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Ausgabe:

1880

Spalte:

157-162

Autor/Hrsg.:

Spencer, Herbert

Titel/Untertitel:

Die Thatsachen der Ethik. Nach der 2. englischen Aufl. übersetzt von B. Vetter 1880

Rezensent:

Kaftan, Julius

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Theologifche Literaturzeilung. 1880. No. 7.

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Zeichnung von Vinet: ,der geiftvolle, wahrhaft bibelgläubige
, langjährige Gymnafiallehrer'. Unter den fachlichen
Ungenauigkeiten muffen in erfter Linie die zahlreichen
Fehler in der Wiedergabe der Namen gerügt
werden; wir lefen in kurzer Aufeinanderfolge S. 64 Han-
fert ftatt Hanhart, Thurmeifen ftatt Thurneifen, S. 69
Tropler flatt Troxler, S. 82 Coddered ftatt Cotterd,
Pignet ftatt Piguet; andrerfeits zeugt es in den Literaturangaben
von wenig Sorgfalt, wenn z. B. S. 72 die Vor-
lefungen über die Sittenlehre und die Religion auf vier
Bände ftatt auf drei angegeben werden und in der gleich
darauf folgenden Anmerkung S. 73 Schräder, der Herausgeber
von de Wette's altteftamentlicher Einleitung, unter
den Bearbeitern feines exegetifchen Handbuches genannt
ift, oder wenn in der Literatur über de Wette felbft ein fo
lehrreicher Auffatz wie derjenige Holtzmann's in der
Allgemeinen deutfchen Biographie und eine fo wichtige
Quelle, wie die in Gelzer's Monatsblättern (Band 32)
mitgetheilten Briefe aus Berlin mit Stillfchweigen übergangen
werden. Auch die zahlreichen Entlehnungen
dürfen endlich nicht unerwähnt bleiben, durch welche
der Verf., oft ohne die wörtliche Herübernahme auch
nur anzudeuten, fich die Arbeiten feiner Vorgänger
Hagenbach, Schenkel und Lücke zu Nutze gemacht hat;
man vergleiche neben zahlreichen einzelnen Wendungen
und Bildern befonders die Ausführungen über de Wette's
Theologie bei Wiegand S. 27. 28 mit Hagenbach's Schrift
über de Wette S. 26—30, ferner W. S. 51 mit H. S. 36
und die Charakteriftik am Schlufs W. S. 99 f. mit H.
S. 57 f-; gelegentlich widerfährt dabei dem Verf. fogar
das Mifsgefchick, dafs eine dergeftalt abgefchriebene Inhaltsangabe
von ihm dem falfchen Buche zugewiefen
wird; fo S. 26 f., wo die Hagenbach entnommene Schilderung
von de Wette's allgemeinen theologifchen An-
lchauungen als der Inhalt feiner biblifchen Dogmatik
aufgeführt erfcheint, während die fo eigenthümlichen
Gedanken der letztern dabei doch mit keinem Worte
berührt find, oder wieder S. 28, wo nach der Erwähnung
der Synopfis, diesmal zur Abwechslung mit einer
ftillfchweigenden Entlehnung aus Schenkel (f. deffen
Schrift über de Wette S. 22), fortgefahren wird: ,er verwirft
darin alle künftlichen Hypothefen von einem fog.
Urevangelium und nimmt die mündliche Ueberlieferung
als Bafis und Quelle aller Evangelien an', während doch
ein einfacher Blick in de Wette's Schrift felbft gezeigt
hätte, wie fich diefelbe rein auf die Zufammenltellung
des Textes befchränkt und die Anficht de Wette's von
der Entftehung der Evangelien anderwärts mufs gebucht
werden. Bei allem Dank für die in der Schrift niedergelegten
brieflichen Mittheilungen und bei aller Anerkennung
ihrer wohlthuenden Begeifterung für die religi-
öfe Perfönlichkeit des grofsen Theologen können wir
uns deshalb doch des Urtheils nicht erwehren, dafs die
Biographie eine andere geworden wäre, wenn der Verf.
flatt blofs in de Wette's Schule gewohnt zu haben, vor der
Zeichnung feines Lebensbildes bei ihm felbft etwas
gründlicher in die Schule gegangen wäre.

Bafel. R. Staehelin.

