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Ausgabe:

1880

Spalte:

153-154

Autor/Hrsg.:

Roskoff, Gust.

Titel/Untertitel:

Das Religionswesen der rohesten Naturvölker 1880

Rezensent:

Baudissin, Wolf Wilhelm

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Seite 1

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Theologische Literaturzeitung.

Herausgegeben von Prof. Dr. E. Schür er in Giefsen.
Erfcheint Preis
alle 14 Tage. Leipzig. J. C. Hinrichs'fche Buchhandlung. jährlich 16 Mark.

No. 7 27. März 1880. 5. Jahrgang.

Roskoff, DasReligionswefen der roheftenNaturvölker
^audiffin).

Strickler, Actenfammlung zur fchweizerifchen
Reforniationsgefchichte, 2. Bd. (Stähelin).

Wiegand, W. M. L. de Wette, eine Säcular-
fchrift (Stähelin).

Spencer, Die Thatfaclien der Ethik, autorifirte

deutfche Ausg. (Kaftan).
Winter, TJer Individualismus, eine Unterfuchung

Uber ein fittliches Problem der Gegenwart Kühn, Feftliche Worte zum feftlichen Tage,
(Wetzel). Predigten (Wetzel).

Pfleiderer, Die Idee eines goldenen Zeitalters Leonhardi, Zu Jehl Füfsen, Sonn- und Feft-

(Kahler). tagspredigten (Derf.).

Nordmeier, Proteftantifche Agende zum Ge- „ ,, „ ,. . , „ 0 , u n,.M

brauch für evangelifche Geiftliche hrsg. Haller, Predigten auf alle Sonn- und hefttage

(Kraufs).

Kraus, Geiftliche Lieder im 19. Jahrhundert,

2. Aufl. (Bertheau).
Dorner, Predigten von dem Reiche Gottes

(Kleinen).

des Kirchenjahres, 2 Tide. (Derf.)
Martenfen, Hirtenfpiegel, Ordinationsreden,

deutfche Ausg., 2. Aufl. (Lindenberg).
Dieffenbach, Ein Hochzeitsftraufs, 3. Aufl.
(Lindenberg).

Roskoff, Gull, Das Religionswesen der rohesten Naturvölker
. Leipzig 1880, Brockhaus. (XIV, 179 S. gr. 8.)
M. 4. —

Veranlaffung diefer Schrift ift die vor Andern von
John Lubbock vertretene Anfchauung, dafs bei den
roheften Völkerftämmen keinerlei Spuren von religiöfen
Vorftellungen wahrzunehmen feien. Der Verf. will das
Gegentheil erweifen, genauer gefagt, erweifen: ,dafs bisher
kein Völkerftamm ohne Spur von Religion entdeckt
worden ift' (S. VII). Das Abfehen feiner Arbeit ift am
deutlichften aus dem S. 120 im Anfchlufs an Lipfius
Bemerkten zu erfehen: es ift zunächft nicht fein Beftre-
ben, aus der Religion der Naturvölker Schlüffe zu
ziehen auf den wirklichen Urzuftand der Menfchheit, da
ihm wohl bekannt ift, dafs keines der fog. Naturvölker
fich im Urzuftande befindet, vielmehr alle fchon
irgendwelche geiftige Entwicklung durchlaufen haben.
Lediglich darauf kommt es ihm an: ,ob bei den [gegenwärtigen
] roheften Vvilden, fo wie fie von Entdeckern,
Miffionaren und andern Reifenden betroffen worden,
Spuren von religiöfen Vorftellungen fich finden und ob
das Gefundene den Namen „Religion" verdiene'. Da
er indeffen in jedem geiftigen Verfall einen Rückfall zu
einer niedrigem Stufe' erkennt, fo meint er freilich in
dem Zuftande der heutigen Naturvölker ,eine Annäherung
zu dem Urzuftande' zu finden.

