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Ausgabe:

1881

Spalte:

452-456

Autor/Hrsg.:

Pfleiderer, Otto

Titel/Untertitel:

Grundriss der christlichen Glaubens- und Sittenlehre 1881

Rezensent:

Kattenbusch, Ferdinand

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Theologifche Literaturzeitung. 1881. Nr. ig.

452

Diefe ,abgenöthigte Erklärung', die den Titel des Werkes
fefthält, fpricht zwar ein Peccavi aus, aber unter Ausreden
und Verfchleierungen, die ich wenigftens qualifi-
ciren möchte. Im Vorwort des erften Heftes hatte Haas
als Beweis der Fälfchung von Luther's Werken angeführt
,feine Erklärung des Galaterbriefs' vom J. 1519, von der
er fagte: ,Es ift das Luther's wichtigfte und herrlichfte
Schrift. Und diefe Schrift von 76 Seiten (?) haben feine
Nachtreter oder vielmehr Nachrichter zu einem ganzen
Folianten gedehnt'. Ich wies ihm in diefem Punkte feine
Unkenntnifs nach und zeigte ihm, dafs, was er für das
armfelige Machwerk von Fälfchern hielt, ein fpäterer
Commentar Luther's fei, eine feiner beften Schriften,
nach Vorlefungen von Nörer im J. 1535 herausgegeben
und von Luther felbft beglaubigt. Und was antwortet
Haas, nachdem er dort nur den früheren Galatercom-
mentar (den er im 7. Heft vom J. 1525 datirt) als un-
gefälfcht anerkennen wollte, jetzt auf meinen Nachweis?
,Den Commentar des Galaterbriefs von Nörer kenne ich,
meinte ihn aber in dem über den Galaterbrief im Vorwort
Gefagten nicht, fondern die Behandlung oder vielmehr
Mifshandlung des lateinifchen Urdrucks'.

Nachdem Haas in jenem Vorwort fchiefe Urtheile
und falfche Angaben über die Lutherausgaben vorgebracht
hatte, hat er nun doch das Bedürfnifs gefühlt,
fich über die Lutherausgaben etwas zu unterrichten, um
Beweife für die Fälfchung der Werke Luthers zu erbringen
, und hierfür benutzt er den Auffatz aus der Zeit-
fchrift für Proteftantismus und Kirche vom J. 1850:
,Kurze Gefchichte und Charakteriftik aller Gefammtaus-
gaben von Dr. Martin Luther's Schriften'. Indem er mit
den Mitteln diefes Auffatzes manipulirt, beftätigt er meine
Vorausfagung, dafs er nur mit Dingen kommen würde,
die alle Welt weifs. Dafs die älteren Lutherausgaben j
unvollftändig, ihre Texte häufig recht unzuverläffig find,
weifs jeder Lutherkenner ohne Haas' vermeintliche Ent- j
deckungen. Dafs die Walch'fche Ausgabe, die z. Th. j
in übertriebener Hochfehätzung fteht, den Luther'fchen
Text vielfach fehr ungenau wiedergiebt, möchte ich auf
Grund häufiger Benutzung und Vergleichung mit den j
Originalen hier befonders hervorheben — nicht als etwas
Neues —, um darauf hinzuweifen, dafs nach dem Fr-
fcheinen der Erlanger Ausgabe die Bevorzugung jener
für den wiffenfehaftlichen Gebrauch nicht mehr berechtigt
ift. Aber zum Beweis der Fälfchung gehört der
Nachweis dolofer Abficht, der z. B. bei Melanchthon
noch nicht erbracht ift, wenn die Abweichungen der j
Variata conftatirt find. In feinem Vorwort hatte übrigens
Haas die Fälfchung hauptfächlich als Unterfchieb-
ung erklärt; er verfchiebt in feiner Entgegnung die Sachlage
, wenn ihm jetzt in erfter Linie wichtig ,eine Zu- |
fammenftellung dogmatifcher oder ethifch wichtiger Stellen
aus den vorhandenen gefälfehten Ausgaben', .verglichen
mit eben denfelben Stellen der Urdrucke', gilt.
Diefe Abweichungen find längft bekannt; und aus dem j
erwähnten Auffatz konnte Haas erfahren, dafs die IT-
langer Ausgabe im Gegenfatz hierzu die Wiederherftellung
der urfprünglichen Textes im Auge gehabt hat. Trotz- j
dem hat Haas die Erlanger Ausgabe unter dem Gefammt-
titel des gefälfehten Luther's mitbefafst — und zwar,
ohne fie zu kennen! Ich hatte diefe Vermuthung fchon
bei meiner erften Anzeige, unterliefs es aber fie auszu-
fprechen, weil ich fie nicht begründen konnte; jetzt aber
kann ich fie begründen. Der erwähnte Auffatz in der !
Zeitfchr. f. Pr. u. K. erfchien im J. 1850, wo erft 64 !
Bände der Erlanger Ausgabe gedruckt waren, datirte I
fie alfo richtig von 1826—1849. Jetzt nun, 31 Jahre fpä-
ter, nachdem jene Ausgabe im J. 1873 zu einem relati- j
ven Abfchlufs gekommen ift, fpricht Haas die Angaben !
jenes Auffatzes einfach nach und erklärt fich mit Rück- j
ficht darauf, dafs fie ,noch lange nicht vollendet' fei, des J
Nachweifes der Fälfchung diefer Ausgabe gegenüber,
auf die es weftntlich ankommt, und mit der fich die j