Spencer, Herbert, Die Thatsachen der Ethik. Autorifirte
deutfehe Ausg. Nach der 2. englifchen Aufl. überfetzt
von Prof.Dr. B. Vetter. Stuttgart 1879, Schweizerbart
. (IX, 315 S. gr. 8.) M. 9. —

Diefes Buch ift keine ausgeführte Ethik, fondern
enthält etwa das, was man als eine Principienlehre der
Ethik bezeichnen könnte. Die Entwicklungslehre ift die
Grundanfchauung, unter deren Vorausfetzung* hier .die
ethifchen Probleme behandelt werden. Und zwar verlauft
die Erörterung in drei Abfchnitten. Freilich macht
der Verfaffer nicht eine folche Eintheilung, fondern ftellt
den Stoff einfach in 16 Capiteln nebeneinander, aber
diefelbe fcheint mir deutlich erkennbar zu fein. Der

erfte Abfchnitt (I—IV) giebt Auskunft über das Object
der Ethik und über die Grundfätze des Verf.'s in deren
Behandlung unter kritifcher Vergleichung anderer Standpunkte
. Der zweite Abfchnitt (V—X) bringt die ausführliche
Darlegung der ethifchen Entwicklung als der
oberften Staffel aller Entwicklung. Der dritte Abfchnitt
(XI—XVI) erörtert das Grundproblem, welches fich für

i den Verf. ergiebt, ob Egoismus oder Altruismus der
richtige Standpunkt fei, und entfeheidet für eine aus der
Entwicklungslehre abgeleitete Verformung beider. Dar-

! aus ergiebt fich dann Aufgabe und Gliederung der eigentlichen
Ethik.

Object der Ethik ift das Handeln, fofern es als gut
oder bös beurtheilt wird. Aber diefes Handeln ift durch
Uebergänge mit dem gefammten menfehlichen Handeln
verbunden, und letzteres läf»t fich wiederum nicht verliehen
ohne Berücklichtigung des Handelns aller Lebe-
j wefen. Man mufs daher diefes ftets mit im Auge behalten
. Handeln ift aber die Thätigkcit, in welcher die
j Anpaffung an Zwecke bemerklich ift. Von der Ent-
I wicklungsichre aus ergiebt fich nun als das vollkommene
menfehliche Handeln ein folches, welches den drei
' Zwecken der Selbfterhaltung, der Erhaltung der Art
| durch Fürforge für die Nachkommen• und der Erhaltung
I der gefammten menfehlichen Gefellfchaft in vollkomm-
| ner Weife in und mit einander gleich fehr entfpricht.
Nicht anders verhält es fich mit den gewöhnlichen Ur-
theilen der Menfchen über gut und bös (fchlecht). Es
läfst fich deutlich der gleiche Mafsftab darin erkennen.
! Das Gute ift daher das Erfreuende — eine Wahrheit, die
auch die Peffimiften anerkennen, da fie nicht läugnen,
I dafs das Angenehme das Erftrebenswcrthe fei. Auch
fcheinbar entgegengefetzte Standpunkte der Tugend, der
moralifchen Intuition etc. mühen fchliefslich, fofern ihre
Vertreter fich nur bis zu Ende Rechenfchaft über ihre
Anflehten geben, auf das gleiche Princip herauskommen.
Ihr Mangel befteht vorzüglich in der ungenügenden Beachtung
des Caufalitätsprincips, welches der innerfte
Kern alles Gefchehens ift. Dicfen Fehler hat auch der
Utilitarismus der englifchen Moral, der fonft der Wahrheit
! am nächften kommt, nicht überwunden. Er ftellt die
Stufe der Entwicklung der ethifchen Wiffenfchaft dar, wo
diefelbe mit empirifchen Verallgemeinerungen abfchliefst.
Es kommt aber darauf an, zu rationellen Verallge-
I meinerungen fortzufchreiten und dann deduetiv zu ver-
! fahren. Das ift daher das, worauf Spencer ausgeht:
j auf Grund der Entwicklungslehre diefen Fortfehritt zu
machen und dadurch die Einfeitigkeiten des gewöhnlichen
Utilitarismus und Hedonismus zu überwinden.

Die ethifche Entwicklung ift das letzte Stadium der
gefammten Entwicklung. So läfst fich in dem vollkommenen
fittlichen Handeln dasfelbe Gefetz wieder entdecken
, wonach die phyfikalifche Entwicklung auf
ihrem Höhepunkt vor fich geht. Zu einem gleichen Re-
fultat führt die biologifche Betrachtung. Es ift das
gleiche Gefetz der immer vollkommneren Anpaffung an
die fich immer neu entwickelnden Zwecke, das allem
Leben zu Grunde liegt, welches in feinem Fortwirken
zur vollkommnen fittlichen Gefellfchaft führen mufs.
Die begleitenden Gefühle von Schmerz und Freude find
dabei die Leiter. Freilich ift diefe Leitung noch bisweilen
unvollkommen, weil die Anpaffung noch im Werden
begriffen ift. Daraus find dann fehr verdrehte ethifche
Theorien erwachfen, deren Irrthümer fich aber
leicht vom Standpunkt der Entwicklungslehre aus erkennen
und überfehen laffen. In der pfychologifchen
Betrachtung erkennen wir weiter die Entftehung und relative
Selbftändigkeit der im engeren Sinn moralifchen
Gefühle. Es läfst fich überall die Entftehung von
höheren Gefühlen aus den niedrigeren erkennen, welche
erfteren fich auf umfaffendere und ferner liegende Be-
dürfnifse beziehen. Der Art find auch die moralifchen
Gefühle. Das eigenthümlich Zwingende, welches in dem