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Ausgabe:

1881 Nr. 18

Spalte:

431-433

Autor/Hrsg.:

Rudolph, Ludwig

Titel/Untertitel:

Die Stellung der Schule zu dem Kampfe zwischen Glauben und Wissen 1881

Rezensent:

Strack, Carl

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Theologifche Literaturzeitung. 1881. Nr. 18.

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fein?' Antwort: ,Der, welcher Barmherzigkeit an ihm
erwies'. Die Abficht Jefu geht allerdings darauf, den
Schriftgelehrten davon zu überführen, dafs der Nächfte
nicht, wie jener meinte, blofs der ifraelitifche Volksge-
noffe, fondern auch ein Nichtifraelit fein könne; feine
Meinung ift doch aber auch nicht, dafs man jeden Men-
fchen ohne Unterfchied, welchen man in Noth fieht, zum
Nächften hat, fondern dafs man denjenigen zum Näch-
ften hat, mit welchem man in einer Gemeinfchaft verpflichtender
Liebeserfahrung fteht, ob derfelbe
auch Nichtifraelit fei. Aus diefem Grundfatze folgt dann,
dafs z. B. jener unter die Räuber Gefallene, wenn es fich
nun für ihn darum handelt, Nächftenliebe zu üben, weifs,
er habe diefe Liebe vorzugsweife jenem Nichtifraeliten
zu bewähren, der ihm jetzt näher fteht als der ifraelitifche
Priefter und Levit. Alfo nach der Anfchauung
Jefu ift die Nächftenliebe nicht einfach gleich allgemeiner
Menfchenliebe, fondern ift die Liebe, welche man an
folchen Menfchen übt, mit denen man in einer Liebeserfahrungen
begründenden Gemeinfchaft fteht, d. h. an
den Gliedern des Gottesreiches. Und da fich nun das
Gottesreich auf Erden innerhalb der particularen fitt-
lichen Gemeinfchaften, der Familie, des Staates u. f. w.
verwirklicht, fo üben die Chriften ihre Nächftenliebe, indem
fie in diefen particularen Gemeinfchaften Liebe üben.
Aber der charakteriftifche Vorrang der von Jefus geforderten
Liebesübung vor der altteftamentlichen befteht
nun nicht nur darin, dafs, weil das Reich Gottes alle
Nationen in fich aufnimmt, auch die Nächftenliebe fich
nicht mehr blofs auf Ifraeliten erftreckt, fondern vor
Allem darin, dafs die Glieder des Gottesreiches die Aufgabe
haben, nicht bl-ofs Liebe gegen die Nächften,
gegen die Brüder und Freunde, fondern auch Liebe gegen
Fremde und Feinde zu üben (Matth. 5, 43 ff.), alfo
fchlechthin zuvorkommende, anknüpfende, vergebende
Liebe, eine Liebe, durch welche man von fich aus ein
l Nächftenverhältnifs neu begründet, fo wiees jener Samariter
gegenüber dem Juden gethan hat, der nicht fein Nächfter
war. Diefe Art und Intenfität der Liebe bewährt fich
dann natürlich auch im Verkehre mit den Nächften, indem
der Chrift auch feinen Brüdern nicht blofs in dem Mafse
Liebe erweift, in welchem er von ihnen Liebe erfahren
hat oder zu erfahren erwartet, fondern ohne jegliche
Rückficht auf folche Liebeserfahrungen, völlig zuvorkommend
und völlig verföhnlich. Dafs alfo das alttefta-
mentliche Gebot: ,Du follft deinen Nächften lieben als
dich felbft' im N. T. mehrfach als Inbegriff des den
Chriften geltenden Gefetzes aufgeführt wird (Marc.
12, 31 ff.; Rom. 13, 9; Gal. 5, 14; Jac. 2, 8), gefchieht
nicht, weil durch die Bezeichnung des Nächften als üb-
jectes der geforderten Liebesübung die chriftliche Liebe
in extenfiver Beziehung vollftändig charakterifirt wäre,
fondern weil durch die Bezeichnung der geforderten Liebesübung
als einer der Selbftliebe gleichenden die chriftliche
Liebe hinfichtlich ihrer Intenfität völlig charakterifirt
ift.

Göttingen. H. Wen dt.

Rudolph, Oberlehr. Ludw., Die Stellung der Schule zu dem
Kampfe zwischen Glauben und Wissen. Ein Beitrag zur
Verftändigung für Eltern, Lehrer und Erzieher. Berlin
1881, Nicolai's Verl. (VII, 173 S. gr. 8.) M. 2. —

Es ift leider eine nicht wegzuleugnende Thatfache,
dafs die meiften, wenigftens überaus viele Lehrer in dem
in unferen Tagen mehr denn in früheren entbrannten
Streite zwifchen Glauben und Wiffen, oder richtiger ge-
fagt, zwifchen Bibelglauben und Naturwiffenfchaft, unbedingt
auf Seite der letzteren flehen und im Herzen mit
erfterem gebrochen haben. Der Verf. erkennt den vorhandenen
Zwiefpalt an, glaubt aber auch, dafs eine Verhöhnung
möglich fei und hofft durch vorliegende Schrift
diefelbe fördern zu können. Er bekennt fich offen zu

