dritte Ideal war fchliefs-
lich die Herftellung einer richtigen Cura, einer Seelforge,
welche den einzelnen Seelen mit der vollen Autorität
des Amtes nachgehen darf. — E. hat fein Möglichftes
gethan, feine Ideale in die Praxis der lutherifchen Kirche
einzuführen. Natürlich ift er dem Vorwurfe verfallen,
dafs er feine Gemeinde katholifch machen wolle. Es
ift eine Leidensgefchichte, von der das Meifte zwifchen
den Zeilen zu lefen ift, die fich in dem oben bezeichneten
Capitel vor uns aufthut. E. hat mit der Zeit erkannt
, dafs alle feine Ideale in der That nicht die lutherifchen
, wohl aber die katholifchen feien. Er hat gemeint,
dennoch in der lutherifchen Kirche ausharren zu dürfen.
Er hat fich .zurechtgelegt', was ihm unerträglich dünkte.
Freilich hat er feine Aufgabe an einer lutherifchen Gemeinde
fich faft unbegreiflich zurechtgelegt'. ,Als mir
jener vermeintliche Vorwurf zu Ohren kam, dafs ich
follte die Gemeinde katholifch machen wollen, habe ich
mich offen in einer Predigt ausgefprochen. Klar und
unmifsverftändlich habe ich erklärt, dafs ich für meine
Perfon zwar zu der feften Ucbcrzeugung gelangt fei, dafs
das Lutherthum in der gegenwärtigen Zeitära dem Pro-
cefs der unaufhaltfamen Zerfetzung, den es bei feiner
Geburt bereits in fich getragen, in zunehmendem Mafse
anheimfalle. Das Gefetz, welches alle vom Leibe losgetrennten
Glieder treffe, entweder Mumie oder Zerfetzung
, das erfülle fich jetzt in letzterer Richtung. Das
aber fei meine Hoffnung, dafs das Ende diefer Entwicklung
dazu führen würde, dafs alles, was im Proteftan-
tismus wirklich gläubig fei an den Herrn Jefum Chriftum,
in die Mutterkirche fich zurückretten werde. Meine
lieben Urbacher, fowie überhaupt die gegenwärtige und
auch die heranwachfende Generation könne ich unmöglich
für reif halten zum .Katholifch werden' .... Aufrichtiges
Suchen nach der göttlichen Wahrheit und Erweckung
wirklichen Hungers nach der göttlichen Gnade,
das fei es, wozu ich der Gemeinde behülflich zu fein
wünfehte'. ,Weib und Kind', das war es, was E. fef-
felte. Es foll nicht unbillig beurtheilt werden, wenn derjenige
, der für eine Familie zu forgen hat, länger als
ein anderer fich verdeckt, was, eingeftanden, ihn um Amt
und ein ficheres, ausreichendes Brot bringt.

Zum Schluffe eine Frage. Separation oder Con-
verfion — bei dem einen oder dem anderen find nachgerade
fo ziemlich alle confequenten Vertreter der
Richtung Stahl-Vilmar-Löhe angelangt. Ob die Wahl
der letzteren Confequenz und der Nachweis bei E.,
dafs fie die naturgemäfse fei, nicht diejenigen ein
wenig zum Nachdenken bringen möchte, die felbft Lutheraner
' den Vertretern der anderen Confequenz, den
Separirten als .Lutheranern' meinen ihre Sympathie und
Unterftützung gewähren zu follen?

Giefsen. F. Kattenbufch.

Wissenschaftliche Vorträge über religiöse Fragen. 4. Sammlung
. Frankfurt aM. 1881, Diefterweg. (106 S. gr. 8.)
M. 1. 40.

In dem erften diefer 4 Vorträge fpricht Prof. Baffermann
in Heidelberg über den Glauben an Jefus Chriftus:
1. was heifst ,an Chriftus glauben?' 2. wie ift es für uns
möglich, zu diefem Glauben zu gelangen? 3. was ergiebt
fich uns aus folcher Erkenntnils von dem Glauben an
Jefus Chriftus als chriftliche Aufgabe ? In Schleier-
macher'fchem Sinne wird der von fich felbft zeugende
Geift Jefu Chrifti als die zum Glauben an den Erlöfer
nöthigende Macht dargeftellt. Jede Zeit arbeite dann
mit dem ihr zu Gebote flehenden Begriffsmaterial den
wefentlich gleichartigen Eindruck von Chrifti Perfön-
lichkeit zum Dogma aus, das deshalb nothwendig in den
verfchiedenen Zeiten fich verfchieden geftalte, indefs die
chriftliche Perfönlichkcit der Gläubigen den Glauben an
Chriftum erhalte und fortpflanze. — Der zweite Vortrag,
von Pfarrer Dreyer in Gotha gehalten, tritt an die Be-
kenntnifsfrage heran. Ein Bekcnntnifs, aber kein dog-
matifches, fondern nur ein rein religiöfes, fei für die
Kirche nöthig. Es müffe kurz, Jedermann verftändlich
und dehnbar fein, fo dafs alle chriftlichen Parteien es
fich aneignen und nach ihrer Dogmatik ausdeuten können
. Das Apoftolicum entfpreche diefen Anforderungen
am eheften, follte aber in der von Nitzfeh 1846 oder in
der von S. Coburg neulichft angezeigten Weife revidirt
werden. Die Unterfcheidung zwifchen religiöfem Bekcnntnifs
und dogmatifcher Lehre fei in diefer Frage
grundlegend, eine willkürliche Auswahl, wie fie z. B.
der preufs. Oberkirchenrath getroffen, dagegen zu verwerfen
. — Prof. Köhler in Friedberg hat feinen Vortrag
über Chriftenthum und Nationalität im Druck ausführlicher
als vor den Zuhörern gegeben. Das allgemeine
Humanitätsprincip als wefentlich chriftliches Princip und
die Anerkennung der Nationalität als göttlicher Ordnung
find, wie er ausführt, erft im Proteftantismus innerlich
mit einander vermittelt worden. Von Rechts wegen
follte jede Nationalität ihre fpecielle Volkskirche haben,
in der fich der eine chriftliche Geift fpeeififeh ausdrückte.
Es ift ein nationales Unglück, dafs fich in Deutfchland
die evangelifche Kirche, die doch der reinfte Ausdruck
des deutfehen Volksgeiftes fei, nicht zur ausfchliefslichen
Geltung habe emporarbeiten können. Doch könne auch
in diefer Hinficht die Hülfe am nächften fein, wo die
Noth, die allgemeine Zerfahrenheit, fo grofs geworden.
— Das katholifche und das evangelifche Lebensideal
werden von Prof. Schultz in Göttingen im letzten diefer
Vorträge einander gegenübergeftellt. Afkefe und äufsere
Kirchlichkeit, die Unterfcheidung einer ordinären und einer
vollkommeneren Sittlichkeit, Geringfehätzung des Weltlichen
und Bindung der Gewiffen find katholifch. Durch
Luther ift als evangelifches Lebensideal aufgeftellt worden
die Erweifung der im Evangelium gegründeten Ge-
finnung in thatkräftigem Handeln innerhalb der Grenzen
der eigenen Berufsaufgabe. Aber nicht überall fand es
in der evangelifchen Kirche reine Ausbildung. Schon