Es ift durch die in diefen Sätzen ausgefprochene
Abficht des Verf.'s bedingt, dafs in dem Buche aus-
fchliefslich ein empirifches Verfahren eingehalten wird.
Es ift darin nichts Anderes zu finden, als eine Zufam-
menftellung von Thatfachen. Sie find einer grofsen Literatur
entnommen, und die hier documentirte Bclcfen-
heit des Verf.'s fleht der auf einem andern Gebiete in
feiner bekannten .Gefchichte des Teufels' erwiefenen
Literaturkenntnifs nicht nach. Man würde aber fehr
irren, wenn man diefes Buch lediglich für eine Compi-
lation hielte. Auch eine folche könnte ihren Werth
haben, da es für die Religionsgefchichte zunächft auf
die Befchaffung des Materials ankommt und noch für
lange darauf ankommen wird, bis aus den zufammenge-
tragenen Baufteinen ein feftes Gebäude aufgeführt werden
kann. Ich glaube nicht, wie der Verf. S. 36, dafs
,die Regiftrirung und Aufzählung der religiöfen Erfchein-
ungen im Völkerleben' heutzutage ,mifsliebig' geworden
ift. Sie ift einftweilen nothwendig. Auf dem vom Verf.
behandelten Gebiete kommt es indeffen weniger auf die
Vollftändigkeit des auch fchon anderwärts mehr oder
minder reichlich zu findenden Materials an, als vor allem
auf die von ihm, wie uns fcheint, mit Umficht geübte

153 ,54

Kritik. Aus fehr nahe liegenden Gründen find die Angaben
der Europäer über Anfchauungen der Wilden
Afrika's und Amerika's überall mit der gröfsten Vorficht
aufzunehmen, vor allem aber auf dem religiöfen Gebiete,
hier namentlich deshalb, weil von den europäifchen Beobachtern
die verfchiedenften Religionsbegriffe find zu
Grunde gelegt worden, um über das Vorhandenfein einer
Religion der Wilden zu urtheilen. Den Miffionaren,
welche oft an dem chriftlichen Gottesglauben jenes Vorhandenfein
abmafsen, haben es Andere gleich gethan
bei gänzlich abweichendem perfönlichen Standpunkt.

Es fcheint mir dem Verf. mit feinem befonnenen
kritifchen Verfahren gelungen zu fein, nachzuweifen, dafs
diejenigen Völker, welche er in den Kreis feiner Be-
fprechung hineinzieht, fämmtlich in ihren Anfchauungen
und Sitten irgendwie den Glauben an eine übermenfeh-
liche Macht bekunden, oft freilich als eine nur fehr
dunkle Ahnung. Diefes Refultat des empirifchen Verfahrens
ift zuzugeben. Verfchiedener Meinung kann man
dagegen fein hinfichtlich des Werthes, welchen diefes
Refultat für den Verf. hat. Da er denfelbcn am Schluffe
nur mit wenigen Worten andeutet, begnüge ich mich
damit, die wichtigeren folgen zu laffen: ,Die Religiofität
ift dem Menfchen weder angeboren, noch ift ihm Religion
durch äufsere Offenbarung mitgetheilt ... Ihr Er-
fcheinungsgrund ift vielmehr in den Gefetzen und Ent-
wickelungsbedingungen der menfehlichen Natur zu fuchen
und zu finden' (S. 179). . . . ,Eben weil auch der Wilde
im roheften Zuftande doch immer menfehlich angelegt
ift, die Fähigkeit zu fühlen, zu unterfcheiden und zu
fchliefsen nie ganz verliert, wird fein Gemüth auch nie
ohne religiöfe Regung fein und ift darum bisher auch
noch kein Volksftamm ohne jegliche Spur von Religiofität
betroffen worden'.

Die Anordnung des Stoffes könnte wohl überficht-
licher gegeben fein. In drei Abfchnitten handelt der
Verf. zunächft von der ,Frage und ihrer verfchiedenen
Beantwortung', dann von den .angeblich religionslofen
Volksftämmen' und in dem Hauptabfchnitt von dem
.Religionswefen der roheften Völkerftämme', hier be-
fprechend a. das Gemüth, b. den Glauben an böfeWefen,
c. die Zauberei, d. die Sittlichkeit des Wilden, e. Zauberei
und Sittlichkeit.

Die Darfteilung ift öfters etwas breit, recht nach-
läffig der Stil. S. 37: .Hören wir . . ., um fich . . .'
ftatt ,um uns'; S. 39: ,auf Etwas vergeffen'; S. 59 fällt
der Satz: ,Es gab Baum- und Stein-Seidas u. f. w.' gänzlich
aus der Conftruction; S. 108: ,er zuerkennt ihnen'.

Strafsburg i. E. Wolf Bau di ff in.