I den freifinnigen Pädagogen, die fich durch die Autorität
der Bibel nicht stricte gebunden fühlen; ja er behauptet,
der alte Bibelglaube habe nicht blofs bei den Männern
der Wiffenfchaft, fondern auch bei der Mehrzahl der gebildeten
Laien feine Autorität und Geltung verloren und

' könne nimmer in feine früheren Rechte wieder eingefetzt
werden. Die älteren Gefchichtsbücher der h. Schrift
enthielten durch mündliche Tradition gebildete Sagen
über die Schöpfung der Erde, die erften Menfchen, die

I Stammväter Ifraels u. f. w.; fie enthielten die Gedanken

! hervorragender Perfonen alter Zeit über diefe Gegen-
ftände, über die Entftehung der Sünde und deren Be-
ftrafung und über das Verhältnifs Gottes zu den Menfchen
überhaupt und zu den Stammvätern Ifraels ins-

I befondere. Man müffe hierbei die äufsere Hülle von
dem inneren Kern unterfcheiden, die Thatfache felbft
könne man daran geben, wenn man nur die zu Grunde
liegende Idee feft halte. Aehnlich urtheilt er auch über

I die Wunder des N. T.; fie wären nur die Träger höherer
geiftiger Wahrheiten. Doch ift auf der andern Seite der
Verf. auch der Ueberzeugung, dafs Gott in der Bibel
wahrhaftig zu uns rede, dafs er uns leite und führe, dafs
er nichts Anderes als unfer Beftes wolle. Wer fich im
Befitze unvergänglicher Güter wiffe, der könne nicht
zweifeln an einem lebendigen Verkehre mit einem Vater
im Himmel. Möchten wir immerhin mit dem Dichter
des Fault die Vernunft und Wiffenfchaft als des Menfchen
allerhöchfte Kraft bezeichnen, fo gäbe es doch
eine noch höhere, die Gotteskraft, die fich offenbare in
feinen weifen unwandelbaren Gefetzen, welche wirkten
in dem Weltall, in der Natur, in dem Herzen des
einzelnen Menfchen, überhaupt aber in der gefammten

: fittlichen Weltordnung.

Gegen die Anhänger des Materialismus, Darwinismus
, Atheismus und Pantheismus polemifirt der Verf.
mit fcharfen, fiegreichen Waffen. Er weift nach, dafs die
Welt (hier zunächft die Erde) einen mit Bewufstfein wirkenden
Urheber haben müffe, und dafs man in allen
Ordnungen und Einrichtungen der Natur einen weifen
Zweck wahrnehmen könne. Die Annahme des Zufalls
beim Entfliehen der Erde und der Lenkung der Ereig-
nifse auf derfelben fei unbegreifliche Thorheit und Verblendung
. Darwin's Theorie, fo viel Scheinbares fie
auch für fich habe, dürfe vorläufig noch lange nicht als
unumftöfsliche Wahrheit verkündigt werden, dazu gehörten
Beobachtungen und Verfuche, welche ein Menfchen-
leben bei weitem überdauerten. In moralifcher Beziehung
wirkten aber diefe Richtungen überaus nachtheilig.
Von einer ethifchen Verpflichtung des Menfchen, von
Verantwortlichkeit desfelben könne nur einem perfön-
lichen felbftbewufsten Gotte, nicht aber dem bewufstlofen
Univerfum gegenüber die Rede fein. Selbft ein Mann
wie Virchow, dem man doch gewifs die Freifinnigkeit
nicht abfprechen werde, tadele den Verfuch, aus neuen
Theorien, die noch der Begründung und weiteren Ausführung
bedürften, eine neue Art von Glauben zu machen
, der den bisherigen Kirchenglauben ablöfen folle.
Er fage: Jeder Verfuch, unfere Vermuthungen als Grundlage
des Unterrichts einzuführen, der Verfuch insbefon-
dere, die Kirche einfach zu depoffediren, werde fcheitern
und werde in feinem Scheitern zugleich die höchften Gefahren
für die Stellung der Wiffenfchaft überhaupt mit
fich bringen'. Es fei alfo jedenfalls eine übereilte
Voreiligkeit, Dinge zu lehren, die fo grofses
Unheil anrichten könnten.

Nur Erwachfene, nicht die Kinder dürfe man in den
Kampf zwifchen Glauben und Wiffen fchicken. Der
Lehrer werde daher gut thun, wenn er, obgleich felbft
ein Kämpfer, doch die Schule als eine Stätte des Friedens
betrachte, und da es unter den Erwachfenen nur
die Männer feien, die fich am Kampfe zu betheiligen
hätten, fo würden Mädchen gewifs noch weniger geeignet
fein, als die Knaben, den Schauplatz des Kampfes