Haas'fchen Heftchen an Treue gar nicht vergleichen
können, für überhoben. Irrthümer können jedem begegnen
, der Vorwurf der Unkenntnifs ift fchon fchwer-
wiegender, wenn man aber eine Edition der Fälfchung
zu befchuldigen wagt und dabei verräth, dafs man es
nicht einmal der Mühe werth gehalten hat, gründlich
oder wenigftens genügend Einficht in diefelbe zu nehmen
, fo ift das eine Leichtfertigkeit, die jedes weiteren
Anfpruchs auf wiffenfehaftliche Berückfichtigung verluftig
macht, und fo ift dies mein letztes Wort hinficht-
lich des ,ungefälfchten Luthers' des Herrn Dr. Haas.

Ich wiederhole, dafs ich die Idee, Luther's Schriften
in folchen kleinen billigen Heften zu weiterer Verbreitung
zu bringen, für vortrefflich halte,- und fie mit Freuden
unterftützen würde, wenn der Titel nicht ein fo irreführender
wäre, und wenn der Text neben der Verständlichkeit
genügende Zuverläffigkeit böte.

Breslau. L. Lemme.

Pfleiderer, Prof. Dr. Otto, Grundriss der christlichen Glaubens
- und Sittenlehre. Berlin 1880, G. Reimer. (VIII,
371 S. gr. 8) M. 5. —

Auf fein umfangreiches Werk: ,Die Religionsphilofo-
phie auf gefchichtlicher Grundlage', 1878, läfstPfleiderer hier
eine kurzgefafste Darfteilung des christlichen Lehrfyftems
folgen. Wie Pfleiderer das Christenthum auffaffe und wie
er die entfeheidenden Fragen befonders der Dogmatik
beantworte, war auch aus jenem erfteren Werke bereits
zu erfehen. Viel Neues erfahren wir daher aus dem vorliegenden
.Grundrifs' nicht. Es wird kaum ein Capitel
der Dogmatik geben, welches nicht früher fchon fo weit
mit zur Sprache gekommen wäre, dafs man die Ideen,
die Pfleiderer darüber hegt, nicht fchon kännte. In der
.Sittenlehre' ift der Stoff freilich gröfstentheils erstmals
hier behandelt. Doch eben auch nicht die leitenden
Anfchauungen. Das Intereffe, welches das gegenwärtige
Werkchen befitzt, beruht einerfeits in der Abrundung
und überfichtlichen Zufammenftellung des Pfleiderer'fchen
theologifchen Systems. Andererfeits gewährt es einen
Einblick in die Gründe, mit denen Pfleiderer feine Auf-
faffung des Chriftenthums ftützt.

Wie in dem älteren Werke das Wefen der Religion
aus der Gefchichte erkannt werden follte, fo gewinnt
Pfleiderer auch feine Vorstellung vom Chriftenthume aus
der Gefchichte desfelben. ,Das Wefen des Chriftenthums
deckt fich mit keiner feiner gefchichtlichen Erfcheinungs-
formen, ift alfo nur aus dem Ganzen feiner Gefchichts-
entwicklung zu entnehmen'.

Es giebt zwei Hauptklaffen von Religionen: Natur-
und Gefchichtsreligionen. Die letzteren ftellen eine höhere
Stufe dar, als die erfteren. Sie zerfallen ihrerfeits wieder
in die Stufen der Volks- und Menfchheitsreligionen.
Diefe Unterfcheidung fällt zufammen mit der von Ge-
fetzes- und Erlöfungs- oder Geiftesreligionen. Geiftes-,
Erlöfungs- und Menfchheitsreligion ift diejenige, .welche
im Selbftbewufstfein des perfönlichen Geiftes von feiner
Wefenseinheit mit Gott die Auflöfung des unfcligcn
Zwiefpalts mit der Weltordnung oder die Erlöfung und
zugleich die Erhebung über die Particularität und Zufälligkeit
der Volks- und anderen Naturfchranken findet'.
Erlöfungs- und allgemeine Menfchheitsreligionen find die
buddhiftifche und die chriftliche. ,Der Art nach
laffen fich die Religionen unterfcheiden in äfthetifche
und teleologifche: in erfteren überwiegt das Gefühl
der Abhängigkeit oder die paffive Seite der Religion,
in letzteren däs der Freiheit oder die active Kraft des
religiös-fittlichen Willens. Diefer Untcrfchied trifft vorzüglich
zu für das Verhältnifs des Buddhismus und
Chriftenthums'. Pfleiderer fagt auch in diefem Werke
nicht, ob er das Chriftenthum höher ftelle als den Buddhismus
. Ausdrücklich fcheidet er beide Religionen nur
nach dem Gefichtspunkt der Arten, nicht der Stufen.